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Zwar integriert er Gedichte und Songtexte in seine Erzählung, die aber im Ganzen Prosawerk ist. Dennoch führt die Bezeichnung »Ballade« ins Zentrum des Textes – dank einer in spezifischer Weise rhythmisierten Sprache. Beim Lesen ergibt sich eine Melodie, die manchmal an sogenannte Pop-Balladen erinnert. Die einzelnen Kapitel gleichen Strophen, die Sätze werden zu Versen, bildhafte, symbolgeladene Sentenzen reagieren auf alltägliche Dialoge, präzise Beschreibungen realer Situationen übersteigern sich ins Phantastische: In diesem Wechselspiel konstruiert Schwarz eine Spannung zwischen Realismus und Surrealismus, die niemals eindeutig und doch nie beliebig ist. Auf den ersten Seiten gibt Schwarz so etwas wie eine Einführung in die dem Text zugrundeliegende Poetik: »Schon seit Stunden laufe ich diese Straße entlang. Im Gehen scharre ich vor Langeweile den Dreck auf. Ich knacke meine Fingerknochen durch, drehe mich im Laufen um, ich sehe die Sonne und wie sie verbrennt, die Stadt und Menschen hinter mir. Ich bin der Erzähler. Das Auge sucht Geschichten.« Der Erzähler wird als Geschichtensucher eingeführt. Er begibt sich in eine Welt, die ihm Material bereithalten soll: »Irgendein Typ taucht aus dem Nichts auf und läuft mir entgegen. Ich frage ihn, ob er weiß, wo man hier Geschichten findet. Er sieht mich verstört an, erzählt mir irgendetwas von ›Jede Geschichte. Ein Anfang und Ende.‹ [...] Ein ereignisloser Tag. Keine Geschichten. Ich überlege, ob ich wieder zurückgehe. Noch nicht. Kein Weg soll umsonst sein. Ich sehe in den Himmel, der mir viel zu blau erscheint, dann stolpere ich über eine Leiche.« Der Leser erfährt bald, daß es sich bei dem Toten ebenfalls um einen »Erzähler« handelt. Ist es der sprichwörtliche tote Autor, mit dessen Dahinscheiden in den strukturalistischen Literaturdebatten der 1960er und 1970er Jahre das »Subjekt« die Literatur vermeintlich endgültig verlassen hatte? Wird die Ballade zur Parabel auf die Produktion von Literatur schlechthin? Schwarz unterläuft die große These, indem er konkret wird und die Leiche sprechen läßt. Sie stellt sich dem Erzähler als Hermann Harriot vor, der ihm seine Geschichte erzählt. Rasch wird greifbar, daß es sich hier tatsächlich um ein anderes poetisches Prinzip handelt. Es bricht sich, indem es sich selbst offenbart. Die Geschichte Harriots ist die Geschichte Marthas. Sie beginnt, als Hermann dreizehn Jahre alt ist und von seiner Mutter »nach draußen geschimpft« wird, um »die bleiche Farbe im Gesicht« zu verlieren. Bleich ist der Junge deshalb, weil er bislang »nur im Sitzen beobachtete und nicht im Stehen miterlebte«. Bei seinem ersten Ausflug in die Außenwelt trifft er auf Martha und verliebt sich in sie. Das ältere Mädchen spielt mit ihm und stößt ihn, nachdem sie ihm zuerst Hoffnungen macht, spöttisch in das Chaos eines pubertären Liebeskummers: Hermann flieht in sein Zimmer zurück, verriegelt die Tür und zieht die Gardinen vors Fenster. »Das Schreibmaschinenmanifest« ist das Kapitel überschrieben, in dem Harriot vor Martha in die Literaturproduktion flieht und zu tippen beginnt. Hermann Harriot beginnt sich eine Martha zu erfinden: Der »Martha der Welt« folgt die »Martha des Kopfes«. Die Flucht scheitert. Die Phantasie holt die Wirklichkeit ein. Der tote Autor erzählt dem lebendigen Geschichtensucher: »Ich habe die Macht der Idee unterschätzt.« Die Figuren der Geschichte klopfen plötzlich an. Ein von Harriot leichtfertig erfundenes Eifersuchtsgemetzel (Martha tötet ihre Verehrer in einem mythischen »Haus der Lichtfliegen«) ist längst Teil der Welt geworden. Hermann Harriot macht sich auf die Reise zu seinem Nicht-Ort, der ein Ort geworden ist, um die Geschichte zu beenden. Ankommen wird er nicht: »Und dann? Was passierte dann? Ich kann mich nicht genau daran erinnern. Nur daß ich pinkeln mußte. [...] Kein theatralischer Film, im Moment, als ich starb. Nichts! Nur zwei Dinge, die ich im Kopf hatte. Martha und Urin. Die Erfindung für die Zeit meines Lebens und eine Körperflüssigkeit. Ach, verdammt. Ich kenne ihr Ende nicht.« Und auch der Geschichtensucher muß eingestehen: »Mir fällt einfach kein passendes Ende dazu ein.« Schwarz schreibt die Geschichte hier in eine Sackgasse. Die Geschichte, die nun zunächst eine andere Geschichte ist, wechselt den Schauplatz: »Vier Freunde, die unbedingt benannt werden wollen, hängen herum. In einem dunklen Zimmer. Auf einer grünen Couch.« Sie sind kiffende Beatles-Fans (im Folgenden »Die Beatles«), die sich entschließen, den umgekehrten Weg Harriots zu gehen: Aus ihrem dunklen Zimmer gehen sie hinaus ins Leben: »Im Draußen: Die Farben der Stunde. / Das Rot. Das Blau. Das Gelb. Das Grün.« Mit einem gestohlenen Auto fahren sie los und treffen auf den pinkelnden Harriot, den sie versehentlich überfahren. Der »tote Autor« ist buchstäblich vom Leben überrollt worden. Dem Einbruch der Geschichte ins Leben Harriots folgt nun der Einbruch des Lebens in die Geschichte. Die »Beatles« laden die Leiche in den Kofferraum und wollen sie in einem leerstehenden Haus entsorgen. Das Haus entpuppt sich bald als jenes »Haus der Lichtfliegen«, das Harriot lebend erreichen wollte und in dem er nun tot verstaut wird. Kaum haben sie die Schwelle übertreten, werden die »Beatles« Teil von Harriots Martha-Märchen und zahlen einen hohen Preis. Denn Marthas Nicht-Ort ist zum realen Friedhof geworden, zu einem Ort der Untonten und Zombies. Die »Beatles« werden ins Gemetzel hineingezogen. Harriots Versuch, der Welt mit seiner Geschichte zu entfliehen, hat die Wirkung der Geschichte auf die Welt unkalkulierbar gemacht. Die Geschichte kollabiert, das »Haus der Lichtfliegen« verschwindet und hinterläßt den toten Harriot und einen überlebenden »Beatle«. Ihnen begegnet der weltzugewandte Erzähler. Wie kann diese Geschichte »entschlüsselt« werden? »Jede Geschichte. Ein Anfang. Ein Ende«, sagt der überlebende »Beatle« dem Erzähler im Ausgang. Es ist der Beginn, der am Schluß wiederkehrt. Wir sind zurückgekommen zu der Suche nach Geschichten, vor die Entdeckung der Leiche. Die Ballade findet eine Welt (wieder), die aus Geschichte und Geschichten besteht. Sie hat ihre Voraussetzungen eingeholt. So läßt sie sich auch als ein Versuch über die Verantwortung des Schriftstellers lesen, die Welt des Kopfes und das Leben der Welt zu vermitteln – als ein Versuch darüber, wie die Phantasie Ungeheuer gebären kann, die weder ein lebender noch ein toter Autor gänzlich im Griff hat. Am Ende bleibt eine Totalität, die in der Geschichte beschlossen ist, ohne vollständig in sie eingeschlossen werden zu können: »Keine Sorge. Immer ist Alles am Horizont. / Kein Ende, noch Zeit.« Das kleine Buch ist eine große Erzählung. Sebastian Schwarz: »Martha My Dear – Eine moderne Ballade«, Wagner-Verlag, 107 Seiten, 11.90 €
Erschienen in Ossietzky 6/2008 |
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