Zweiwochenschrift
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Scherben
Martin Petersen
Die Abiturienten meiner Stadt meinen, sich auf ihre Zukunft freuen zu sollen. Sie veranstalten einen aufwendigen Umzug. Leider regnet es. Die tropfnassen Ex-Schüler laufen dennoch die Straßen rauf und runter und bemühen sich, fröhlich auszusehen. Auf einem offenen Anhänger haben sie eine Stereoanlage mit riesigen Lautsprechern installiert, aus denen Musik mit dumpf-stampfenden Bässen dröhnt. Dazu strömt weißer Kunstrauch aus einer Maschine. Aber was feiern die Umzügler? Daß sie ein Turbo-Studium machen und dann von einem unbezahlten Praktikum zum nächsten hetzen werden? Daß sie, wenn sie in der Arbeitswelt nicht spuren, mit Hartz IV in die Armut stürzen werden? Traurige Perspektiven für diese Generation. Wollen sie gerade deswegen heute noch einmal miteinander feiern?
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Eine Rentnerin an der Bushaltestelle zu einer anderen: »Haben Sie gelesen, was in der Bild steht? Dabei haben wir unser Leben lang hart gearbeitet, fleißig und anständig.« Das Lügenblatt hat mit der Behauptung aufgemacht, die ältere Generation lebe auf Kosten der jüngeren. Das ist unwahr und tut weh. Aber ist es etwas Neues? Seit Jahrzehnten hetzt Bild gegen Ausländer, Linke, Homosexuelle und andere Minderheiten. Hat sich diese Frau je darüber beklagt? Vermutlich glaubte sie, von der Hetze verschont zu bleiben, weil sie immer »fleißig« und »anständig« war.
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Die deutsche Fußball-Mannschaft spielt an diesem Tag wieder einmal in der Europameisterschaft. Ich weiß das, ohne in die Zeitung zu schauen. Ein Blick vor die Tür genügt: Die schwarz-rot-goldnen Fähnchen an Autos und Hausfassaden haben sich über Nacht wie Karnickel vermehrt. Daß die Mannschaft gewonnen hat, erkenne ich Stunden später am nächtlichen Hupkonzert, das mich aus dem ersten Schlaf reißt. Vor dem Fenster sehe ich Autokonvois, die in beide Richtungen rollen. Beifahrer hängen bis zu den Knien aus den Seitenfenstern, jubeln, schreien. Nächtliche Ruhestörung in Tateinheit mit etlichen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung. So geht das mehr als zwanzig Minuten lang. Junge Deutsche bewegen sich in Formation durch die Straßen, schwenken Fahnen, brechen Gesetze. Niemand greift ein. Sollten dieselben Leute so für den Erhalt des Sozialstaats oder gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr demonstrieren, hätten sie sofort Medien, Politiker und Polizisten am Hals.
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Vor zwanzig Jahren wollte fast jedes kleine Mädchen Tierärztin werden, vor zehn Jahren Bankchefin. Heute erzählt ein Mädchen im Supermarkt einem anderen: »Ich werde später mal einen alten Mann heiraten. Der muß mindestens achtzig sein und steinreich. Nach zwei, drei Jahren ist er tot, und ich hab sein Geld.« Da sind die kleinen Jungen von heute etwas realistischer. Immer öfter sehe ich, wie sie ihren Vätern dabei helfen, kostenlose Anzeigenblätter an alle Haushalte zu verteilen. Früher forderte der Deutsche Gewerkschaftsbund auf seinen Plakaten: »Samstags gehört Vati mir«, nämlich dem Kind. Heute gehört das Kind am Samstag immer öfter seinem Vati und dessen Arbeitgeber.
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Ich studiere noch nach der alten Prüfungsordnung aufs Lehramt an beruflichen Schulen. Alle nachfolgenden Studierenden müssen Bachelor- und Master-Studiengänge belegen. Zeit für eigenes Denken oder politische Aktivitäten bleibt ihnen kaum. Einer meiner Professoren reagiert auf die Belastungen der neuen Studiengänge damit, daß er aus seinem Literaturseminar mehrere Romane streicht und sie durch Kurzgeschichten ersetzt. Was die Umstellung der Studiengänge eigentlich soll, erklärt mir ein Berufsschullehrer: »Du bist Gehaltsstufe A 13, die Master A 11. Das ist fast nur die Hälfte dessen, was du bekommst. Die Schulen können in viel höherem Maß als früher mitbestimmen, wen sie einstellen. Für einen von deiner Sorte bekommen sie fast zwei von den anderen – und die leisten dasselbe wie du. Wer Geld verdienen will, geht sowieso in die Wirtschaft. Wer es als Ingenieur dort nicht schafft, macht seinen Master und geht an die Schulen. Das sind dann Leute, die eigentlich gar keine Pädagogen sein wollen oder können.«
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Bei einem Spaziergang kommt mir eine Kindergartengruppe entgegen. Die Knirpse tragen Uniform: weiße T-Shirts mit aufgedruckter Deutschlandfahne, neben die sie ihre Vornamen geschrieben haben. Einige Kinder tragen Hüte in Schwarz-Rot-Gold, andere schwenken ebensolche Fähnchen. Die Kindergärtnerinnen führen ihre braven Schützlinge in Zweierreihen durch die Stadt. Das ist also die Generation von morgen?
Erschienen in Ossietzky 13/2008
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