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 Bemerkungen
  
Getötete Wörter
Der Herr  Zierrat hat Geburtstag. Vor zehn Jahren, am 1. August 1998, hat er den  Objektstatus als bloße Verzierung hinter sich gelassen und Personenwürde  erlangt, um neben dem Kommerzienrat und dem Geheimen Hofrat auf der Ehrenbank  der überflüssigen Titelträger Platz zu nehmen. Ein simples zweites »r« hat für  diese wundersame Verwandlung genügt; gewaltig aber war die  Verwaltungsmaschinerie, genannt Rechtschreibreform, die für so simple  Verunzierungen der Sprache und für so grobe und noch gröbere Verletzungen  unseres Sprachgefühls in Gang gesetzt werden mußte, und gewaltig waren die  Kosten. 
Geburtstag haben auch so imposante transzendentale  Wesenheiten wie der »Obrige«, das »Weitere« oder das »Lange«, die endlich in  ihrer überwältigenden Dinghaftigkeit bestaunt werden können, seitdem sie  orthographisch nicht mehr zu banalen adverbialen Floskeln (»im übrigen«, »des  weiteren«, »seit langem«) herabgestuft werden dürfen. Was dem einen sein  Geburtstag, ist dem anderen sein Todestag. Viele zusammengesetzte Wörter, von  »vielversprechend« oder »nichtssagend« bis »ratsuchend« oder »kostensparend«,  sind sang- und klanglos untergegangen. Noch nicht ganz endgültig freilich, denn  eine halbherzige Rettungsaktion hat vielen von ihnen ein prekäres Überdauern im  Gnadenstatus der Duldung gewährt. Wie ungewiß ihre Zukunft bleibt, zeigt ein  Blick in den aktuellen Duden. Jede zweite Gelbmarkierung bei möglicher Wahl  zwischen Varianten erklärt die Arbeit des ruhmlos gescheiterten Deutschen  Rechtschreibrates und seines mutlosen Vorsitzenden Hans Zehetmair für  irrelevant und fordert Getrenntschreibung. 
Der Verlust an Wörtern wird kompensiert durch syntaktischen  Gewinn. Endlich kann das Deutsche mit dem englischen Gerundium (»I am reading a  book«) mithalten: »Dieser Lösungsansatz ist Erfolg versprechend« (statt:  »verspricht Erfolg«). Und auch die Fehlermöglichkeiten haben erfreulich  zugenommen. Aus Gründen der visuellen Prägnanz verwechselt man »das« und »dass«  viel leichter als »das« und »daß«, und tatsächlich werden nachweislich bei  dieser für das Satzverständnis wichtigen Unterscheidung nun mehr Fehler gemacht  als früher. 
Unvergessen bleibt der Satz einer deutschen  Kultusministerin, man sei sich bewußt, daß die Reform ein Fehler war, aber »aus  Gründen der Staatsräson« werde man an ihr festhalten. Ulla Schmidt braucht sich  also um ihren Gesundheitsfonds keine Sorgen zu machen: Was niemand will, wofür  niemand ein überzeugendes Argument hat, läßt sich trotzdem durchsetzen. 
Das Abendland aber ist nicht untergegangen. Wie alle  Fiktionen, die wir gewohnheitsmäßig als Realitäten behandeln, hält es sehr viel  aus. Mehr jedenfalls als die Sprache.           
Hans Krieger 
  
Der Einbürgerungstest 
DDR-Bürger,  die mit dem Einigungsvertrag seit 3. Oktober 1990 Bundesbürger sind, sollten  froh sein, daß es damals dieses Gesellschaftsspiel noch nicht gab. Sonst hätte  die neue Bundesrepublik ungefähr 15 Millionen Bundesbürger weniger, darunter  vor allem solche, die das lieber heute als morgen werden wollten (wem die sich  dann angeschlossen hätten, weiß ich nicht, aber das tut hier nichts zur Sache).  Obgleich also der Gnade des frühen Beitritts teilhaftig, habe ich mich diesem  sogenannten Einbürgerungstest unterworfen. Nach den ersten sieben Fragen brach  ich ihn erst einmal ab. Zwar hatte ich alle Fragen richtig beantwortet, aber  das lag, wie ich erkannte, nicht an meinem für den Erwerb der deutschen  Staatsbürgerschaft erforderlichen Wissen. Da zu jeder Frage vier  Antwortmöglichkeiten gegeben sind, beantwortete ich das meiste nach dem  Ausschlußprinzip: Das nicht, das nicht, das nicht – also das. So hat mich  mangels Gelegenheit nie interessiert, wo man seinen Hund anzumelden hat, ich  werde es auch sofort wieder vergessen, aber Finanz-, Einwohnermelde- oder Gesundheitsamt  konnten es nicht sein, blieb also nur das Ordnungsamt. Wieder einen Punkt  abgearbeitet ...  
Wer nun aber meint, »das etwas andere Quiz« (so der Titel  der Themaseite in Neues Deutschland,  12./13. Juli) bevorzuge vor allem jene, die logisch denken können, irrt  durchaus. Denn die Unfähigkeit zu logischem Denken ist weniger ein Ergebnis  mangelnden Intellekts als vielmehr Resultat sozialer Benachteiligung,  dementsprechend schlechter Schulbildung und so weiter. Zudem ist im »Test« bei  näherem Hinsehen nicht einfach logisches Denken verlangt, sondern die Logik  eines Denkens, das in dieser deutschen Gesellschaft gelebt und auf diese Weise  gelernt wird. Es ist also nicht nur Denken verlangt, sondern deutsches Denken.  Wer de jure deutscher Staatsbürger werden will, muß es de facto schon sein, und  zwar schon so lange, daß er das deutsche Denken vollständig internalisiert hat. 
Wer meint,  dies Ansinnen sei in Zeiten der Globalisierung völlig anachronistisch, irrt  schon wieder. Diese spezifische Spielart des Nationalismus ist der notwendige  Begleiter der Globalisierung. Man schaue nur in die USA, das Einwanderungsland  par excellence, wo dem werdenden Staatsbürger schon seit langem ganz andere  Dinge abverlangt werden, beispielsweise der Schwur auf die Verfassung (den in  Deutschland lediglich Beamte ablegen müssen). Da holt Deutschland also nur  nach, was andere tun. Umgekehrt könnten Einbürgerungswillige und ihre deutschen  Mitbürger von jenen Deutschen lernen, die vor siebzig Jahren in die USA  einwandern mußten: Die lernten Texte auswendig und fragten sich gegenseitig ab.  Hilfe zur Selbsthilfe ist also wieder mal gefragt. Ein lohnendes Projekt für  linke Bildungsinitiativen, allerdings weder staatstragend noch den Staat  umstürzend.                         
    Thomas Kuczynski 
  
Der Stolz unserer Regenten
Dafür ließen  sich frühere Regenten lobpreisen: mehr Schulen im Land, mehr Freizeithäuser für  Junge und Alte, mehr Bibliotheken, mehr Theater, mehr Schwimmhallen, mehr  Krankenhäuser, mehr Schienenverbindungen, mehr Wohlstand für alle. 
Das ist der Stolz unserer heutigen Regenten: weniger  Schulen im Land, weniger Freizeithäuser für Junge und Alte, weniger  Bibliotheken, weniger Theater, weniger Schwimmhallen, weniger Krankenhäuser,  weniger Wohlstand für alle, weniger Sozialausgaben des Staates, geringere  Besteuerung der Reichen, systematische Verbilligung des Standorts für die  Konzerne, immer noch günstigere Bedingungen für Kapitalanleger, die nur eins  wünschen: schnellen maximalen Profit.   
    E. S. 
Heldenverehrung 
Bundesarbeitsminister  Olaf Scholz (SPD) sprach in einem Stern-Interview  würdigende Worte über einen Personenkreis, für den er innerhalb der  Bundesregierung zuständig ist, und er sprach so ergreifend, daß er die Leser  förmlich strammstehen ließ: »Millionen Menschen in diesem Land verdienen wenig,  viel zu wenig, und gehen trotzdem jeden Tag zur Arbeit, oft ihr Leben lang. Das  sind für mich die wahren Helden unserer Zeit.« 
Dieser Heroismus läßt sich noch steigern und Scholzens  Bewunderung ebenso – wenn noch mehr Menschen noch weniger Lohn erhalten und  dennoch unentwegt malochen. Dann ist ein Nationaldenkmal fällig.                             
    A. K.  
  
Karriere mit Energie 
Die »Vertraute  von Bundeskanzlerin Merkel«, Hildegard Müller, bisher Staatsministerin im  Kanzleramt, werde »in die Wirtschaft wechseln«, meldeten die Presseagenturen.  Ihr Bundestagsmandat werde sie niederlegen. Hildegard Müller ist ein  zeittypischer Musterfall für Politikerkarrieren. Als gelernte Bankkauffrau  übernahm sie auf Kosten der Dresdner Bank den Bundesvorsitz der Jungen Union,  wurde – mit weiterer finanzieller Förderung besagter Bank – Mitglied des  Bundestages und sammelte Ämter: Mitglied im Präsidium der CDU, Mitglied des  Landesvorstandes der CDU Nordrhein-Westfalen, Vorstandsmitglied der Unions-Mittelständler,  Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, schließlich  Kanzleramtsministerin. Da wird niemand mehr sagen können, Frauen hätten in der  Politik nur wenig Chancen, freilich brauchen sie – auch sie – ein bißchen  Hilfe. 
Jetzt wird Hildegard Müller Hauptgeschäftsführerin des  Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft. Da wird ihr die berufliche  Sozialisation bei der Dresdner Bank gewiß zugute kommen. Originell ist die  Branchenwahl allerdings nicht; die meisten prominenten Ex-PolitikerInnen, ob  schwarz oder rot-grün, finden ihr neues Zuhause in der Energiewirtschaft. Nicht  nur biographisch interessant wäre, ob sie ihre Sympathie für die Konzerne  dieser Branche schon in politischen Amtszeiten bewiesen haben. Aber darüber  wird uns auch die im Umgang freundliche Hildegard Müller keine Auskunft geben. 
Anzumerken ist, daß sie seinerzeit »Donum vitae«  unterstützt hat, einen Verein für Schwangerschaftsberatung, der dem Vatikan  mißfällt. Das war couragiert, innerkirchlich betrachtet, aber den  Energieunternehmen ist so etwas schnuppe, der Papst in Rom macht ihnen keine  Angst. Zudem kann man ihn versöhnlich stimmen – auch römische Events brauchen  Sponsoren. 
    Arno Klönne 
  
Geburtshilfe 
Für die  Zeitschrift Capital befragen die  Allensbacher Meinungsforscher regelmäßig die »Elite« im Land, also die  Spitzenmanager der Unternehmen, nach Empfehlungen für die Politik. Diesmal  ergab sich, daß 76 Prozent der Befragten eine Bundesregierungskoalition aus  Union und Grünen bei nächster Gelegenheit gutheißen würden. Das ist ermunternd  für die grünen Profis, die wieder »Verantwortung« übernehmen möchten, und gibt  noch zögerlichen Unionspolitikern einen Schub hin zur Großmütigkeit gegenüber  der wilden Vergangenheit der Grünen.  
Und wenn die FDP auch mitregieren will? Daran wird die  »neue Beweglichkeit« beim Koalieren nicht scheitern.  
    Peter Söhren 
Zuschriften an die Lokalpresse 
Da das mit dem  Aufschwung doch etwas komplizierter zu sein scheint als gehofft und gefühlt,  klammere ich mich gierig an jede positive Nachricht. Na bitte, sage ich mir  dann immer, geht doch! 
Durch den »Stadtumbau Ost«, vermeldete Bundesbau-,  Bundesverkehrs- und Bundesostminister Tiefensee, konnte der Wohnungsleerstand  in den Neuen Bundesländern von 16,2 Prozent im Jahre 2002 auf elf Prozent im  Jahre 2007 verringert werden. Was aus der stolzen Bilanz allerdings nicht  hervorgeht, sind die Gründe für diese Entwicklung. Sie liegen darin, daß nicht  wenige, vor allem jüngere Bundesbürger die Ostregionen aus Erwerbsgründen  verlassen und infolgedessen Wohnraum aufgegeben haben und daß bis Ende 2007  rund 221.000 Wohnungen »rückgebaut«, sprich: abgerissen worden sind. Bis zum  Jahre 2016 sollen weitere 200.000 bis 250.000 Wohnungen folgen, so daß die  positive Entwicklung anhalten dürfte. Es besteht also weiterhin Grund zum  Optimismus. – Werner Grünefeld (53), Logistiker, 15890 Siehdichum 
 
* 
 
Endlich hat  man ein Rezept dafür gefunden, den offensichtlich unvermeidbaren Bierkonsum der  Gattung Mensch für die Umwelt zu nutzen, schon wird dagegen gestänkert! Die  Krombacher Brauerei führt für jeden Kasten Bier einen Betrag für die Rettung  des afrikanischen Regenwaldes ab, und jeder, der Krombacher trinkt, wird  automatisch zum Umweltschützer und moralisch aufgewertet. Wenn der Papa  beispielsweise zum sonntäglichen Frühschoppen die Wohnung verläßt, kann  er sich von seiner Familie guten Gewissens mit den Worten »Wartet nicht mit dem  Essen auf mich – ich tu erst mal was für den Regenwald« verabschieden, und je  besoffener er zurückkehrt, desto dankbarer muß man ihm sein. Was aber behaupten  die Gegner des Projekts? Der Brauereikonzern, der Krombacher herstelle, wolle  an der Sauferei nur mehr verdienen! 
Wenn schon der eine oder andere Bundesbürger seine Leber  und weitere Innereien selbstlos für den Regenwald und den Lebensraum der  Gorillas zur Verfügung stellt, verdient er nicht bösen Schmäh, sondern ehrliche  Anerkennung! Das Umweltbundesamt sollte ihm ein Trikot mit der Aufschrift »Ich  stehe zu meinem Affen!« oder »Mein Affe – das bin ich!« verleihen. – Baldur Schluckauf  (62), Invalidenrentner, 54533 Biermühle 
    Wolfgang  Helfritsch 
  
Wie wir einmal China eroberten 
Gerhard  Seyfried, bisher bekannt durch Comics, hat ein Kapitel deutscher  Kolonialgeschichte zum Roman gestaltet. Kaiser Wilhelm II. sagte bei der  Verabschiedung der Truppen in Bremerhaven: »Pardon wird nicht gegeben,  Gefangene werden nicht gemacht.« Viel zitiert wurden auch diese Sätze des  Kriegsherrn: »Wie vor tausend Jahren die Hunnen sich einen Namen gemacht haben,  do möge der Name Deutscher auf eintausend Jahre durch euch in der Weise  bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen auch nur  scheel anzusehen.« Die 20.000 nach Fernost entsandten Soldaten handelten  danach. Seyfrieds Recherchen in in- und ausländischen Archiven brachten manche  Überraschung hervor. 
Tagebuchartig schildert der Autor die dramatische  fünfundfünzigtägige Belagerung des Pekinger Gesandtschaftsviertels im Sommer  1900. Tausende chinesische Boxer, Mitglieder eines um 1770 gegründeten  Geheimbundes, und Soldaten beteiligten sich daran. Am 28. August 1900  paradierte die siegreiche ausländische Streitmacht durch Peking. Die Stadt  wurde geplündert, Teile des kaiserlichen Palastes wurden brutal zerstört. Erst  am 7. September 1901 kam es zum endgültigen Friedensschluß mit harten  Bedingungen für China. Eine Demütigung für das Land. Vielleicht erklärt sich  daraus, warum die Volksrepublik China jede ausländische Einmischung in ihre  Angelegenheiten schroff ablehnt.                  
    Karl-H.  Walloch 
Gerhard Seyfried: »Gelber Wind oder Der Aufstand der  Boxer«, Verlag Eichborn, 656 Seiten, 29.95 € 
  
Die »französische Krankheit« 
In der  renommierten »Bibliothèque de Pléiade« des Verlagshauses Gallimard in Paris  sind in diesem Jahr die Tagebücher von Ernst Jünger erschienen, unter dem Titel  »Journaux de Guerre« herausgegeben von Julien Hervier und Pascal Mercier. Diese  kritische Ausgabe enthält im zweiten Band die Aufzeichnungen aus dem Zweiten  Weltkrieg, geschrieben von Jünger als Besatzungsoffizier der deutschen  Wehrmacht in Paris, später zusammengefaßt erschienen unter dem Titel  »Strahlungen«. 
»Es ist eine Rückkehr nach Vichy«, meint der 1928 in  Reinbek bei Hamburg geborene Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt, der im  französischen Exil überlebt hat. So schrieb er kürzlich in der Frankfurter Rundschau. Und er fügte  hinzu: In der »Pleiade« gedruckt zu werden, sei »ehrenhafter, als der Académie  Francaise anzugehören«. Durch die Aufnahme des »ein wenig faschistoiden,  großtuerischen Mystagogen unter die schönen Geister des französischen  Literaturhimmels« werde der deutsche Widerstand gegen die Hitlerbarbarei in den  Hintergrund verschoben und finde »eine regelrechte Rehabilitierung der  deutschen Okkupation Frankreichs« statt. 
Handelt es sich bei der Aufnahme der Jünger-Texte wirklich  um eine »Eloge der Kollaboration« und damit um das Verständnis eines Europas  ohne Juden und Kommunisten, wie Goldschmidt meint? Jedenfalls geht es in dem  Disput weniger um Jünger als vielmehr um verdrängte Widersprüche und  unterschwellige Ressentiments, also um Symptome jener »maladie francaise«, die  die französische Philosophin Hélène Cixous jüngst konstatierte. Diese  »französische Krankheit« ist ablesbar an der fehlgeleiteten Erinnerungspolitik  mit den neuen Tendenzen zur Geschichtsrevision. 
In diesen Zusammenhang gehört auch die französisch-deutsche  Erfolgsgeschichte des ebenfalls bei Gallimard erschienenen Romans »Die  Wohlgesinnten« von Jonathan Littell. Die Geschichte des Massenmords an den  Juden aus der Sicht des SS-Sturmbannführers läßt sich als Verklärung des  »Boche« lesen, des empfindsamen Ungeheuers im SS-Übermenschen und mörderischen  Todesengel Dr. Max Aue« (Klaus Harpprecht in der Zeit). Das kultivierte deutsche Ungeheuer als kongenialer Feind,  der die französischen Intellektuellen von Drieu de la Rochelle über Cocteau bis  zu den Anhängern der Vichy-Regierung faszinierte und verführte. In dieser  Gesellschaft der »Wohlgesinnten« bewunderte man Ernst Jüngers artifizielle  Kunstprosa und das Denken Martin Heideggers, des frühen Bekenners zu Adolf Hitler  und dem NS-Staat.  
Ist die französische Krankheit vielleicht eine deutsche  Erblast? 
Grund genug, ein Projekt zu verfolgen, das mit der Auswahl  von Texten jener Deutschen und Franzosen antwortet, die sich dem NS-System in  Frankreich und Deutschland von Anfang an entgegenstellten, deshalb in die  Zuchthäuser, Ghettos und Konzentrationslager deportiert wurden und dort  überlebten dank der Solidarität der Leidensgenossen und dank ihrer eigenen  kulturellen Aktivitäten. 
  Den erwähnten Georges-Arthur Goldschmidt retteten damals  französische Bergbauern vor der Deportation. 
  Jörg  Wollenberg 
Bücher in Scheiben 
Sympathisch,  authentisch, kein bißchen larmoyant, nein, heiter liest Cioma Schönhaus seine  unglaubliche Geschichte. Und eben diese heitere Gelassenheit ist es, die sie  noch ungeheuerlicher macht. Schönhaus, Jahrgang 1933, erzählt von seinen  Lebensjahren im Berlin 1941/43. In pointierten Episoden voller Hintersinn,  unbändig lebensfroh trotz Chaos, Krieg, Judenverfolgung, Deportation,  Bombardements, hat er das Wunder seiner Rettung aufgeschrieben. 
Cioma lebt illegal, fälscht Pässe und Ausweise am Fließband  für Juden, wie er einer ist. Alle sind auf der Flucht vor der Deportation nach  Polen, suchen, steckbrieflich gesucht, nach einem Fluchtweg in die Schweiz oder  nach Papieren für die Ausreise nach Amerika. Der Jüngling verdient auf diese  Weise viel Geld, ißt Hummer, trinkt Champagner bei Kempinski, verführt Mädchen  und läßt sich von reifen Frauen verführen, Theaterbesuche eingeschlossen. 
Für diesen Strudel aus politischer Gewalt, Bosheit, Schläue  und hilfsbereiter Menschlichkeit findet Schönhaus eine eigene poetische  Erzählweise. Sanft, klar, sehr genau schildert er die Schrecken dieser Zeit,  durch die er spaziert, als wäre es ein Leichtes. 
19 Jahre zählt Cioma, sein Beruf: Grafiker. Eines Tages  wird er gefragt, ob er den Stempel in einem Paß, in dem das Foto ausgetauscht  wurde, wieder ergänzen kann. Er kann. Staunen und Bewunderung bei seinem  Auftraggeber, so kunstvoll ist es gelungen – wie ein Wunder. »Aber auf Wunder  ist kein Verlaß«, sagt der Helfer der Bedrängten, ein Arzt, der Pässe,  Unterschlüpfe, Lebensmittelkarten und Geld beschafft, »Konspiration und  Heldenmut sind gefragt.«  
Ciomas Erfindungsreichtum wirkt unbegrenzt. Immer wieder  finden sich Menschen, die trotz der Gefahr für das eigene Leben den Verfolgten  helfen. Ausweise statt Geld wurden in den Opferstock der Kirche gelegt. Cioma  verändert Kennkarten, tauscht Fotos aus, versieht sie mit den erforderlichen  Stempeln. Ebenso verfährt er mit Wehrpässen. Die täglich wechselnden  Unterkünfte, Gelegenheitsarbeiten, seine Verstecke für die Fälscher-Utensilien  – all das erfordert perfekte Organisation und ein dichtes Lügennetz. Jede  Äußerung muß bedacht sein, ein Fehler würde das Ende bedeuten. Auf Paßfälschung  steht die Todesstrafe. Wer einen Juden versteckt, kommt ins  Konzentrationslager. Cioma trägt stets eine schwarze Seidenkrawatte bei sich.  Sollte er gefaßt werden, will er sich erhängen.  
1943, in Fliegeralarm und Bombenhagel, verliert er  sämtliche Papiere. Man findet sie, entdeckt, daß ein Mann mit diesem (falschen)  Namen nicht registriert ist. Von nun wird Cioma im gesamten Reichsgebiet  steckbrieflich gesucht. Per Fahrrad fährt er Richtung Schweiz, von einem  Gasthof zur nächsten Schenke, findet immer wieder Beistand, Unterschlupf, Hilfe  von Menschen, die ihr Leben riskieren. Der vorher erkundete Fluchtweg erweist  sich als ungeeignet, er ist hermetisch bewacht. Bäuchlings kriecht Cioma einen  Bachlauf entlang in das Land, in dem er aufrecht gehen zu können hofft. In  Basel erhält er ein Stipendium, wird Grafiker, heiratet, hat vier Söhne. Seinen  Lebensbericht beschließt er mit der scheinbar lakonischen Aufzählung der Namen  aller Familienmitglieder und Weggefährten, die nicht aus dem Vernichtungslager zurückgekehrt  sind. 
Nachhallende Stille. 
 
* 
 
Zwei andere  Hörbücher aus demselben Verlag, argon in Berlin, befassen sich mit jüngerer  Geschichte: »Die Flucht aus der DDR« und »Die Berliner Mauer«. Obwohl von  unterschiedlichen Regisseuren in Szene gesetzt, sind die Dokumente nach  gleichem Muster aufgearbeitet, großenteils sind es auf beiden Scheiben  dieselben Dokumente. Es gibt anderes zu diesem Thema.  
Anne Dessau
Cioma Schönhaus (Autor und Sprecher): »Der Paßfälscher«,  argon, 19.95 € 
  
»Kronjurist« und »Kronzeuge« 
Gerhard Stuby,  der sich als Völkerrechtler einen Namen gemacht hat, ist bei seinen Recherchen  für ein geplantes Buch über den Nürnberger Prozeß gegen Kriegsverbrecher im  Auswärtigen Dienst (Wilhelmstraßen-Prozeß) auf Friedrich Wilhelm Gaus gestoßen,  einen bisher kaum bekannten Juristen, der von 1922 bis 1945 Leiter der  Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt war. Stuby hat entlang der Lebensgeschichte  dieses Mannes und seines Arbeitsgebietes, nämlich der Abfassung völkerrechtlicher  Verträge, ein Stück deutsche Geschichte beschrieben. Es ist nicht nur die  Geschichte eines schließlich zum Botschafter aufgestiegenen Gehilfen deutscher  Obrigkeit, sondern zugleich die Geschichte deutscher Vertragsbrüche, mit denen  Hitler seine wahnsinnigen Weltherrschaftspläne und den furchtbarsten aller  bisherigen Kriege einleitete. 
Man gewinnt als Leser Interesse an diesem Friedrich Wilhelm  Gaus, der aus bäuerlichem Milieu stammte, als außerordentlich begabter Schüler  auffiel und sich zu einem Experten des Völkerrechts entwickelte. Er wurde  seinen Dienstherren, von Stresemann bis Ribbentrop und Hitler, unentbehrlich,  so daß ihm auch in Zeiten der Nürnberger Gesetze die jüdischen Vorfahren seiner  Frau, einer Nichte von Ricarda Huch, verziehen wurden. Aber das war immerhin  ein Makel, der zu einer Anpassung nötigte, die Gaus nach dem Krieg  selbstkritisch reflektiert hat. 
Es gelingt dem Autor, die trockene Materie des Abschlusses  völkerrechtlicher Verträge – vom Versailler Friedensvertrag über Rapallo, Locarno  und den Briand-Kellogg-Pakt bis zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939 – mit dem Leben  seines Protagonisten so spannend zu verbinden, daß man in einem Zuge bei der  Lektüre des umfangreichen, auf sorgfältigsten Recherchen beruhenden Buches  bleibt und nicht nur viel über vertane Chancen der deutschen Geschichte und den  unverantwortlichen Umgang mit dem Völkerrecht unter Hitler hinzulernt, sondern  auch an dem abwechslungsreichen Leben eines Staatsbeamten aus dem zweiten Glied  Anteil nimmt, der nach dem Zusammenbruch des Nazi-Staates eine bemerkenswert  ehrliche Rolle als Zeuge der Anklage in Prozessen der Siegermächte gegen seine  bisherigen Arbeitgeber gespielt hat. Was dazu führte, daß das Leben des als  »Nestbeschmutzer« verfemten Mannes in Einsamkeit zu Ende ging. Stuby: »Das  Politische Archiv des AA, das über jeden noch so unbedeutenden Diplomaten  zumindest Nachlaßsplitter aufbewahrt, führt nichts zu Gaus.« Wurden seine  Spuren getilgt?          
Heinrich Hannover 
Gerhard Stuby: »Vom ›Kronjuristen‹ zum ›Kronzeugen‹.  Friedrich Wilhelm Gaus: ein Leben im Auswärtigen Amt der Wilhelmstraße«,  VSA-Verlag Hamburg, 511 Seiten, 39 € 
  
Geschärfter Blick zurück 
Vor dreißig  Jahren erschien erstmals Wolfgang Bittners Roman »Der Aufsteiger«, jetzt liegt  er, geringfügig verändert, bei einem anderen Verlag vor. Soll man ihn nun als  historischen Roman zur jüngsten Zeitgeschichte lesen, als Dokument in  literarischer Form also, oder ist er etwa unvermindert aktuell geblieben? 
Beides.  
Der Roman handelt von Erich Wegner, einem Flüchtlingskind.  Er beginnt als Arbeiter im Tiefbau, holt sein Abitur nach und studiert  anschließend Jura. Eine verheißungsvolle Karriere stände ihm offen, allerdings  sieht er sich in seiner spießbürgerlichen Umgebung mit »Klassenbarrieren«  konfrontiert, die ihn zunächst resignieren und in eine private Beziehung  flüchten lassen. Das Ende bleibt offen. 
»Heimatvertriebene« gibt es längst nicht mehr, dafür aber  Familien mit »Migrationshintergrund«, wie das so schön im Beamtenjargon heißt.  An der Klassengesellschaft hat sich wenig geändert: Wer deren Bedingungen  kritisiert, mag noch so gute Argumente haben, eine echte Chance wird er ebenso  wenig finden wie Erich Wegner eine Generation vor ihm. 
Kaum geändert haben sich die sozialen und wirtschaftlichen  Bedingungen, unter denen Arbeit hierzulande vergeben wird. Die Würde des  Menschen ist in der Praxis antastbar, und zwar durch Unternehmer, die die  Abhängigkeit ihrer Mitarbeiter in Profit verwandeln. Was Wegner im Tiefbau  erlebte, hat Günter Wallraff jüngst wieder in einer Großbäckerei dokumentiert.  Wolfgang Bittners Roman hat – wie guter Wein – durch die lange Lagerung eher gewonnen.  Das Buch schärft den Blick auf heutige Verhältnisse durch die Brille der  historischen Perspektive. 
    Andreas Rumler  
Wolfgang Bittner: »Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu  leben«, Horlemann Verlag, 200 Seiten, 16.90 € 
  
Dringende Empfehlung: Makine 
Hätte ich  diesen Autor nicht zufällig entdeckt, wäre mir ein Stück Literatur entgangen,  das ich in meinem Fundus »Lieblingsbücher« nicht mehr missen möchte. Andrei  Makines »Die Frau vom Weißen Meer« ist eine Liebesgeschichte zwischen einem  jungen Leningrader Schriftsteller und einer älteren Frau aus einem einsamen  Dorf, eine Geschichte über den Schnee, die Landschaft und das harte Leben am  Weißen Meer, eine Geschichte über Treue und vor allem über den Platz des  Einzelnen im Leben. Der Ich-Erzähler – der gealterte Schriftsteller von damals  – erinnert sich in Paris daran, wie ihm einst anläßlich eines Reportageauftrags  über Archangelsk, hoch im Norden Rußlands, die Lehrerin Vera begegnete, die  seit dreißig Jahren auf den Geliebten wartet, den sie in den Krieg  verabschiedet hat. Eigentlich wollte der junge Reporter seinen Aufenthalt in  der Kälte auch für seine Studien zu einer deftigen Satire über das von ihm  verachtete Sowjetsystem nutzen, doch trotz der vorgefundenen erbärmlichen  Verhältnisse bleibt ihm die Satire im Halse stecken.  
Makine, 1957 in Sibirien geboren, seit 1987 in Paris  lebend, wurde 1995 mit seinem Buch »Das französische Testament« international  bekannt. In Frankreich erhielt er dafür hohe Preise. Das Buch wurde in 27  Sprachen übersetzt. Auf mich wirkt seine »Frau vom Weißen Meer« noch  geschlossener und reifer. Ein Schriftsteller, den man sich unbedingt merken  sollte!  
    Christel  Berger  
Andrei Makine: »Die Frau vom Weißen Meer«, Hoffmann und  Campe, 189 Seiten, 18.95 €  
  
Walter Kaufmanns Lektüre 
»Mit zeitloser  Meisterschaft erzählt Gay Talese eine wahre Geschichte, die spannender ist als  jede Fiktion«, wirbt der Verlag Rogner & Bernhard. Meisterschaft ist Gay  Talese nicht abzusprechen, ich habe sein Können gewürdigt, als ich hier »Frank  Sinatra ist erkältet« und »Du sollst begehren« vorstellte. Auch »Ehre deinen  Vater«, ein umfangreiches Buch über die New Yorker Mafia-Familie Bonnano, ist  gut geschrieben und gebaut, und wahr wird es wohl sein. Aber spannender als  jede Fiktion? Mario Puzos Roman »Der Pate« ist allemal spannender als Gay  Taleses Tatsachenbericht, und Talese wird das gespürt haben, als er dem Roman  die Ehre tat, ihn in seinem Text nicht nur zu erwähnen, sondern auch zu zeigen,  wie Bill Bonnano nicht von dem Buch lassen konnte, das er für authentisch  hielt. Nicht weniger authentisch wirkt »Ehre deinen Vater« – nur fehlt ihm die  kritische Distanz. Mir scheint, Gay Talese näherte sich der Hauptperson seines  Buches, Salvatore (Bill) Bonnano, Sohn des Mafia-Bosses Joseph Bonnano, so  sehr, daß diese Figur ihm die breitere Sicht versperrte und auch die Einsicht,  es mit dem Sproß eines Verbrechers zu tun zu haben, der selbst ein Verbrecher  war, ohne daß ihm die US-Gesetzlichkeit je auf die Sprünge kam (oder auf die Sprünge  kommen wollte), bis sich ein lange zurückliegendes, harmloses Vergehen  (Unterschriftenfälschung und Kreditkartenmißbrauch) dazu nutzen ließ, ihn für  vier Jahre aus dem Verkehr zu ziehen. 
Gay Taleses Buch vermittelt nicht bloß Nähe zu den  Bonnanos, sondern auch freundschaftliche Zuneigung, die sein Übermaß an  Nachsicht erklärlich macht. Nie prangert er an, nirgends deckt er das Elend  auf, das aus dem Drogenhandel resultiert, noch zeigt er, wie den Ärmsten der  Armen beim Eintreiben von Spiel- oder anderen Schulden der letzte Cent  abgepreßt wird. Das Wort loansharks klingt  nicht ein einziges Mal an – jene ruchlosen Geldeintreiber, die für die  Mafia-Bosse unterwegs sind. Wir bekommen den Mafia-Reichtum mit, wie sie leben  in ihren prunkvollen Villen und in den teuersten Restaurants prassen – doch mit  welchen Methoden der Reichtum angehäuft wird, bleibt weitestgehend ausgespart.  Talese fehlt der Stachel, er bohrt nicht – und mag er auch noch so gut  formulieren, sein Material noch so gut ordnen, mit Situationsschilderungen  beeindrucken, letztendlich blieb ich wenig angetan von seinen sechs Jahre  währenden Mühen mit »Ehre deinen Vater«. 
    Walter Kaufmann 
Gay Talese: »Ehre deinen Vater«, aus dem Amerikanischen von  Gunther Martin, Verlag Rogner & Bernhard, 528 Seiten, 24.90 € 
  
Ein Gäßchen für Ringelnatz 
Als er am 7.  August in Wurzen bei Leipzig geboren wurde, hatte die Stadt 9.719 Einwohner,  eine gerade eingeweihte »Muldentalbahn« und – in der Zeit des  Sozialistengesetzes – sehr aktive Sozialdemokraten. Sein Vater freilich, der  Musterzeichner und Jugendschriftsteller Georg Bötticher, betrieb damals die  Übersiedlung seiner Familie nach Leipzig, wo der junge Hans Gustav Bötticher  dann, den Kopf voller Streiche, aufwuchs. Mit 15, 16 Jahren soll er bereits  respektlose Verse verfaßt haben – ganz der Sohn seines Vaters, von dem »in  sächsisch« böse Verse über das damalige Wurzener Stadtoberhaupt stammen: Im Worzner Ratskeller treiwen de Herrn/  ihren Spaß mit’n Gastwirtsbudel gern:/ där gann abordiern und Schildwach stehn/  un uff zwee Beenen dorchs Zimmer gehn,/ holt jeden d’n Hut un de Gummischuh/ un  macht’n de Diere off un zu –/ »Nee«, sagt d’r eene, alle bonnehr!/ dän  Gerlichen is ooch nischt ze schwer.«/ »Där«, meent ä Zweeter, »där teischt sich  nie -/ ’s is wärklich ä hellisch kluges Vieh!«/ »Ja«, ruft ä Dritter, »dän  macht nischt ärre:/ där Hund is gescheiter wie sei Härre!«/ Da spricht d’r  Berchemeester d’r Stadt:/ »So änn Hund – haw ich ooch emal gehatt!« 
Hans Bötticher, der zum Weltenbummler und Bohemien wurde,  feierte als Schriftsteller erste Erfolge schon vor dem ersten Weltkrieg,  gefördert von Thomas Mann und Kurt Tucholsky. Seine eigentliche Karriere begann  dann nach dem Krieg in der Berliner Kleinkunstbühne »Schall und Rauch«. 1920  kamen in dem kleinen Berliner Verlag Alfred Richard Meyer »Joachim  Ringelnatzens Turngedichte« und »Kuttel Daddeldu oder das schlüpfrige Leid«  heraus. 
Wer heute Ringelnatz lesen möchte, hat die Qual der Wahl.  Von »Gesammelten Werken« bis hin zum Diogenes-Taschenbuch ist diese skurrile,  tiefsinnige und oft auch heiter-wehmühtige Poesie immer wieder verlegt worden.  Für mich ist die schönste Ausgabe 1964 im Ostberliner Verlag Rütten und Loening  mit einem klugen Nachwort des Weltbühne- und Ossietzky-Autors Lothar Kusche  und einem wunderbaren Einband von Werner Klemke erschienen: »Überall ist  Wunderland«.  
Wurzen feiert  gegenwärtig den 125. Geburtstag mit einem »Ringelnatzjahr«. Ein  »Ringelnatzgäßchen« wurde bereits beschildert, hatte der alte Spötter doch  einmal gedichtet: Ich habe meinen  Soldaten aus Blei/ Als Kind Verdienstkreuzchen eingeritzt./ Mir selber ging  alle Ehre vorbei,/ Bis auf zwei Orden, die jeder besitzt.// Und ich pfeife  durchaus nicht auf Ehre./ Im Gegenteil. Mein Ideal wäre,/ Daß man nach meinem  Tod (grano salis)/ Ein Gäßchen nach mir benennt, ein ganz schmales/ Und krummes  Gäßchen, mit niedrigen Türchen/ Mit steilen Treppchen und feilen Hürchen,/ Mit  Schatten und schiefen Fensterluken.// Dort würde ich spuken. 
Ein Treff mit besagter Weiblichkeit befindet sich übrigens  heute ganz in der Nähe. Ich stelle mir Hans Bötticher alias Joachim Ringelnatz  mit einem Whiskyglas in der Hand vor, wie er sich verblüfft und amüsiert  zugleich die Augen reibt.                                    
Dieter Götze
  
Herbert Tucholski 
Ebay deckt  auf: Kurt Tucholsky hatte einen Sohn, und der hat gemalt! 
Tatsächlich bietet da jemand aus einem Nachlaß eine  »signierte originale Aquatinta-Radierung« an, die von dem Berliner Künstler  »Tucholsky Herbert« stamme. Da kann man nur zugreifen, denn »Herbert Tucholsky  ist 1896 in Konitz/Westpreußen geboren und starb 1984 in Berlin, er war der  Sohn des berühmten Schriftsteller (sic!) Tucholsky«. 
Daß Kurt Tucholsky demnach bereits im zarten Knabenalter  von sechs Jahren, also parallel zu seiner Einschulung, Vaterfreuden erlebte,  wundert uns nicht, bei ihm war man ja vor Überraschungen nie sicher. Die  Beschreibung des Werkes könnte allerdings die Vermutung nähren, daß Herberts  Schaffen bei Vater Kurt anfangs nicht auf ungeteilte Zustimmung stieß, denn  »das Blatt hat an der rechten Außenwand leichte Wallungen und die obere rechte  Außenseite kleine Knicke«. Aber wir wollen Vater Kurt nichts Böses  unterstellen, schon gar keinen gewalttätigen Umgang mit dem Werk seines  angeblichen Sprößlings. 
Auch ohne die große Verwandtschaft war Herbert Tucholski zu  DDR-Zeiten ein bekannter Künstler. Er publizierte übrigens auch ab und zu in  der Weltbühne, nicht nur über Malerei  und Kunst. 1969 erschien beispielsweise ein Artikel über Sophie Liebknecht.  Schon in Heft 33/67 hatte er unter dem Titel »Ich heiße Tucholski« bedauernd  klarstellt, daß er Kurt Tucholskys nicht zum Vorfahren hatte. Dabei erwähnte er  auch, welchen Gefährdungen er im »Dritten Reich« durch die Namensähnlichkeit  ausgesetzt war. 
 
Wolfgang Helfritsch  
Mikrozensus 
Die mir  bekannte Anita Jeske erhielt die Nachricht, auf sie sei das Los gefallen. Aber  sie hatte nicht Lotterie gespielt. Sie bekommt keinen Cent. Vielmehr teilte ihr  das Statistische Landesamt mit, sie gehöre zu dem Hundertstel der Bevölkerung,  das für den Mikrozensus ausgelost sei. Anita Jeske ist darüber nicht glücklich,  im Gegenteil. Sie ist nun verpflichtet, vier Jahre lang vier- bis fünfmal im  Jahr 40 Seiten Fragebogen auszufüllen, ohne für den Zeitaufwand entschädigt zu  werden. Sie muß Auskunft geben, an welchen Straßen sie gewohnt, welche Schulen  sie besucht, welchen Operationen sie sich unterzogen hat. Manche Fragen  empfindet sie als unangenehm, manche als unverschämt. Was geht es das  Statistische Landesamt an, wer sie besucht (Namen, Geburtsdaten)? Sie wollte sich  verweigern, wurde aber belehrt, daß sie dann Strafe zahlen müsse, desgleichen  wenn sie falsche Antworten gebe; im Wiederholungsfall verdoppele sich die  Strafe von 250 auf 500 Euro. Eine Petition an den Bundestag war erfolglos, Als  Anita Jeske mit Pfändung bedroht wurde, gab sie nach. Jetzt erniedrigt sie  sich, gibt jede Auskunft, die der Staat von ihr fordert, macht sich selbst zum  gläsernen Menschen und sorgt sich obendrein, welchen Mißbrauch der Staat mit  all den Daten treiben könnte – was der Staat niemals eingestehen wird.  
 
Eckart Spoo  
Wann beginnt das Leben? 
Endlich! Eines  der größten Rätsel des Lebens ist gelöst. Das Leben beginnt nicht, wenn  Samenzelle und Ei etwas miteinander beginnen. Also waren alle Abtreibungsgegner  immer im Irrtum. Und werden es bleiben. Auch Rußlands Meisterpoet,  Nobelpreisträger Boris Pasternak, war auf dem poetischen Holzwege. Der Dichter  meinte, daß mit dem selbständigen Denken und dem entsprechenden Handeln, das  heißt mit dem Erwachsenwerden, das Leben beginne. Der Schriftsteller war  sicher, ein Vierzehnjähriger zu sein. Und das hatte etwas Sympathisches. Doch  derart frühzeitig, so die neueste Erkenntnis, kann das Leben nicht beginnen. Da  muß noch was draufgelegt werden. Wie das nennen? Lebenszeit wäre die  unpassendste Vokabel. Die bundeshauptstädtische Zeitung mit dem Namen der Stadt  titelte in ihrer Beilage »Abitur 2008«: »Abitur bestanden – jetzt beginnt das  Leben«. Na bitte, nun ist es heraus! Offen ist nur noch die Frage: Wann beginnt  das Leben derjenigen, die kein Abitur gemacht und bestanden haben? Logisch  geschlußfolgert beginnt für sie kein Leben. Alles bleibt, wie es ist: ein  Existieren. Hoffen auf Wiedergeburt und dann aufs Abitur. Ohne Abi kein Leben –  ahnten wir schon immer.  
  Bernd Heimberger 
Press-Kohl 
Im Berliner Kurier wurde der TV-Film »Ghost  of Mars« angepriesen: »Im Jahr 2176 beuten die Menschen die Rohstoffe des Mars  aus. Eine geheimnisvolle Macht aus dem Planeteninneren ergreift Besitz von den  Minenarbeitern und verwandelt sie in mordgierige Zombies. Ein Trupp von  Polizisten stellt sich ihnen in den Weg. Für Genrefans unterhaltsam.«  
Sind Sie, geduldiger Leser, vielleicht ein Genre-Fan? Wenn  ja: ein Fan welchen Genres? 
Handelt es sich bei dem Drama »Geister vom Mars« um ein  Werk des Planeten-Genres, des innenplanetarischen oder des  Rohstoff-Ausbeuter-Genres? Um einen Zombie- und/oder Polizisten-Film? 
  Auf jeden Fall wohl um ein Gebilde aus dramaturgisch kaltem  Kaffee, wegzuschütten vor der Kostprobe. 
 
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In der B. Z., die sich in ihrer bescheidenen  Art »Berlins größte Zeitung« nennt, war unter den Stellenangeboten (vor einer  Telefon-Nummer) dieser ebenso lapidare wie unbegreifliche Text zu lesen: 
  »Imbiß Ilse für Wedding«. 
Empfiehlt sich da eine Imbißstube namens Ilse den hungrigen  Arbeitsuchenden im Berliner Stadtbezirk Wedding? 
Möglicherweise ist es aber eine nebelhafte buddhistische  Formel, magisch wie »Om mani padme hum«, und man muß, um sie zu enträtseln,  mindestens zwei Jahre in einer jener 150 Yoga-Schulen studieren, die wir  glücklicherweise in Berlin haben. 
 
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»Schon gehört,  »fragte der Berliner Kurier kürzlich,  »daß Schauspielerin Katrin Saß (51) der Überzeugung ist, daß Leute, die die  Schauspielerei als Beruf wählen, ›einen Sprung in der Schüssel haben? Die  Leute, die diesen Beruf wählen, neigen zu Depressionen und Hypersensibilität‹,  sagt sie.« 
Katrin Saß, die die Schauspielerei als Beruf wählte, muß es  ja wissen. 
Da ich Frau Saß nur von der Leinwand und vom Bildschirm  kenne, möchte und kann ich mich über den Zustand ihrer Schüssel nicht äußern. 
 
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Aus dem  Berliner Polizeibericht vom 4. Juli 2008: »Unbekannte haben gestern Morgen in  Kreuzberg eine Mülltonne für Papier angezündet. Die Polizei vermutet  Brandstiftung.« Sie könnte recht haben. 
    Felix Mantel 
   
Erschienen in Ossietzky 16/2008 
           
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