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Sie sollten von der verhängnisvollen Rolle ablenken, die große Teile des mittleren Bürgertums aus der Handwerker- und Kaufmannschaft ebenso wie unter den Bauern für die Entstehung der Nazi-Bewegung und den Bestand des Nazi-Regimes bis weit in die Zeit des Vernichtungskriegs gespielt hatten. Nach 45 waren sie im Grunde ihres Herzens immer dagegen gewesen. Ihre millionenfache »Entnazifizierung« verkam bald zur bloßen Formalität, und die westlichen Besatzungsmächte ließen es zu. Die braven Mittelständler wurden ja dringend für den kapital- und marktkonformen Aufbau der BRD als Bollwerk gegen die »Sowjetzone« und den dort herrschenden »Kollektivismus« gebraucht. Adenauers Partei, deren C Versöhnung und Vergebung signalisierte, sorgte dann mit Ludwig Erhard und seiner angeblich »Sozialen Marktwirtschaft« dafür, daß der Staat die Geschäfte förderte. Auch Adenauers Erben nahmen immer für sich in Anspruch, für »die Mitte« zu sprechen, worunter dann allerdings nicht mehr allein die Selbständigen verstanden wurden, sondern auch auskömmlich verdienende Angestellte und Facharbeiter. Viele Klein- und Mittelbetriebe wurden nach und nach vom Großkapital aufgesogen. Auf dem jüngsten CDU-Parteitag in Dresden proklamierte Angela Merkel unter dem Jubel der Delegierten: »Hier ist die Mitte, und in der Mitte sind wir und nur wir.« Zehn Jahre zuvor hatte die Union in der Mitte Konkurrenz bekommen: Der wahlkämpfende Gerhard Schröder hatte 1998 die vorrangige Zuständigkeit seiner Partei für die Interessen der Arbeiter und der Unterschicht entsorgt und die SPD als »Partei der neuen Mitte« ausgerufen. Noch im Bremer Entwurf für ein neues Parteiprogramm erklärten sich die Sozialdemokraten zur »Partei der solidarischen Mitte«. Auf dem entscheidenden Parteitag in Hamburg im Oktober 2007 aber war mit Rücksicht auf die neu aufgetauchte Konkurrenz in Gestalt der Partei Die Linke wiederum ein anderer Werbetitel nötig, nun firmiert die SPD als »Linke Volkspartei« und hat das Label »Mitte« fallengelassen. Durch Schröders Agenda-Politik ist die einst gefeierte »Neue Mitte« in arge Bedrängnis geraten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin veröffentlichte am 5. März 2008 einen Bericht unter der Überschrift »Schrumpfende Mittelschicht – Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen?« Zur Mittelschicht rechnet das DIW alle diejenigen, die zwischen 70 und 150 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung haben. Deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ist zwischen 2000 und 2006 von 64 auf 54,1 Prozent zurückgegangen, und zwar überwiegend durch Abstieg in die Unterschicht: Der Anteil der »Armutsgefährdeten«(mit weniger als 70 Prozent des mittleren Einkommen) nahm von 17,8 Prozent auf 25,4 Prozent zu, also um 7,6 Prozentpunkte; Hartz IV, Riester-Rente und Minijobs trugen dazu bei. Andere schafften im selben Zeitraum den Aufstieg und zählen jetzt zu den »Einkommensstarken«, die mehr als 150 Prozent vom Durchschnitt verdienen; deren Anteil erhöhte sich von 18,2 auf 20,4 Prozent, also um 2,2 Prozentpunkte. Die Bilanz beläuft sich auf dreieinhalb mal mehr Ab- als Aufsteiger. Beunruhigender noch als das Schrumpfen der Mittelschicht und deren Abrutschen nach unten ist das Wachstum des Angstpotenzials. 1991 hatten sich in der Bevölkerung rund 45 Prozent »keine Sorgen« um die eigene wirtschaftliche Situation gemacht. 2005 gaben nur noch 21 Prozent an, wirtschaftlich sorgenfrei zu sein. Daß die Unsicherheit vor allem in der Mittelschicht zunimmt, ergibt sich aus einer schichtenspezifischen Frage des DIW. Danach hatten sich 1991 zehn Prozent aus der Mittelschicht »große Sorgen« um die eigene wirtschaftliche Situation gemacht. 2005, als schon viele nach unten durchgerutscht waren, machten sich unter den im Mittelfeld Verbliebenen 26 Prozent »große Sorgen«. Wie werden die Abstiegssorgen verarbeitet? Viele Gefährdete geraten in Dauerängste und suchen hektisch nach individuellen Sicherheiten, die der Kapitalismus nicht geben kann. Die neoliberale Ideologie verstärkt die Furcht vor Abstieg und Versagen und instrumentalisiert sie, um die Beschäftigten unter wachsenden Leistungsdruck zu setzen. Solidarität zerbröselt, Mobbing nimmt zu, psychische Störungen werden zur Normalität. Die Durchsetzungsfähigen versuchen, ihre Ängste durch forsches Auftreten und Härte zu überspielen. Unter den Intellektuellen verbreitet sich Zynismus, manche pflegen ihre Ressentiments wie einst am Ende der Weimarer Republik der vom sozialen Abstieg bedrohte Arzt und Dichter Gottfried Benn: »Leute in Dreizimmerwohnungen erhalten den Staat. Die drunter und drüber nutzen ihn aus.« Kein Wunder, daß auch Benn für einige Zeit zu den Unterstützern der Nazi-»Revolution« gehören wollte, bis ihm nach dem Röhm-Putsch nur noch höchst sublimierte Skepsis und Verachtung fürs gemeine Volk blieb. In Zeiten der neoliberalen Konterrevolution droht sich die Geschichte zu wiederholen. Marc Beise zum Beispiel, leitender Wirtschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung, verfaßte ein erschreckendes Pamphlet, das am 14. Juni unter der Überschrift: »Und was wird aus uns? – Ein Hilferuf aus der Mitte der Gesellschaft« erschien. Einige Zitate daraus: »Den Alten soll ihre Rente sicher sein, das wollen alle. Es wird nur bald keiner mehr da sein, sie zu bezahlen … Die Kranken sollen versorgt werden, am besten zum Nulltarif; aber es werden immer mehr, und sie leben immer länger … Die Umwelt muß gerettet werden; dafür gibt die Kanzlerin Milliarden. Dumm, daß das Ausland nicht auch so spendabel ist.« Welche Fortführung derartigen Räsonierens drängt sich hier auf? Weg mit den unnützen Essern, am besten die Sterbepille für baldiges sozialverträgliches Ableben. Die Kanzlerin Deutschlands möge endlich die Macht übernehmen, EU- und weltweit ... Beises Text ist durchgehend ein Text des Drohens: »Allen soll gegeben werden, wenigstens ein bißchen. Allen – nur nicht mir. Oder, wenn ich das mal klarstellen darf: nur nicht uns. Denn wir sind viele. Und wir nennen uns: die Mittelschicht.« Beises Text ist auch ein Text des Bettelns und Klagens: »Was andern gegeben wird, fehlt mir. Es fehlen Geld und Ideen, es fehlt die Zuwendung… Wir sind auch … sehr, sehr verletzlich.« Und dann kommt die Verklärung der guten alten Zeit: »Es gab einmal eine Zeit, da war die Mitte dem Staat etwas wert … Die Mitte … war die Stütze der Gesellschaft. Unsere Vorgänger in den fünfziger und sechziger Jahren waren nicht rassistisch, nicht überheblich.« Daß sie es in den dreißiger, vierziger Jahren gewesen waren und später alle Schuld leugneten, hat diesem Redakteur in seinem Studium keiner vermittelt. Und er droht weiter: »Heute aber fehlt uns die Perspektive, um wohltuend langmütig zu sein. Wer den Hartz-IV-Empfängern nicht gibt, heißt es, befördert radikale Parteien. Ist es bitte nicht ebenso verhängnisvoll, uns, die Mitte, weichzukochen?« Verhängnisvoll ist, wie hier ein einflußreicher Redakteur der auflagenstärksten überregionalen Abonnementszeitung des Landes, die als liberal gilt, mit dem Extremismus der Mitte droht. Das ist nicht mehr nur präfaschistisch, das ist schon der neu sich formierende Faschismus aus dem Geist der Neoliberalen. Dazu gehören die immer neuen polizei- und militärstaatlichen Ermächtigungen sowie die Heranbildung eines Kämpfervolkes, das sich über die Rechte anderer Völker hinwegsetzt. Die ideologische Aufrüstung hat schon viel geleistet. Im neuen isw-Report 74, herausgegeben vom Münchener Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung, wertet Conrad Schuhler Ergebnisse einer aktuellen Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung aus: In der Gesamtbevölkerung und keineswegs nur in der Unterschicht, sondern bis weit in die Mittelschicht, sind inzwischen rechtsextreme Einstellungen weit verbreitet. »So sind über 26 Prozent der Bevölkerung, also mehr als jeder Vierte, der Meinung, daß Deutschland jetzt vor allem eine einzige starke Partei braucht, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert. … 17,7 Prozent unterschreiben das neoliberale Dogma, daß wie in der Natur auch in der Gesellschaft der Stärkere sich durchsetzen soll. … 37 Prozent, weit mehr als jeder Dritte, glauben, daß die Ausländer nur hierher kommen, um unseren Sozialstaat auszunutzen.« Auch unter Gewerkschaftern ist rechtextremes Potential weit verbreitet: In den »Mittelschichten«, bei den Facharbeitern, fänden sich unter Gewerkschaftsmitgliedern sogar »eklatant mehr rechtsextreme Einstellungen als in der entsprechenden Gesamtbevölkerung«. Schuler gibt zu bedenken, ob hierfür nicht auch die Politik von Gewerkschaftsführungen mitverantwortlich ist, die auf »Co-Management« setzen und die Globalisierungsstrategien der Konzerne unterstützen, ,,wenn nur die Kernbelegschaften als ›Sieger‹ dabeibleiben«. Dieser Opportunismus schlage nun, »da man doch zu den Verlierern geschoben wird oder dies befürchten muß«, in rechtsradikales Verhalten um. »Eine andere Welt ist möglich«, weiß man bei »attac« und den »Sozialforen«, in der Umwelt- und Friedensbewegung – eine andere Welt als die, in der letztlich alle gegen alle Krieg führen. Es ist an der Zeit, aus dem Teufelskreis von Angst, Aggression und Depression auszubrechen und mit dem Aufbau der anderen, demokratischen Welt zu beginnen. Die Herrschaft des Kapitals, das mehr und mehr Menschen ihrer Lebensperspektiven beraubt, muß zurückgedrängt und überwunden werden.
Erschienen in Ossietzky 13/2008 |
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