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Die Linke allerdings kritisierte den Vertrag von Lissabon als Ausdruck einer ihrer Meinung nach unsozialen und militaristischen Politik (vgl. zu den Haupteinwänden den Aufsatz von Werner Schwab »Ein Europa der Kälte« in Ossietzky 13/2008). Von einem gänzlich anderen, nämlich nationalkonservativen Ansatz her formulierte der CSU-Politiker Peter Gauweiler (der in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Außenseiterrolle einnimmt) seine Verfassungsklage gegen den Vertrag von Lissabon: Gauweiler sieht die Eigenstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet – mit dieser Grundmelodie hatte sein Rechtsvertreter Karl Albrecht Schachtschneider schon (vergeblich) die Einführung des Euro und die Verträge von Maastricht vor dem Bundesverfassungsgericht bekämpft. Neuerdings mehren sich aber die Stimmen, die aus einem weiteren, speziellen Grund die EU-Politik immer skeptischer sehen: aus Sorge um die künftige Qualität des Grundrechtsschutzes. Unstrittig hat das Bundesverfassungsgericht in einer nunmehr schon jahrzehntelangen Rechtsprechungspraxis hohe Maßstäbe gesetzt. Gerade die vielen Entscheidungen, mit denen Karlsruhe versucht hat, den Marsch in den Überwachungsstaat aufzuhalten (beispielsweise Urteile zum großen Lauschangriff, zu heimlichen Online-Durchsuchungen, zur automatisierten Erfassung von Kraftfahrzeug-Kennzeichen), haben bei Bürgerrechtlern großes Vertrauen in das höchste deutsche Gericht wachsen lassen. Dasselbe Maß an Respekt muß sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte trotz ebenfalls durchaus beachtlicher Urteile erst noch verschaffen. Daher wird mit Spannung erwartet, ob das Bundesverfassungsgericht die Auseinandersetzung um die Vorratsdatenspeicherung nutzen wird, um seine eigene Kompetenz für den Grundrechtsschutz zu festigen. Zu Recht sind außerordentliche viele Verfassungsbeschwerden (35.000 – die höchste Zahl seit Bestehen des Gerichts) erhoben worden, weil es nicht hinzunehmen ist, daß Milliarden Datensätze über die Telekommunikation unverdächtiger Bürger gespeichert werden. Die Regelung zur Vorratsdatenspeicherung beruht aber auf einer Richtlinie der EU (zu der es übrigens ohne Zustimmung der Bundesregierung nicht gekommen wäre). Solche Richtlinien müssen zwingend in nationales Recht umgesetzt werden. Die Frage lautet: Gilt dies auch, wenn durch die Umsetzung einer EU-Richtlinie das Grundgesetz verletzt wird? Und wer stellt das fest? Ist das noch Sache des Bundesverfassungsgerichts? Oder geht Europarecht und geht europäische Gerichtsbarkeit vor? Die Chancen für die Kläger in Karlsruhe stehen durchaus günstig. Denn der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat am 31. Mai bei einem Vortrag in der Politischen Akademie Tutzing betont, daß bestimmte Eingriffe in die Privatsphäre nicht lediglich Verstöße gegen einzelne Grundrechte wie etwa das Fernmeldegeheimnis sein könnten, sondern sogar als Verletzung der Menschenwürdegarantie des Artikels 1 GG zu bewerten seien. So hat das Gericht in dem Urteil zu heimlichen Online-Durchsuchungen entschieden. Wenn es dieselbe Position zur Vorratsdatenspeicherung einnimmt, werden die Verfassungsbeschwerden erfolgreich sein. Denn auch durch europarechtliche Vorgaben darf es zu keinem Verstoß gegen die Fundamentalnorm des Artikels 1 GG kommen. Einen solchen Vorrang des Europarechts wird Karlsruhe nicht akzeptieren. Somit bleibt zumindest bei Verletzungen der Menschenwürde die bewährte Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts erhalten. Insoweit hat also Karlsruhe derzeit noch die Kompetenz, wie Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 24. Mai festgestellt hat, »in die europäischen Dinge einzugreifen«. Ob dies so bleibt, ist fraglich. Prantl schreibt weiter: »Der Vertrag von Lissabon nimmt nämlich dem Gericht diese Kompetenz.« Ein Urteil über den Vertrag sei »für dieses Gericht also die letzte Chance, seine eigene Entmachtung zu ver- hindern«. Auch bei den Parteien, die wie CDU/CSU, SPD und FDP grundsätzlich für die Europäische Verfassung und den Lissabonner Vertrag eingetreten sind, dürfte es einen breiten Konsens geben, den Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht zu bewahren. Dasselbe gilt für die Bürgerrechtsorganisationen. Die Zäsur, die durch die Volksabstimmung in Irland eingetreten ist, sollte dazu genutzt werden, zu überlegen, wie dieses Ziel einer Qualitätssicherung des Grundrechtsschutzes erreicht werden kann. In diesem einen Punkt sollten sich Befürworter und Kritiker des Lissabonner Vertrags einig sein.
Erschienen in Ossietzky 14/2008 |
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