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Feindliches Vermögen
Ralph Hartmann
Den unverfänglichen Titel »Richtlinien für Übergangsmaßnahmen im Bereich der Düngemittel« trägt ein bundesdeutsches Dokument, in dem die Entwicklung der ostdeutschen Kaliindustrie untersucht wird. Die Autoren warnen vor »Überkapazitäten für Gesamtdeutschland«, die sich nach der Wiedervereinigung »ergeben würden«. Auf den ersten Blick mag man vermuten, daß es sich um ein Papier der 1990 gegründeten Treuhandanstalt zur Privatisierung der volkseigenen Betriebe der DDR handelt. Doch weit gefehlt. Die Richtlinien sind 34 Jahre älter. Sie wurden am 17. Oktober 1956 vom Plenum des »Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands beim Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen« verabschiedet. Bestätigt wurden die »Richtlinien« von Dr. Friedrich Ernst, einem Mann mit ruhmreicher Vergangenheit. 1935 hatte der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler ihn zum Reichskommissar für das deutsche Kreditwesen und 1939 zum Reichskommissar für die Verwaltung des »feindlichen Vermögens« ernannt, womit das bewegliche und unbewegliche Vermögen der von Nazideutschland überfallenen und okkupierten europäischen Staaten gemeint war. Aufgrund seiner reichen Erfahrungen und Verdienste wurde er sechs Jahre nach der Kapitulation des Dritten Reiches von Bundeskanzler Adenauer persönlich beauftragt, die Vorbereitungen für die Wiedervereinigung Deutschlands in die Hand zu nehmen. Nach wenigen Monaten folgte die Gründung des Forschungsbeirats, und der Spezialist für »feindliches Vermögen«, Friedrich Ernst, wurde zu seinem Präsidenten berufen. Unter seiner Leitung erarbeitete der Beirat eifrig und hingebungsvoll Konzepte für die Einverleibung der DDR.
Bis ins letzte Detail plante man die Restauration des Kapitalismus im Osten Deutschlands: den Währungsumtausch, die Einführung der Marktwirtschaft nach bundesdeutschem Muster, die Einsetzung von Treuhändern sowie einer »Oberen Behörde« zur Privatisierung der volkseigenen Betriebe, die Auflösung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), den Aufbau einer Arbeitslosenversicherung, die Beseitigung der Polikliniken und vieles mehr. In Hunderten von Empfehlungen und Richtlinien wurden Konzeptionen zu einzelnen Wirtschaftsbereichen entwickelt, darunter eben auch zum »Bereich der Düngemittel«.
Viele Jahre gingen ins Land, bis sich die Voraussage des Ernst-Nachfolgers Johann Baptist Gradl erfüllte: »Wenn es einmal zu realer Wiedervereinigung kommt, finden sich die Problematik und eine Skala praktikabler Verfahrensweisen aufbereitet vor.« 1990, nach dem Sieg der »friedlichen Revolution« und dem Untergang der DDR, war es endlich soweit: Die vom Forschungsbeirat entwickelten Konzepte konnten umgesetzt werden, darunter auch die Richtlinie für den »Bereich der Düngemittel«.
In der DDR war der Abbau von Kalisalz, des wichtigsten Düngemittels, weit entwickelt. In drei Betrieben in Sachsen-Anhalt und Thüringen mit zehn Werken wurden 1989 insgesamt 3,5 Millionen Tonnen Kalidüngemittel produziert. Die benachbarte Kali+Salz AG Kassel, die auf jährlich 2,1 Millionen Tonnen kam, sah durch die ostdeutschen Betriebe ihre beherrschende Marktstellung gefährdet und fürchtete um ihre Profite. Doch die vom Forschungsbeirat vorgesehene »Oberste Behörde«, die inzwischen den vertrauenerweckenden Tarnnamen »Treuhandanstalt« erhalten hatte, wußte um die profitbedrohende Gefahr der »Überkapazitäten«. Sie betrachtete die volkseigenen ostdeutschen Kaliwerke im Sinne des Ex-Reichskommissars als »feindliches Vermögen«, verfügte die Schließung von acht von ihnen und übergab die restlichen zwei mit einer zusätzlichen Mitgift von 1,3 Milliarden DM der Kali+Salz AG. Der Deal erhielt den schönen Namen »Kali-Fusion West-Ost«. Rund 23.000 Bergleute verloren ihren Arbeitsplatz.
Geschlossen wurden auch die Kali-Schächte im nordthüringischen Roßleben und im Eichsfelder Bischofferode. Während die Bergarbeiter in Roßleben nur schwachen Widerstand leisteten, kämpften die Kumpel von Bischofferode mit Demonstrationen, Streiks und wochenlangem Hungerstreik erbittert gegen die Stillegung ihres Werkes. Vergeblich. Die Schächte wurden geschlossen und aufgefüllt. Die »Überkapazitäten« wurden verhindert, die Profitgier siegte, denn »natürlich hatte K+S«, wie der zuständige Treuhand-Vorstand Klaus Schucht im Spiegel bestätigte, »ein Interesse, die Gruben im Osten auszuschalten«.
Doch siehe da, 15 Jahre später hat sich die Lage verändert. In Roßleben wächst die Hoffnung, daß das Bergwerk wieder aufgemacht wird. Die Gesellschaft zur Verwahrung und Verwertung von stillgelegten Bergwerksbetrieben (GVV) hat die Kaligrube zum Verkauf ausgeschrieben, und inzwischen haben sich Interessenten gemeldet: aus Luxemburg, Frankreich, Kanada und Deutschland, darunter, welch Wunder, die seinerzeit von den »Überkapazitäten« so gefährdete Kali+Salz AG aus Kassel. Bei näherer Betrachtung ist das Wunder ein völlig logischer Schritt des real existierenden Kapitalismus. Der Preis für Düngemittel, besonders für Kali, klettert unaufhörlich. Allein in den zurückliegenden fünf Jahren stieg er für eine Tonne von 120 auf 635 Dollar. Experten sehen die 1000-Dollar-Grenze nicht mehr weit. Die Gewinnerwartungen steigen rapide.
Wenn der Profit gefährdet ist, werden Werke ausgeplündert und geschleift, Arbeiter in Massen entlassen und Existenzen zerstört. Winkt jedoch neuer Maximalgewinn, dann scheuen Profitjäger weder Mühe noch Kapital. Unter Roßleben liegen rund 200 Millionen Tonnen bester Kali. Da lohnt es schon, die vier mal vier Meter große Betonplatte über dem Mundloch der Grube beiseite zu räumen und den zugeschütteten Schacht mit geschätzten Kosten von einer halben Milliarde Euro wieder abzuteufen. Vielleicht springen die Berliner Aufbauhelfer Ost mit einer schönen Stange Fördergelder der Kali+Salz AG bei. Schließlich handelt es sich ja nicht mehr um »feindliches Vermögen«.
Erschienen in Ossietzky 17/2008
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