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Hartz I bis IV – das sind knarzige Schimpfnamen für eine Reform aus dem Dunstkreis von Vorstandsetage, White-Colour-Kriminalität und Rotlichtmilieu, die tief in das soziale Netz einschneidet, ohne, wie verheißen, das Problem der Massenarbeitslosigkeit auch nur ansatzweise zu bewältigen. Ihre Betreiber sprechen lieber von »Modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, machen Arbeitsämter zu »Agenturen« und Arbeitslose zu »Kunden«, die nicht nur gefördert, sondern auch gefordert und kontrolliert werden. Überwachungsmethoden und Sanktionen sind erheblich verschärft worden, um angeblichen Pflichtverletzungen von Arbeitslosen auf die Spur zu kommen und sie zu ahnden. Mit den oft rigiden Melde- und Nachweispflichten werden Empfänger von Arbeitslosengeld (ALG) II diszipliniert und unter den Generalverdacht des potentiellen Leistungsmißbrauchs gestellt. Schon für die Antragstellung müssen die potentiellen Leistungsempfänger entblößende Auskünfte über Einkommens-, Vermögens-, Wohn- und Familienverhältnisse geben. Aber nicht nur zu ihren eigenen Lebensverhältnissen müssen die Antragsteller in den Erfassungsbogen detaillierte Angaben machen und durch entsprechende Nachweise belegen – sie sehen sich auch gezwungen, sensible Daten über andere Personen anzugeben, so über ihre Kinder, Ehe- und Lebenspartner, andere Angehörige oder Mitbewohner in sogenannten Bedarfsgemeinschaften. Nach der Antragstellung müssen die Betroffenen damit rechnen, weiterhin durchleuchtet zu werden: So kann die Bundesagentur für Arbeit im Falle von »Ungereimtheiten« – etwa bei Diskrepanzen zu früheren Angaben oder widersprüchlichen Aussagen – die entsprechenden Informationen der Betroffenen mit den Daten anderer Behörden abgleichen, etwa der Meldebehörde, des Kraftfahrtbundesamtes, der Finanzämter oder Rentenversicherungsträger. Selbst ein Rückgriff auf Antiterrorgesetze ist möglich: So können Arbeitsagenturen unter Umständen Bankdaten ihrer »Kunden« einsehen. Alle Geldinstitute müssen über eine Computer-Schnittstelle jederzeit Informationen über alle Konten und Depots sämtlicher Bankkunden (Kontostammdaten wie Bank, Kontonummer, Name, Geburtstag, Adresse) zum Online-Abruf für die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht bereithalten. Den Arbeitsagenturen stehen seit 2005 solche Finanzdaten der Leistungsempfänger sowie der Kinder, Ehepartner, Lebensgefährten und Mitbewohner innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft im Abrufverfahren zur Verfügung, wenn eine vorherige Nachfrage beim Betroffenen oder bei Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft durch die Arbeitsagenturen »nicht zum Ziel geführt hat oder keinen Erfolg verspricht« (§ 93 Abs. 8 Abgabenordnung). Diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Normenklarheit zwar teilweise für verfassungswidrig erklärt (Entscheidung vom 13. 6. 2007), sie kann aber zur Verhinderung von (mutmaßlichem) Sozialleistungsbetrug weiterhin angewandt werden (Neuregelung seit August 2007). Die Anzahl dieser Kontenabfragen ist im vergangenen Jahr auf fast 28.000 gestiegen, unter anderem wegen angeblichen Sozialleistungsmißbrauchs. Die Erreichbarkeit der Arbeitslosen wird nicht selten telefonisch überprüft – um sicherzustellen, daß sie jederzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen (bekanntlich können sich die Betroffenen vor Arbeitsangeboten kaum retten!). Zur Überprüfung von Vermögensangaben und Wohnverhältnissen der Arbeitslosen sind auch Hausbesuche vorgesehen. Solche Heimsuchungen verletzen das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG). Zwar sind Inspektionen der Lebensverhältnisse in privaten Wohnräumen ohne Einwilligung der Betroffenen nicht erlaubt. Verweigert aber ein Arbeitsloser seine Einwilligung, dann verletzt er seine gesetzliche Mitwirkungspflicht, macht sich verdächtig und löst empfindliche Sanktionen aus, wird also mit Leistungskürzung oder -entzug bestraft. Von Freiwilligkeit kann da schwerlich die Rede sein. Die behördliche Neugier macht vor kaum einem Lebensbereich der Betroffenen halt. Mit teils inquisitorischen Fragen in den Erfassungsbögen, für die die Bundesagentur für Arbeit schon 2004 den Negativpreis »BigBrotherAward« erhielt, mit Kontroll-Hausbesuchen und dem Abgleich hochsensibler Daten mit Fremddateien greift der Staat tief in den Sozialdatenschutz, in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und damit in die Privatsphäre von Langzeitarbeitslosen ein: Ihre Persönlichkeitsrechte werden ausgehöhlt. Längst hat sich ein spezielles Überwachungs- und Kontrollsystem im Sozialwesen herausgebildet – parallel zum weit umfassenderen System der sogenannten Inneren Sicherheit, das in den vergangenen Jahren, besonders im Zuge des staatlichen Antiterrorkampfes, eine fatale Entgrenzung staatlicher Gewalten und eine besorgniserregende Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte bewirkt hat. Nach den Terroranschlägen vom 11. 9. 2001 in den USA wurden auch hierzulande mit sogenannten Antiterrorgesetzen Polizei- und Geheimdienst-Befugnisse erheblich ausgeweitet, Sicherheitsüberprüfungen von Arbeitnehmern auf lebens- und verteidigungswichtige Betriebe ausgedehnt, biometrische Daten in Ausweispapieren erfaßt und Migranten – als wären sie allemal verdächtig – einer noch intensiveren Überwachung unterzogen. Kraftfahrzeugkennzeichen werden auf deutschen Autobahnen automatisch erfaßt und abgeglichen, und seit 1. 1. 2008 werden Telekommunikationsdaten zwangsweise sechs Monate lang auf Vorrat gespeichert – ohne Verdacht und Anlaß, nur um sie bei Bedarf zur Strafverfolgung verwenden zu können. Und das Bundeskriminalamt soll zu einem deutschen FBI ausgebaut werden, dem auch präventive und geheimpolizeiliche Befugnisse zustehen sollen – wie etwa zur Online-Durchsuchung von Personalcomputern. Zudem sollen auch noch sämtliche Fluggastdaten mit fast 20 Merkmalen, die bereits an US-Sicherheitsbehörden übermittelt werden, auch in Europa bis zu 13 Jahre lang für Rasterfahndungen nach mutmaßlichen Terroristen gespeichert werden. Die Zahl der gesetzlich legitimierten polizeilichen Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten und damit die Kontrolldichte in dieser Gesellschafthaben im Zuge dieser Art von »Sicherheitspolitik« dramatisch zugenommen. Die moderne Risiko-Gesellschaft hat sich längst auf den Weg von der repressiven Disziplinar- zur präventiven Kontrollgesellschaft gemacht – einer Gesellschaft im permanenten Ausnahmezustand, die, dem Kontrollideal der Geheimdienste folgend, Überwachungsdaten auf Vorrat sammelt und verarbeitet, um verdächtige »Elemente« herauszufiltern. Die gesamte Sicherheitsarchitektur des Staates wird umgebaut, die »Innere Sicherheit« militarisiert. Die Zentralisierung und Vernetzung aller Sicherheitsbehörden, aktuell die zunehmende Verzahnung von Geheimdiensten und Polizei, kann letztlich zu einer kaum mehr kontrollierbaren Machtkonzentration führen. Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren als reguläre nationale Sicherheitsreserve bedeutet einen verfassungswidrigen Paradigmenwechsel, wie er schon mal während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 und anläßlich der Proteste gegen den G-8-Gipfel 2007 geprobt worden ist. Ursprünglicher Sinn eines verhängten Ausnahmezustands war es, für kurze Zeit das Recht förmlich zu suspendieren, um nach erfolgter Krisenbewältigung wieder zur alten Ordnung zurückzukehren. Der moderne – quasi präventive – Ausnahmezustand verliert nach und nach seinen Ausnahmecharakter und wird so zum alltäglichen, zum Normalzustand der Krisenverhütung und -bewältigung; er erweist sich für den modernen Staat immer mehr als »herrschendes Paradigma des Regierens«, wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben konstatiert. Oder anders ausgedrückt: als präventive Herrschaftssicherung in Zeiten der Krise, besonders in Zeiten des sozialen Niedergangs – schließlich gilt es, den Staat nicht nur vor Terror zu schützen, sondern auch gegen mögliche soziale Unruhen und Aufstände vorsorglich zu wappnen. Die aktuelle Anhäufung von sicherheitspolitischen Instrumenten der Überwachung und Kontrolle, der Gefahrenvorsorge und -abwehr auf Vorrat kann auch auf solche Entwicklungen zielen. Tatsächlich scheint der präventive Sicherheitsstaat in dem Maße aufgerüstet zu werden, in dem der Sozialstaat abgetakelt wird. Die ideologische Begleitmusik zu dieser verhängnisvollen Entwicklung liefert übrigens ein Mann, der früher Präsident des deutschen Industriellenverbandes war und heute als Dauergast bei Talkshows auftritt. In seinem neuen Buch »Der Kampf um die Mitte – Mein Bekenntnis zum Bürgertum« schreibt Hans-Olaf Henkel die Ideengeschichte der Aufklärung um. Nicht »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« – nein, »Freiheit, Eigentum, Sicherheit« seien die »Quintessenz und Leitidee« der bürgerlichen Aufklärung. Damit spricht aus ihm der herrschende Zeitgeist. Tatsächlich ist Sicherheit längst zur Kunstfigur eines Supergrundrechts des Staates geworden, das letztlich alle Freiheitsrechte der Bürger dominiert. Obwohl die reale Entwicklung der Kriminalität, wie sie die Kriminalitätsstatistik ausweist, dazu keinerlei Anlaß gibt, besteht verbreitet ein – durch Massenmedien und in Wahlkampfzeiten hochgeputschtes – Gefühl ständig wachsender Bedrohung und damit das Bedürfnis nach Maßnahmen, die die repressive und präventive Seite des Staates und damit seine Macht auf diesem Feld stärken. Es scheint so, daß viele Menschen, die die große soziale Enteignung der letzten Jahre in dem Gefühl von Ohnmacht über sich haben ergehen lassen, ihre berechtigten sozialen Ängste auf ein Gebiet projizieren, auf dem die große Mehrheit der politischen Klasse ihnen entgegenkommt: die Sicherheitspolitik. Hier werden Staatsfeinde und Sündenböcke für allfällige Miseren präpariert; hier wird öffentliche Hysterie zur Herrschaftstechnik, hier kann die von Schäuble, Jung, Koch, Harms & Co. geschürte Kriminalitäts- und Terrorangst ihre zerstörerische Wirkung entfalten. Das Verfassungssystem und der demokratische Rechtsstaat werden so auf Dauer beschädigt – wie der Sozialstaat in den vergangenen Jahren. Demokratische, bürgerrechtliche, soziale und zivilisatorische Errungenschaften sind in ihrer Substanz in Frage gestellt – Errungenschaften, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte nur unter schweren Opfern erkämpft werden konnten.
Erschienen in Ossietzky 4/2008 |
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