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Später entschuldigte sich der Wissenschaftler für seine verächtliche Äußerung, behauptete jedoch gleichzeitig, sie gar nicht von sich gegeben zu haben. Man kann Watson als lebendigen Beweis dafür ansehen, daß die Menschen einfach nicht klüger werden. Manche Lehrer behaupten sogar, der Nachwuchs, mit dem sie es in den Schulen zu tun bekommen, werde immer dümmer. Glaubt man allerdings den Ergebnissen der Intelligenztests, die in den letzten hundert Jahren in aller Welt durchgeführt wurden, werden wir immer intelligenter. Was stimmt denn jetzt? Was Watson angeht: Er glaubt offenbar an die Allmacht des biologischen Erbguts. Als Fachwissenschaftler ist er brillant, im übrigen erbärmlich. Zu den Schülern: Wer als Lehrkraft jedes Jahr denselben Stoff pauken läßt, kann ihn beim dritten Durchgang auswendig und wundert sich dann gelangweilt, warum die Schüler das Lernen so anstrengend finden. Immer dümmer werden also nicht die Schüler, sondern ihre LehrerInnen. Die IQ-Tests aber werden in regelmäßigen Abständen umgeschrieben und erschwert, damit der erreichbare Durchschnittswert konstant bei 100 liegt. Ohne diese Korrektur läge der durchschnittliche Intelligenz-Quotient mittlerweile bei mindestens 130, während ein durchschnittlich intelligenter Mensch des Jahres 1900 heute auf einen Quotienten von nur 70 Punkten käme. Diesen erstaunlichen Zusammenhang entdeckte der gebürtige US-Amerikaner James R. Flynn bereits in den frühen 1980er Jahren. Flynn kämpfte in der McCarthy-Ära gegen die rassistische Benachteiligung afrikastämmiger Amerikaner und zog später mit seiner Frau nach Neuseeland – weil er als politisch linksstehender Moralphilosoph keine Anstellung in den Vereinigten Staaten fand. Als er vor knapp drei Jahrzehnten anfing, IQ-Tests aus Nordamerika, Asien, Europa und aus Ländern der Dritten Welt zu vergleichen, bemerkte er einen klaren Anstieg der Durchschnittsintelligenz. Der Grund für die veränderten Testergebnisse liegt in der verwissenschaftlichten Weltsicht, die sich vor allem in den westlichen Industriestaaten des 20. Jahrhunderts durchsetzte. Nach ihr richteten sich die Entwerfer und Auswerter der Tests. Schaut man sich beispielsweise die Unterkategorien des weit verbreiteten WISC-Tests an, so sind die Testresultate laut Flynn fast nur im Bereich »Ähnlichkeiten« stark angestiegen. Hier werden Fragen gestellt wie »Was haben ein Hund und ein Hase gemeinsam?« Wer die Welt wissenschaftlich sieht, der wird beide Lebewesen als Säugetiere klassifizieren und bekommt die volle Punktzahl. Vor hundert Jahren wäre die Antwort häufig eine andere gewesen: Beide Tiere haben nichts miteinander gemein, denn man braucht den Hund, um den Hasen zu jagen. In manchen Teilen der Welt, wo die Menschen von ihrer natürlichen Umwelt noch nicht so entfremdet sind wie hierzulande, bekommt man heute noch ganz ähnliche Antworten. Sie sind nicht falsch und spiegeln eine naturnahe Betrachtungsweise wider, bringen aber in IQ-Tests keinen Punkt. In dem Maß, in dem Wissenschaft und Technik die unmittelbare Umwelt und damit das Weltverständnis der Menschen wandeln, steigen deren IQ-Werte. So sind die Tests konstruiert. Für unseren Alltag scheint das zunächst nichts zu bedeuten. Doch wenn es stimmt, daß unsere Intelligenz vor allem von Umweltfaktoren abhängig ist, dann können wir alle Menschen klüger machen – indem wir ihre Lebensbedingungen durch höhere Entwicklungshilfe oder einen stärkeren Sozialstaat verbessern. Für manchen Todeskandidaten in US-Gefängnissen bedeutet der Flynn-Effekt den Unterschied zwischen Leben und Tod. Wer nämlich einen IQ-Wert unter 70 hat, darf in den USA seit 2002 nicht mehr hingerichtet werden. In mindestens sechs Fällen konnte Professor Flynn nachweisen, daß zum Tode verurteilte Häftlinge mit einem veralteten Test geprüft worden waren, der ihre Intelligenz viel zu hoch ansetzte – bei einem Wert über 70 Punkten. Solche Wissenschaftler sind mehr als Gold wert, sie verdienen unseren Dank. Professor Watson hat übrigens seine Gene analysieren und das Ergebnis im vergangenen Dezember veröffentlichen lassen. Wie alle Europäer hat auch er Gene afrikanischer Herkunft. Allerdings liegt deren Zahl bei ihm sechzehnmal höher als beim Durchschnittseuropäer. Das beweist zwar überhaupt nichts, eröffnet aber die erfreuliche Vorstellung, daß Watson sich jetzt selbst ein bißchen verachtet – wenn auch aus einem völlig abwegigen Grund.
Erschienen in Ossietzky 10/2008 |
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