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Bevor der 1820 in Barmen geborene Engels seine Lehre im verhaßten »Krämerhandwerk« antrat, hatte er mit seinem Vater eine gemeinsame Geschäftsreise nach Manchester unternommen. Die beiden hielten sich vom 22. Juli bis zum 7. August 1838 in England auf und fuhren dann mit einem Dampfschiff nach Cuxhaven. Als Vater und Sohn den deutschen Hafen am Freitag, dem 10. August 1838, gegen 5 Uhr morgens erreicht hatten, warteten sie im bequemen Bade- und Logierhaus gleich neben dem Leuchtturm bei der Alten Liebe auf das private Fuhrwerk, das sie nach Bremen bringen sollte. Die Fahrt führte über sandige Wege zunächst nach Bremerhaven – allein die Bewältigung dieses Streckenabschnittes dauerte gute fünf Stunden. Was wunder, daß Vater und Sohn Engels erst abends gegen 19 Uhr die Hansestadt erreichten. Nachdem die Kutsche die beiden klassizistischen Wachthäuser der Ansgariitor-Wache passiert hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis sie am Domshof anlangten, wo sie im Hotel »Stadt Frankfurt« abstiegen. Der nach dem Sitz des Deutschen Bundes benannte, fünfachsig gebaute Komplex zählte damals mit dem benachbarten »Lindenhof« zu den vornehmsten Hotels Bremens. Im August 1826 hatte hier übrigens Wilhelm Hauff, der Verfasser der Phantasien im Bremer Ratskeller, genächtigt. Der in Barmen (heute: Wuppertal) aufgewachsene Friedrich Engels blieb für mehr als zweieinhalb Jahre in der damals rund 50.000 Einwohner zählenden Hansestadt. Seine Privatadresse lautete: St. Martini Kirchhof Nr. 2, seine Kontoradresse: Martinistraße Nr. 11. Beide Bauten sind nicht erhalten. Die herrliche Rokokofassade des Kaufmannshauses wurde nach dem Krieg vor die ersten beiden Geschosse des Bürobaus Martinistraße 27 gesetzt, wo sie bis heute auch an den berühmten Mann erinnert, der sie einst täglich vor Augen hatte. Dieser Aufenthalt wurde lediglich durch eine vierwöchige Reise in die Heimat im Mai/Juni 1840 unterbrochen. Für die Entwicklung seiner fundamentalen Kapitalismus- und Religionskritik wurde die Bremer Zeit entscheidend. Hier startete er einen regen Briefverkehr, hier kaufte und las er unbeaufsichtigt aktuelle Literatur, Streitschriften und Journale, hier beschäftigte er sich immer intensiver mit den Fragen der Zeit, hier vertiefte er sich in politische, wirtschaftliche, technische, literarische, philosophische und religiöse Themen, hier schloß er sich der politisch-literarischen Bewegung des Jungen Deutschland an, hier wurde er zum Junghegelianer und entwickelte eine für sein Alter erstaunliche Beobachtungsgabe und klare Urteilskraft, hier schärfte und schliff er seinen Stil, hier trieb er Sport und duellierte sich und kostete so ziemlich sämtliche weltlichen Genüsse aus, die damals im Ratskeller, in der Union von 1801 und an anderen gastlichen Orten offeriert wurden. Das vormärzliche Bremen bot dem hochbegabten jungen Mann Bedingungen, die für einen nachgerade unglaublichen Entwicklungssprung mitentscheidend waren: einen Lehrherrn, der ungewöhnlich tolerant war (der erfolgreiche Großhandelskaufmann und sächsische Konsul Heinrich Leupold), Pensionseltern, die ihm alle erdenklichen Freiheiten ließen (der pietistische Pastor Georg Gottfried Treviranus und dessen Gattin Catharina Mathilde), eine Zensurkommission, die sich merklich zurückhielt, eine gepflegte Musikkultur und Gesellschaften wie die Union von 1801, die die Bildung junger Kaufleute förderte. Das Theater- und Musikleben Bremens interessierte den musisch begabten Lehrling Engels außerordentlich. In einer seiner Korrespondenzen urteilt er: »Die beste Seite Bremens ist die Musik. Es wird in wenig Städten Deutschlands so viel und so gut musiziert wie hier. Eine verhältnismäßig sehr große Anzahl von Gesangvereinen hat sich gebildet, und die häufigen Konzerte sind immer stark besucht.« Friedrich Engels lebte in seiner Bremer Zeit zwei Leben – das eines freundlich zugewandten, warmherzigen Kommis, Logiergastes und trinkfesten Zechgesellen sowie das anonym oder unter Pseudonym geführte, geistige Parallelleben als literatur-, gesellschafts- und religionskritischer Literat und Journalist. Für ersteres war der Sohn einer angesehenen und ökonomisch abgesicherten Unternehmerfamilie bestens vorbereitet und erzogen worden – er hatte gute Manieren, verfügte über ausreichend Selbstbewußtsein und Charme im Umgang mit seinem Prinzipal wie auch mit seinen »Adoptiveltern« und mit bremischen Philistern, und er war diszipliniert genug, die ihm abverlangten, ungeliebten kaufmännischen Herausforderungen – »Fakturabücher und Konti« – korrekt zu meistern. Für letzteres war er ebenso gut präpariert durch die ihm eigene Neugier, schnelle Auffassungsgabe und Gradlinigkeit, durch vielfältige geistige Anregungen, die er seinem gelehrten Großvater und guten Schullehrern verdankte, durch die frühe und unmittelbare Anschauung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Manufakturarbeiter im Tal der Wupper und nicht zuletzt durch seine künstlerisch-literarische Begabung. Engels konnte so anschaulich schreiben wie wenige in seiner Zeit. Er genießt nicht zu Unrecht den Ruf, der Didaktiker der Ideen der Arbeiterbewegung zu sein. Erstaunlich, wie der Kommis Friedrich Engels es verstand, sich hinsichtlich seines geistigen Parallellebens in Bremen nicht in die Karten schauen zu lassen. So entging seinen Pensionseltern Treviranus, zu wessen Geistes Kind ihr Logiergast sich mauserte und vom orthodoxen Bibelglauben abfiel. Auch Konsul Leupold hatte, so scheint es, nicht den leisesten Schimmer von den kritischen religions-, literatur- und polit-ökonomischen Anschauungen, die der Zögling aus Barmen auf seinem Kontorbock entwickelte und – bei jeder sich bietenden Gelegenheit – schriftlich ausarbeitete. Friedrich Engels reifte in Bremen zu einem bedeutenden Publizisten des Vormärz heran. Unter dem Pseudonym Friedrich Oswald verfaßte er zahlreiche Artikel für Gutzkows Telegraph für Deutschland sowie für die beiden damals einflußreichen Cotta’schen Zeitungen Morgenblatt für gebildete Leser und Augsburger Allgemeine Zeitung, für die auch Heinrich Heine und Ludwig Börne schrieben. Seine Artikel zeugen von einer für sein Alter erstaunlichen Weitsicht. Als beispielsweise 1840 in England das erste seetüchtige Schiff mit Schraubenantrieb erfolgreich getestet wurde, war Engels einer der ersten, die in der deutschen Presse darüber berichteten – ausführlich und ungemein visionär: »Man geht hier jetzt mit einem Plane um, dessen Ausführung von den wichtigsten Folgen, und nicht allein für Bremen, sein würde. Ein hiesiger geachteter junger Kaufmann ist vor Kurzem von London zurückgekehrt, wo er sich über die Einrichtung des Dampfschiffes Archimedes genau unterrichtet hat. Er geht jetzt damit um, die neue Erfindung bei einem projektierten Dampfschiffe anzuwenden, das eine rasche und beständige Kommunikation zwischen New York und Bremen vermitteln soll. […] Die Zeit wird nicht lange mehr auf sich warten lassen, wo man aus jedem Teile Deutschlands in vierzehn Tagen New York erreichen, von dort aus in vierzehn Tagen die Sehenswürdigkeiten der Vereinigten Staaten beschauen und in vierzehn Tagen wieder zu Hause sein kann. Ein paar Eisenbahnen, ein paar Dampfschiffe, und die Sache ist fertig.« Obwohl Friedrich Engels, wie er einem Freund offenbarte, in der Hansestadt einen »renommistischen studiosistischen Anhauch« pflegte – sozusagen als Ausgleich dafür, was ihm sein Vater verwehrt hatte: das ersehnte Studium an einer Universität –, renommierte er öffentlich in keiner Weise mit dem guten Ruf, den er ab 1839 unter dem Pseudonym Friedrich Oswald bei vielen Lesern, namhaften Redakteuren und Herausgebern gewann und festigte. Der von einer gehörigen Portion Selbstbeherrschung begleitete autodidaktische Studier- und Schreibeifer korrespondierte mit einer für einen tatenfrohen jungen Mann sicherlich nicht leicht zu wahrenden Disziplin beim konsequenten öffentlichen Verschweigen der Hervorbringungen seines zweiten Ich. Lediglich seinen besten Schulfreunden gegenüber, auf deren Verschwiegenheit er sich verlassen konnte, erwähnte er seine religions-kritischen Gedanken und literarischen Erfolge. Aus Engels’ Bremer Zeit sind bisher mehr als 40 eigenhändig geschriebene Briefe (teilweise mit literarischen Anlagen und Zeichnungen versehen) sowie über 30 von ihm verfaßte, zumeist unter Pseudonym veröffentlichte Gedichte, Essays und Korrespondenzen nachgewiesen und der Nachwelt zugängig gemacht worden. Sie bezeugen seinen rapiden intellektuellen, geistigen und sozialen Entwicklungsprozeß in der traditionsreichen Hansestadt. Als er sie verließ, hatte er sich im Hinblick auf Großgrundbesitzer bereits eine Etappenposition auf dem Weg zur sozialistischen Anschauung erarbeitet, die nach wie vor aktuell ist: »Als ob eine Generation das Recht hätte, über das Eigentum aller künftigen Geschlechter, welches sie augenblicklich genießt und verwaltet, unbeschränkt zu verfügen, als ob die Freiheit des Eigentums nicht zerstört würde durch ein Schalten mit demselben, welches alle Nachkommen dieser Freiheit beraubt …« Von Johann-Günther König erscheint ein Buch über »Friedrich Engels. Die Bremer Jahre« im Kellner Verlag, 608 Seiten, 39.90 €
Erschienen in Ossietzky 16/2008 |
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