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Ein kleiner roter Lappen
Monika Köhler
Handelskammer Hamburg, Commerzsaal. Menschen: laufend, stehend, auf den Boden sehend. Dort sind Berge aufgeschüttet, Berge aus Reis. Die Wandtafel, an der sonst die Kurse der »Hamburger Getreidebörse« angegeben werden, ist leer.
Am höchsten Berg steht die Erklärung: »Menschen, die den Eurovisions-Song Contest 2008 gesehen haben«, was immer das auch sei. Gegenüber ein Berg, fast genauso groß: »Menschen in Südamerika, die von weniger als zwei Dollar am Tag leben«. Weiß die Handelskammer, was sie da als »Sprachrohr der Hamburger Wirtschaft« zeigt?
Das Internationale Sommertheater Kampnagel 2008 wird mit dieser Installation der englischen Gruppe »Stan’s Cafe« in der Handelskammer eröffnet; es gibt Sekt und Eßbares. Ein großer Haufen Reis, wie ein Sarg geformt, das sind die Kinder, die jedes Jahr verhungern. Insgesamt zwölf Tonnen Reiskörner – das entspricht der Bevölkerung Europas, wenn jeder Mensch ein Reiskorn ist – werden für die Installation verwendet; am Schluß sollen sie gewaschen und verzehrt werden.
Klimawandel ist das Thema des Festivals in diesem Jahr. Zur Illustration zeigt ein Reiskegel die 50.000 Beschäftigten der chinesischen Wolkenimpfungsindustrie, die mittels Chemikalien Regen produziert. Etwa gleich groß ist der Haufen »Menschen, die am 27. März 2006 in Mexiko-City gegen die Privatisierung von Wasser protestierten«. Millionäre weltweit werden mit Flüchtlingen weltweit konfrontiert – die Zahl der Flüchtlinge ist nur wenig größer.
Zahlen (in Form von Reishaufen) zu Asylbewerbern in Deutschland: Die Zahl von 1991 ist mindestens fünfmal höher als die von 2007. Was ist inzwischen geschehen? Oder Menschen, die an der Grenze der USA zu Mexiko zwischen 1998 und 2004 gestorben sind, daneben jene, die im letzten Jahr dort verhaftet wurden. Dieser Haufen ist größer. Ein schwer zu überwindender Grenzzaun wurde inzwischen gezogen.
Zwei einzelne Reiskörner, der Lichtblick bei Olympia: die russische Sportschützin und ihre georgische Konkurrentin, die sich auf dem Siegertreppchen umarmten, weil sie – ein Relikt der Sowjetunion – sich gut kennen.
Die Besichtigung der Reisberge in der Hamburger Handelskammer ist unentgeltlich.
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Auf dem Kampnagel-Gelände – der Eingang ist nach hinten neben den Osterbekkanal verlegt – geht man zuerst durch eine künstliche Schneelandschaft mit Mini-Eisbahn, dann findet man Sonnenblumen, Liegestühle, einen Biergarten. Ein mittelalter, etwas dicklicher halbnackter Mann, ganz rot von der Sonne verbrannt, präsentiert sich auf dem Plakat des Sommertheater-Festivals. Nur da, wo der Schlips hing, ist die Haut weiß. Ein werbewirksames Sinnbild des Klimawandels. Der Mann ist ein Angestellter der Berliner Landesbank, der sich als Model ein Zubrot verdient.
Der neue Festival-Leiter Matthias von Hartz lud zur Eröffnung die Hofesh Shechter Company aus London mit zwei Tanzstücken ein.
Der in Jerusalem geborene Shechter, früher bei der Batsheva Dance Company, auch Rock-Schlagzeuger, hat nun in London eine eigene Gruppe. In dem Stück »Uprising« (Aufstand) umkreisen sieben junge Männer einander, nähern sich, stoßen sich wie im Kampf. Auch die Musik stampft und stößt. Manchmal ducken sich die Tänzer: Tiere, die sich anspringen. Immer wieder jähes Innehalten. Dann strömt Wasserrauschen ans Ohr, wird fast zur Sintflut. Die Bühne voller Dampf. Donner oder Geschützlärm? Tiefes Flugzeugdröhnen. Die Tänzer fliehen. Zwei umarmen sich verzweifelt. Zuletzt ballen sich alle zusammen, brüllen und tragen einen auf ihren Schultern. Der hält etwas krampfhaft hoch – eine Fahne? Es ist nur ein kleiner verknitterter roter Lappen.
Im zweiten Stück »In your rooms« kommen fünf Tänzerinnen dazu, Hofesh Shechter ist hier nicht dabei. Dafür ein wie in der Luft schwebendes Streich- und Schlagzeug-Orchester, das die Lichtregie aus dem Dunkel auftauchen und wieder verschwinden läßt.
Der Tanz scheint harmonisch, dann Dunkel, eine Stimme: »No, I can’t«. Licht zerreißt die Paare, läßt keinen Raum für Zärtlichkeit. Ein sanftes Berühren des Kopfes geht unmerklich über in Gewalt, die elegischen Töne der Streicher, zerfetzt von Trommelbeats, die schmerzen und dennoch mitreißen. Einer streut weißes Pulver über die Bühne, zieht eine Grenze. Der Versuch, sie wieder auszuwischen, gelingt nur unvollständig. Die Tänzer, wie eingeschlossen, schlagen an eine unsichtbare Mauer. Von weitem Schreie. Einer mit offenem Mund, der ihn blöd erscheinen läßt, kommt nah ans Publikum mit einem Plakat: »Don´t follow leaders!« Er dreht es um: »Follow me!« Aus dem Off Sätze über Bilder vom anderen, die jeder im Kopf hat. Im Tanz Uneinigkeit. Dann gemeinsames sanftes Erheben der Fäuste, das immer rhythmischer wird, wie dem Himmel drohend. Am Schluß Allah-Rufe im Dunkel.
Viel Beifall für die virtuosen Tänzer, den gelungenen Auftakt.
Erschienen in Ossietzky 17/2008
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