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Auch die Bahn AG wurde erwähnt, die dem »Zug der Erinnerung« an die deportierten jüdischen Kinder nur unter dem Druck der Öffentlichkeit Passage und Aufenthalt gewährte – gegen Bezahlung. Nun die Charité, das große Berliner Universitätsklinikum. 13 Mediziner, Historiker, Politologen und Soziologen analysieren in einem jüngst erschienenen Buch die Beteiligung der Medizinischen Fakultät und der Charité an der Rassen- und Gesundheitspolitik der Nazis und an deren Verbrechen. Dabei können sie sich auf das Charité-Institut für Geschichte der Medizin stützen. Es ist ein ehrliches, schonungsloses Buch. Die Medizinische Fakultät mit ihrem außerordentlichen wissenschaftlichen und materiellen Potential hatte im Deutschen Reich stets eine Leitfunktion in Forschung, Lehre und medizinischer Praxis. Um so größer war die Verantwortung ihrer führenden Wissenschaftler und Ärzte für die Realisierung der Rassen- und Vernichtungspolitik der Nazis, für massenhafte Euthanasie und Zwangssterilisationen, Menschenversuche an behinderten Kindern, KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen, für Massenabtreibungen an Zwangsarbeiterinnen, für die Forschung an Leichen Hingerichteter, für die Planung der Ausrottung der Bevölkerung in Osteuropa und des Genozids an den Juden. Die Autoren verweisen auf die enge personelle Verflechtung der Fakultät mit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Militärärztlichen Akademie, dem Heeressanitätswesen und den Strukturen der SS einschließlich der KZ-Ärzte. Die wohl wichtigste Aussage des Buches ist die Klarstellung der willentlichen und wissentlichen Anpassung der führenden Wissenschaftler an die Nazidiktatur. 1933 war eine der ersten Maßnahmen die Säuberung der Charité von Juden und anderen »Nichtariern«, von Kommunisten und Gewerkschaftern. Binnen kurzem wurden von 331 Hochschullehrern 135 (41 Prozent) aus ihren Ämtern entfernt. Diese »Säuberung« war nicht von außen erzwungen, die Mitglieder der Fakultät waren eilfertig dazu bereit. Eine Mitteilung des Preußischen Innenministeriums genügte, um bei ausdrücklich betonter Loyalität der Fakultät innerhalb weniger Tage die Juden zu »beurlauben« und schließlich zu entlassen. Es herrschte gegenseitiges Einvernehmen. Maßgebende Fakultätsmitglieder (Ordinarien) pflegten, wo sich die Gelegenheit bot, persönliche Beziehungen zu NS-Größen, auch zu Hitler, Goebbels, Rust und Himmler. »Kooperationspartner« waren zum Beispiel Hitlers Euthanasiebeauftragter Karl Brandt, dessen Stellvertreter Paul Rostock und die KZ-Ärzte oder Forschungsleiter Josef Mengele (Auschwitz), Karl Gebhardt (Ravensbrück), Robert Neumann (Sachsenhausen, Buchenwald und Auschwitz), Siegfried Ruff (Dachau), Joachim Mrugowsky, Otmar Freiherr von Verschuer und Gerhard Rose. Die meisten waren Schüler oder Mitarbeiter von Mitgliedern der Fakultät wie Ferdinand Sauerbruch, Robert Rössle, Paul Diepgen und Karl Bonhoeffer. Im Nürnberger Ärzteprozeß 1947 wurden Brandt, Mrugowsky und Gebhardt zum Tode verurteilt und hingerichtet. Vier Institutsdirektoren seien hier exemplarisch genannt: Karl Bonhoeffer (1868–1948), Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik (bis 1938 und erneut von 1945 bis 1947), verfocht die Sterilisation von »Erbkranken«, die Verbesserung der »Erbgesundheit des deutschen Volkes«, die »Rassenverbesserung« und »Gute Volksaufzucht«. Zwar lehnte er Zwangssterilisation und Masseneuthanasie ab, billigte aber das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses bei nachgewiesener Indikation und beteiligte sich an der Erfassung und Meldung »erbkranker« Patienten. Bonhoeffer wirkte an Erbgesundheitsgerichten mit, propagierte als Herausgeber von Fachzeitschriften und in Lehrgängen die Sterilisationspolitik und rechtfertigte auch nach 1945 noch die »genetische Aufbesserung späterer Generationen«. Er war in die Pläne zum 20. Juli eingeweiht, seine Söhne Klaus und Dietrich sowie zwei Schwiegersöhne wurden hingerichtet, er selbst wurde nicht verfolgt. Georg August Wagner (1873–1947), Direktor der Frauenklinik von 1928 bis 1945: In seiner Klinik wurden Röntgen- und Radiumkastrationen eingeführt, die extreme körperliche und psychische Schäden zur Folge hatten. Viele Frauen leisteten Widerstand und wurden deshalb vor der Operation zwangsweise narkotisiert, zum Teil arglistig. Mit seinem Kollegen Walter Stoeckel bereitete er den Weg zu massenhaften Zwangssterilisationen (etwa 400.000 innerhalb zehn Jahren). Hermann Stieve (1886–1952), von 1935 bis zu seinem Tode Direktor der I. und II. Anatomischen Instituts, begrüßte als deutschnationaler Antirepublikaner Hitler als Retter der »deutschen Ehre«. Sein Forschungsgebiet waren Fortpflanzungsorgane. Um frisches menschliches Gewebe zu erhalten, nutzte Stieve bedenkenlos die Leichen in Plötzensee Hingerichteter, darunter der Widerstandskämpferinnen Cato Bontjes van Beek, Hilde Coppi, Mildred Harnack und Libertas Schulze-Boysen. Er untersuchte auch den Einfluß von Angst und Schrecken auf den weiblichen Zyklus und ließ sich deswegen über Verfahrens- und Haftumstände detailliert berichten. Seine Abbildungen wurden noch bis in die 1990er Jahre in deutschen Lehrbüchern abgedruckt. Einer der Autoren, Cay-Rüdiger Prüll, befürwortet weitere Analysen zur Klärung der Auswirkungen des Ordinariensystems auf das Verhältnis von Politik und Wissenschaft – nicht nur damals, sondern auch heute. Ein einleuchtender, unterstützenswerter Vorschlag. Sabine Schleiermacher/Udo Schagen (Hg.): »Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus«, Ferdinand Schöningh Verlag, 272 Seiten, 19.90 €
Erschienen in Ossietzky 16/2008 |
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