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Neben der Bertelsmann-Stiftung wirkte Roland Berger dann als Ratgeber der rot-grünen Politik an der »Agenda 2010« und den »Hartz-Reformen«, an der Umwandlung der Arbeitsämter in Agenturen und der Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre mit; der Firmenchef gehörte der Rürup-Kommission an. Als Sprachrohr der neoliberalen Denkfabrik »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« erklärt er den Sozialstaat – wie ihn das Grundgesetz fordert – zum historischen Relikt ohne modernen Gebrauchswert. Die Empfehlungen jener Berger-Studie liefen alle darauf hinaus, das gesamte Gesundheitswesen den Regeln der Betriebswirtschaft zu unterwerfen. »Das Primat der Bilanzen wird zum universellen Gesetz, zu einem heiligen Postulat«, hat schon Viviane Forrester in ihrem Buch »Der Terror der Ökonomie« konstatiert. Und so ist nun das Bundesgesundheitsministerium damit beschäftigt, die Berger-Thesen Schritt für Schritt in Gesetze zu fassen: die Privatisierung zu fördern, die Unternehmen zu konzentrieren (wir werden auf viele Krankenhäuser und wohnortnahe Facharztpraxen verzichten müssen) und mit umfassenden Kontrollsystemen den »gläsernen Patienten« sowie den »Dienstleister-Arzt« zu schaffen, der statt der Schweigepflicht eine Meldepflicht bekommt. So entwickelt sich alles wie in den USA: In den health-maintainance organisations (HMO’s), profitorientierten Versicherungsunternehmen, entscheiden die Angestellten im Callcenter anhand einer Strichliste, ob die Kosten für eine vom Arzt für notwendig erachtete Operation oder teure Diagnostik übernommen werden oder nicht. Bisher nur Ärzten anvertraute Tätigkeiten werden zunehmend nichtstudierten, deutlich schlechter bezahlten Assistenten übertragen, in den USA »generic docs« genannt. Im Ergebnis hat sich in den USA schon die »Drei-Klassen-Medizin« durchgesetzt: Für die Reichen die Rundum-Versorgung, für die Mittelklasse das Notwendige, das oft nur durch Verkauf von Wertsachen zu finanzieren ist, und für 45,8 Millionen nicht krankenversicherte Menschen (die Zahl aus dem Jahre 2004 kann sich inzwischen erhöht haben) keine ärztliche Hilfe. In unserem Land kaufen private Klinikketten wie Rhön, Aslepios, Helios und Sana die kommunalen Kliniken auf und verwandeln auch den ambulanten Medizinsektor in ein profitables Geschäftsfeld, indem sie Fachärzte in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) anstellen. Die »Gesundheitsreform«-Gesetze unterstützen die Konzerne in ihrem Bestreben, die Patienten möglichst für alle – ambulante und stationäre – Behandlungen an sich zu ziehen. Mit Unterstützung der Massenmedien legen sie sich ein glänzendes Image zu und bieten Gesundheit als Ware auf dem angeblich freien – aber von ihnen schon weitgehend besetzten – Markt an, zum Beispiel mit Qualitätssternen wie in der Restaurantwerbung. Nutzen und Schaden sind verteilt: Nutzen für die Konzerne, Schaden für Patienten, Ärzte, Schwestern. Arztbesprechungen in Krankenhausabteilungen drehen sich immer häufiger um Abrechnungsprobleme statt um bessere Behandlung. Der berühmte Kardiologe Bernard Lown, Mitbegründer der Internationalen Ärzte gegen Atomwaffen (IPPNW), beschrieb diese Entwicklung in den USA so, »daß mit Patienten eher nach einer willkürlichen numerischen Zuordnung und nicht ihrem Zustand entsprechend umgegangen wird«. Diese Regel zwinge die Ärzte zu einer Brutalmedizin, die an den griechischen Sagen-Unhold Prokrustes erinnere. In diesem Jahr soll in der Bundesrepublik das weltgrößte Telemedizin-Projekt starten: die elektronische Gesundheitskarte. »Sie ist der Zugangsschlüssel für eine Datenautobahn im Gesundheitswesen, für das Internet im Gesundheitswesen« (Daniel Pöschkens, Software-Entwickler für die Gematic, die Betriebsorganisation der E-Card). Die neue Karte (mit Foto) macht jeden gesetzlich und privat Versicherten zum Datenbündel in einem riesigen Computernetzwerk, dem sich alle Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser, Apotheken, Krankenkassen, Psychologen, Physiotherapeuten und noch weitere 50 Berufsgruppen anschließen müssen. Rund zwei Millionen Menschen werden künftig Zugang zu den Krankheitsdaten der Bevölkerung haben, die bisher durch die persönliche Schweigepflicht der Ärzte geschützt waren. In Werbeblättern liest man es anders. Da ist vom »selbstbestimmten Patienten« die Rede, der seine Krankheiten durch »Einblick in die Gesundheitsakte« selbst managen soll. Jeder seines Glückes Schmied? In Wirklichkeit geht es hier eben nicht um Qualität medizinischer Leistungen, sondern um deren Rationierung, um Reduzierung auf eine Minimalversorgung für die große Masse der Versicherten und gleichzeitig um teure Leistungen im profitablen Zusatzversicherungsmarkt. Der Widerstand gegen die Zerschlagung unseres auf Solidarität und Ethik gegründeten Gesundheitssystems wächst. Nach zahlreichen Landesärztekammern hat der Deutsche Ärztetag 2007 die Einführung der E-Card abgelehnt. Im Dezember hat sich ein bundesweites Bündnis aus Ärzten und Ärzteverbänden, Patienten, Juristen, Informatikern und humanitären Organisationen bis hin zum Chaos Computer Club gegründet. Bundesärztekammer, Gematic und Regierung versuchen diese demokratischen Warner zu marginalisieren und scheinen unbeirrt von gescheiterten Testversuchen und frustrierenden Demokratiedefiziten den neoliberalen Gesundheitsmarkt per Gesundheitskarte freigeben zu wollen – frei zur Übernahme durch die Konzerne. Meine komprimierte Darstellung wird und soll zu Fragen und Widerspruch anregen. Mehr Informationen sind zu finden unter www.stoppt-die-e-card.de, www.diekrankheitskarte.de und www.ippnw.de/Soziale Verantwortung/E-Card stoppen. Bei IPPNW gibt es Aufklärungsschriften, die hoffentlich eine genügend große Zahl von Bürgern überzeugen werden, als erstes die Anwendung der Karte zu verweigern. Vorschlag: Kein Foto liefern! Es wird versucht, die Warner in die Ecke der Technik- und Fortschrittsfeinde zu stellen. Ich halte meine Vision für zukunftsfähiger, die sich auf die Mahnung von Bernard Lown gründet: »Jenseits der Attacken auf das Gesundheitsfürsorgesystem findet sich ein viel tiefer reichendes Phänomen. Es betrifft die massiv zunehmende Vermarktung aller menschlichen Beziehungen und Transaktionen. Eine allgemeine Tendenz zeichnet sich ab, fundamentale menschliche Werte ihrer Natur zu berauben und die Bande zu zerreißen, die Lebensgemeinschaften zusammenhalten. Identische Probleme greifen auch auf die deutsche Medizin über. Es ist unbedingt nötig, daß alle im Gesundheitswesen Tätigen, einschließlich der breiten Öffentlichkeit, begreifen, was auf dem Spiel steht.«
Erschienen in Ossietzky 8/2008 |
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