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Die große EnteignungOtto Meyer Das neoliberale Projekt einer Privatisierung der Rente ist in Wahrheit ein massives Enteignungsvorhaben. Die bisher hierzulande geltende Gesetzliche Rente diente – und dient in ihren noch nicht demontierten Teilen immer noch – als kollektiver Fond der Arbeiterklasse für die Altersversorgung. Er ist zwar staatlich organisiert, seine Aufgabe ist aber eine solidarische Lohn-Umverteilung innerhalb der eigenen Klasse. Bei vollständiger Privatisierung (Schröders Minister Riester machte nur den Anfang, in Großbritannien und den USA ist man schon weiter) würde auch in der BRD mehr als ein Fünftel der Gesamtlohnsumme aus dem Konsumtionsfond der Arbeiterklasse genommen und der Kapitalakkumulation zugeschlagen. Das wären bald 250 Milliarden Euro jährlich, in vier Jahren also eine Billion. Das Ziel ist eine von der polit-ökonomischen Managerklasse ins Werk gesetzte gigantische Erhöhung der Gewinnrate durch massive Absenkung der Lohnrate. Nicht nur der sogenannte Arbeitgeberanteil an den bisherigen »Lohnnebenkosten« (der ein Teil des Brutto-Arbeitnehmerentgeltes ist, also des tatsächlichen Gesamtlohns) soll auf Null gesenkt und dem Unternehmensgewinn zugeschlagen werden. Auch der andere, bisher hälftige Anteil der Arbeitnehmer, der heute noch als Solidarbeitrag in die Gesetzliche Rentenversicherung zu zahlen ist, soll in Zukunft möglichst zur Gänze in einen Kapitalrentenfond umgeleitet werden. Der Arbeitnehmer müßte dann seine Zahlungen für die Privatrente sogar verdoppeln, wenn er den wegfallenden sogenannten Arbeitgeberanteil ausgleichen wollte. Das wären weitere zehn Prozent Abzug vom bisherigen Bruttolohn – so wie es die sogenannte Riesterrente mit jetzt vier Prozent modellhaft vorprogrammiert. Damit würde aber auch dieser Eigenanteil der ArbeiterInnen dem Gesamtkonsumtionsfond der Arbeiterklasse fehlen und dem der Kapitalakkumulation zufließen. Die Enteignung trifft zunächst die Alten. Sie müssen entsprechend den von der Regierung aufgebauten »Sachzwängen« immer mehr von ihren bisherigen Rentenansprüchen aufgeben, da immer weniger Einzahlungen aus den Solidar-Umlagen zur Verfügung stehen. Nach diesem Muster sind zwischen 2000 und 2007 die Renten schon um mehr als 15 Prozent gesenkt worden (gemessen an der Kaufkraft). Die Regierenden sorgen für weitere Abschmelzung, zum Beispiel durch die »Rente mit 67«. Sie verkünden das auch ganz dreist: Wer heute als Dreißigjähriger nur auf die Gesetzliche Rente setzen wolle, müsse damit rechnen, im Alter zum Sozialfall zu werden. Die Arbeitgeberverbände verlangen die völlige Umstrukturierung der Gesetzlichen Rente zur sogenannten Grundsicherung, die nach den Sätzen der Sozialhilfe aus Steuermitteln finanziert werden soll. Was konsequent wäre; denn sobald das Ziel erreicht ist, daß alle sich privat absichern müssen (sofern sie können), gäbe es keine direkten Lohnbestandteile mehr zum Verteilen. Nur noch aus dem Staatshaushalt, aus allgemeinen Steuern mögen dann die leider noch vorhandenen Alten gnädig gewährte Sozialhilfe empfangen. Millionen Alte werden zu Sozialfällen, die bekanntlich vor jedem Anspruch auf Hilfe die eigenen Besitztümer aufzehren müssen – eine gigantische Massenenteignung. Die Umstellung auf Privatrenten wird sich allerdings auch für die heute noch Jüngeren als fragwürdig bis fatal erweisen. Für die Arbeiterklasse insgesamt bedeutet die Mittelumleitung eine Enteignung ihrer bisherigen Gesamt-Lohnrate zugunsten der Kapitalansammlung, auch wenn den Einzelnen die Verheißung privaten Kapitalerwerbs anziehend erscheinen mag. Bald wird nicht mehr das Ergehen der alt gewordenen KollegInnen als solidarische Verpflichtung empfunden werden, stattdessen wird ein allmählich anwachsendes »Kapital« aus dem privaten Rentenfond das Sinnen und Trachten der Einzelnen beherrschen. Das hat nicht nur Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen den Generationen (»die lästigen, zu vielen Alten fressen unsere Steuern …«), sondern auf das Verhältnis zu allen anderen Arbeitern: »Hoffentlich bin ich mit meiner Kapitalanlage besser aufgestellt als der Kollege!« oder »Warum müssen die beim Konzern X so lange streiken, das drückt doch den Aktienkurs und damit meine dort angelegten Gelder?!« Mit ihren privaten Rentenanwartschaften haben die Beschäftigten auch als einzelne ein Danaergeschenk erhalten. Sie müssen ja für eine ausreichende Absicherung einen erheblich höheren Konsumverzicht leisten. Weiter wäre zu warnen vor den Unwägbarkeiten und Unsicherheiten der Finanzmärkte mit Aktienabstürzen, Fonds- und Banken-Pleiten bis hin zu Währungskrisen. Zumal die Millionen kleinen Rentensparer kaum verhindern können (auch nicht durch professionell arbeitende Fondgesellschaften), daß im Fall einer Finanzkrise sie die Hauptzeche zu zahlen haben. Die privaten Großanleger mit ihren Finanzjongleuren »riechen« eine kommende Krise früher und können ihr Kapital schneller umschichten oder »bunkern«, was den Rentenfonds mit den monatlichen Zuflüssen gar nicht möglich ist. Schon in der Phase, in der noch alles gut zu gehen scheint, ist die materielle Schädigung sowohl der Gesamtarbeiterklasse wie der Einzelnen unvermeidlich, weil sie struktureller Art ist. Kapitallogisch wird ja aus bisher solidarisch umverteilten Lohnbestandteilen, die zum Konsum dienten, ein höherer Mehrwertanteil, der zur Gänze in die Kapitalakkumulation gehen kann. Die nominellen Besitztitel in Händen der ArbeiterInnen sind für diese so lange nichts wert, wie das Geld als Kapital angelegt wird, also über dreißig, vierzig Jahre, in denen für seine Verwendung die Kapitalmanager zuständig sind. In hoch entwickelten Industriegesellschaften wie der hiesigen stünde mit den neuen privaten Rentenfonds aus ehemals Arbeitnehmer-Lohnbestandteilen mehr und relativ billiges, Anlage suchendes Kapital zur Verfügung, das vorwiegend für die Anschaffung immer leistungsfähigerer Maschinen dienen wird. Das Ergebnis wäre die »Freisetzung« weiterer Arbeitskräfte. Wachsende Kapitalzuflüsse könnten zwar zunächst ein Wachstum der Investitionsgüterindustrie bewirken, dem aber bald infolge höherer Arbeitslosigkeit und abgesenkter Renten ein schleichender Niedergang in den Sektoren für Konsumgüter folgen würde. Sobald die Volkswirtschaft stagniert oder in eine Krise gerät, würde das Anlage suchende Kapital überwiegend ins Ausland fließen. Das von den Rentenfonds zusätzlich eingesammelte Geld dient also nicht nur dem Aufkauf von Aktien, und keineswegs machen dort nur Spekulanten und professionelle Anleger ihre zwielichtigen Geschäfte. Wichtiger für die Geschäftswelt insgesamt als die Pflege der Aktienkurse ist der Umstand, daß der größte Teil der zusätzlich ersparten Gelder für Anleihen zur Verfügung steht. Durch den regelmäßigen Zustrom von vielen Milliarden Euro aus den Millionen für die Rente sparenden Arbeiterhaushalten kann die Zinsrate für geliehenes Geld niedrig gehalten werden, auch zum Aufkauf und Aufbau von Werken im Ausland. Auf diese Weise wird das Privatrentensystem bald noch mehr zum Export der hiesigen Arbeitsplätze beitragen. Es ist diese freudig stimmende Sicht auf die Kapitalentwicklung bei steigender Mehrwertrate und verstärkter Akkumulation, welche in unseren neoliberal verseuchten Zeiten fast alle Manager in Politik und Wirtschaft auf den Privatrentenkurs gebracht hat. Und sie haben immer noch Erfolg damit, ein derartiges Denken ihrer herrschenden Klasse als allgemein herrschendes Denken zu etablieren. Jedes zweite Sparkassenfenster will die Passanten zur Unterschrift unter lebenslange Sparverträge verlocken. Zehn Millionen taten’s schon, 20 bis 30 Millionen sollen’s noch tun. Bald werden wohl die Regierenden ein Zwangsgesetz zum Riestern erlassen, die schon erheblich demontierte Gesetzliche Rente wird weiter in Mißkredit gebracht. Und gegen diese massive Enteignung der Arbeiterklasse regt sich kaum Widerstand. Gut, die Alten dürfen wehklagen, das kennt man ja von ihnen. Viele Junge aber, vor allen die jüngeren Karrierepolitiker, dringen auf noch bessere Startchancen für die private Vorsorge. Die Gewerkschaften, die es eigentlich besser wissen müßten, sind ebenfalls auf Riesterkurs gebracht worden. Sie haben nichts mehr gegen Privatrenten und protestieren nur milde, wenn wieder einmal eine Kürzung der Gesetzlichen Rente beschlossen wurde. Sie sind damit beschäftigt, für ihre Hauptklientel das Instrument der Betriebsrente auszubauen. Hierfür verlangen sie nicht nur Steuer- und Abgabenbefreiung, die sie schon erreicht haben; sie verlangen die allgemeine Einführung von Betriebsrenten und hierfür selbständige, überbetriebliche Kapitalfonds. Darüber, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt und also auch das Sein eines sorgenden Kleinkapitalisten bald sein gewerkschaftliches Solidarbewußtsein zerstören wird, scheint sich bisher kaum jemand Gedanken zu machen.
Erschienen in Ossietzky 10/2008 |
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