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Gerade noch sah ich durch den Türspalt, wie der Briefträger der Gelben Post sein Gepäckfahrrad vor unserem Haus abstellte, und konnte ihm die Tür offen halten. Der PIN- und der Postbote hatten füreinander keinen Blick und keinen Gruß. Ich fragte den Postboten, ob nicht auch er diese Art von Wettbewerb für extrem unwirtschaftlich halte und ob es nicht unwürdig sei, wie die Regierenden und die Manager ihn und die privaten Austräger gegeneinander ausspielten. Er stimmte mir verbittert zu. Es sei verrückt, was heute von ihnen verlangt werde: Über vierhundert Briefkästen müsse er jetzt bedienen und zuvor auf dem Amt alle Sendungen einsortieren. Vor einigen Jahren seien es noch nicht halb so viele gewesen. Heute gebe es nur noch Eile, Eile, und trotzdem sei das Pensum in der regulären Arbeitszeit nur selten zu schaffen. Aber Überstunden dürfe man dafür nicht melden. Die neuen Boten bei PIN oder TNT mochte er kaum als Kollegen anerkennen: Die seien nicht ausgebildet und müßten für Hungerlöhne rumrennen. Aber jetzt müsse er ganz schnell weiter, sonst gerate er wieder in Verzug. Allenthalben höre ich Klagelieder über abgebaute Briefkästen, geschlossene Postannahmestellen, kilometerlange Fahrten zur einzigen Paketausgabe im Bezirk und so weiter. Zuverlässige Zustellung ist zur Glückssache geworden. Als der letzte Bundespostminister Wolfgang Bötsch (CSU) – heute mehrfacher Posteninhaber in Vorständen und Aufsichtsräten von Firmen der Logistikbranche – die alte Deutsche Bundespost zunächst in drei Teile zerlegte (Post, Telekom, Postbank) und anschließend den privaten Kapitalanlegern auslieferte, sollten wir uns auf eine schöne neue Welt der grenzenlosen Kommunikation freuen. Kaum jemand erahnte damals das ganze Ausmaß des heutigen Desasters – wenngleich Bötsch neuerdings zugibt: »Wir wußten, daß Stellen wegfallen.« Die Mitarbeiterzahl der ehemaligen Deutschen Bundespost, einst rund 500.000, ist in den drei privatisierten Staatsbetrieben fast halbiert worden und wird weiter reduziert. Das Bundesarbeitsministerium, bis Herbst 2007 unter Franz Müntefering, seitdem unter Olaf Scholz (beide SPD), bemühte sich um Schadensbegrenzung, indem es für die Beschäftigten der Zustelldienste mit der Deutschen Post AG und der Gewerkschaft ver.di einen Mindestlohn aushandelte und für allgemeinverbindlich erklärte. Demnach sollte in der ganzen Branche mit Jahresbeginn 2008 der Stundenlohn im Westen mindestens 9,80, im Osten 9 Euro betragen. Das Geschrei der privaten Briefdienste war groß. Besonders der vom Axel Springer Verlag aufgebaute PIN-Briefdienst begann sofort, Leute zu entlassen und für einige seiner regional selbständigen Briefdienste Insolvenz anzumelden. In den Lokalzeitungen erschienen dramatische Bildberichte über plötzlich arbeitslos gewordene PIN-Boten. TNT, ein von Holland aus agierender Briefzustelldienst, ließ verlauten, daß unter den neuen Bedingungen das Deutschlandgeschäft zurückgefahren werden müsse. Beide Firmen lieferten so den Beweis, daß sie nur mit Dumpinglöhnen der Deutschen Post AG Konkurrenz machen konnten. Tatsächlich zahlen sie Hungerlöhne, so daß viele ihrer ZustellerInnen auf Unterstützung nach Hartz IV angewiesen bleiben. Als Protestsprecher – nicht der unterbezahlten PIN-Boten, sondern der durch Mindestlöhne in ihren Profiterwartungen bedrohten Kapitaleigner – tauchte Florian Gerster auf, ehemaliger SPD-Abgeordneter, der unter Schröder 2002 zum Chef der Bundesanstalt für Arbeit berufen worden war und 2004 wegen Mißwirtschaft und Unfähigkeit gehen mußte. Inzwischen ist er Präsident des Arbeitgeberverbandes Neue Brief- und Zustelldienste (AGVNBZ). Zusammen mit dem Bundesverband der Kurier-, Express-, Post-Dienste e.V. (BdKEP) ging sein Verband vor Gericht. Sie konnten auf eine eigene (von den Betrieben gegründete und gesponserte) Gewerkschaft verweisen, mit der sie zu wesentlich niedrigeren Bedingungen Tarifverträge abgeschlossen hatten. Gerster argumentierte, sein Verband sei für insgesamt 400.000 Beschäftigte zuständig und vertrete damit viel mehr als ver.di und die Deutsche Post AG mit ihren nur noch 80.000 Briefträgern. Mindestlohn-Tarifverträge können aber nach dem seit 1996 geltenden Arbeitnehmer-Entsendegesetz nur dann allgemeinverbindlich werden, wenn sie für mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in einer Branche abgeschlossen wurden. Auf die hohe Beschäftigtenzahl konnte Gersters Verein allerdings nur kommen, weil alle Mini-Jobber, die Werbezettel austragen, mitgezählt wurden. In den eigentlichen Briefdiensten haben die Privaten bisher nur rund 10.000 Beschäftigte. Aber das Berliner Verwaltungsgericht hob am 7. März die Mindestlohnverordnung des Arbeitsministeriums auf mit der Begründung, sie verletzte die Tarifvertragsfreiheit der Privaten. Das Gericht bezog sich damit auf die Dumpinglohn-Tarifverträge, die TNT und PIN mit ihren hauseigenen Gewerkschaften abgeschlossen hatten. Von den Rechten eines Arbeitnehmers auf ausreichende Entlohnung war in dem Urteil nicht die Rede. »Jetzt können unsere Unternehmen endlich aufatmen«, kommentierte Gerster. Der Axel Springer Verlag ließ verlauten, man wolle nun eine Staatshaftung für die entstandenen Verluste prüfen. Denn der Staat soll nach neoliberalem Verständnis heute dafür sorgen, daß die Unternehmer sich nicht verspekulieren; wenn doch, muß er für entgangene Gewinne geradestehen, siehe Bankenkrise. Nur die verbohrten Ewiggestrigen aus dem linken Spektrum sprechen an dieser Stelle von »Klassenjustiz« und einer »Regierung im Dienste des Kapitals«. Das Bundesarbeitsministerium hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Bis zur Entscheidung in nächster Instanz werde die Mindestlohnverordnung in Kraft bleiben, kündigte es an. Wenn Minister Scholz und seine Verantwortlichen den Mund da man nicht zu voll genommen haben. Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) tat inzwischen kund, das Urteil sei »ein Sieg für den Wettbewerb«. Mit hämischem Blick auf das Bundesarbeitsministeriums sagte Glos, die Entscheidung zeige, »daß Mauscheleien vor Gericht keinen Bestand haben«. Den Einspruch des Arbeitsministeriums konnte er nur noch bespötteln: »Ein getroffener Hund bellt.« Die gesamte CSU sowie Abgeordnete der CDU forderten die Kanzlerin auf, Scholz bei seinen Bemühungen um Mindestlöhne endlich zu stoppen. Indem die SPD jetzt hier und da für Branchen-Mindestlöhne eintritt, versucht sie von ihrer Verantwortung für die Misere auf dem gesamten Arbeitsmarkt, speziell auch in den Postdiensten, abzulenken. Sie hat die Grundgesetzänderungen zur Privatisierung der Bundespost mit beschlossen. Sie stand und steht immer noch für »Privat geht vor Staat«. Sie setzt weiterhin auf »Markt und Wettbewerb«, ob das für Dienstleistungen von allgemeiner Bedeutung sinnvoll ist oder nicht. Durch ihre Agenda- und Hartz-Gesetze hat sie Millionen Arbeitslose zu Sozialhilfe-Empfängern gemacht, die jeden Job, egal zu welchen Bedingungen, annehmen müssen. Mein voriger, langjähriger Postbote ist schon vor einem Jahr vorzeitig wegen Rückenproblemen in Rente gegangen. Er sagte, das immer schnellere Rennen im Hamsterrad halte er nicht länger aus.
Erschienen in Ossietzky 6/2008 |
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