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Zeitungsverkäufer mit 17, schrie er den Mord an Jean Jaurès aus und erlebte den Kriegsbeginn 1914 in der Fremdenlegion. Hier einige Auszüge aus einer Tonaufzeichnung von Johanna Sabroux (Libération): Ab Mai/Juni redete man von Krieg… dann kam die Kriegserklärung... Alle reisten ab, alle Italiener mit ihren Familien. Was sollte ich da machen? Es war niemand mehr da, kein Essen. Es gab Propaganda für den Eintritt in die Armee. Hab mich gemeldet... mir blieb nichts andres übrig. Wollte nicht nach Italien zurück; sie verhungerten dort, erst recht in den Bergen ... Ich ging in die Fremdenlegion. Ich wußte, daß die Legion zu Frankreich gehört. Und so ging ich in den Krieg für Frankreich. Die ersten Angriffe im Argonner Wald (Grabenkrieg), die Sanitäter mußten die Toten und Verletzten suchen. Da heulte draußen einer los: »... holt mich doch, mein Bein ist ab!«. Granateneinschläge, Angriffe... Als es dunkelte, sagte ich dem Sanitäter: »Da schreit doch einer die ganze Zeit, den mußt du holen, er verblutet!« – »Nein, wenn wir raufgehen, ist das der Tod!« Die Deutschen schossen die ganze Zeit. Mir war das egal, hab einen Drahtschneider verlangt und bin rauf. Im Drahtverhau fiel ich über einen Deutschen, sein Arm hing nur noch an einem Schulterriemen. Mit zwei Fingern machte er ein Zeichen; ich verstand: zwei Kinder. Ich sagte mir, wenn er zwei Kinder hat, dann soll er doch lieber zurück nach Deutschland. Hab ihn zum deutschen Graben geschleppt. Er schrie: »Nicht schießen, nicht schießen, Ihr schießt auf mich!« – auf Deutsch natürlich. Sie haben aufgehört. Er kam in seinen Graben, und ich ging zurück. Niemand schoß mehr. Ich schnitt mich mit der Zange durch den Stacheldraht und erreichte den mit dem abgeschossenen Bein. Das Schießen ging wieder los. »Beiß die Zähne zusammen«, sagte ich, »wenn du schreist, wird’s nur schlimmer«. Und so brachte ich ihn in unseren Graben ... das Bein kam in ein Blech, der Stumpf wurde abgeklemmt. Als sie ihn wegbrachten, wollte er sich aufrichten, mit letzter Kraft. »Wartet, wartet!« Er umfaßte meinen Hals, küßte mich und sagte: »Danke ... es ist wegen meiner vier Kinder.« Als geborener Italiener kam Ponticelli danach an die österreichisch-italienische Front: Wir verständigten uns im Guten mit dem österreichischen Graben. Einige von uns konnten ja deren Sprache ... Wir versuchten Steine mit Zetteln rüberzuwerfen, damit sie kapieren, daß wir zu hoch schießen, um uns nicht schuldig zu machen. Hat aber nicht geklappt. Da sagte ich einem, der gut österreichisch konnte: »Steig rauf und rufe rüber zu ihnen.« – »Nein, die schießen mich ab!« Daraufhin ich: »Ich zeig’ dir, wie.« Ging rauf, ließ aber das Gewehr unten. Da haben sie nicht mehr geschossen. Wir haben verhandelt und waren uns einig: Warum nur dieser Krieg?! Also lieber zu hoch schießen. Wir bildeten eine gemischte Patrouille, Italiener und Österreicher, und haben das dann auf der ganzen Linie propagiert. Alle stellten das Schießen ein. Niemand schoß mehr. Als das bemerkt wurde, trafen sich die italienischen und die österreichischen Offiziere. Wir wurden angezeigt beim Kriegsgericht. Die ganze Kompanie sollte füsiliert werden. Als aber das Bataillon davon erfuhr, protestierten sie und gaben uns Recht. Niemand, sagten sie, müsse kämpfen ohne jeden Grund. Gleich danach hat es das 3. Gebirgsjäger-Regiment genau so gemacht. Aber sie wurden dann in eine andre Ecke verschoben, gegenüber einer österreichischen Eliteeinheit. Alle kamen um. 48 Stunden später war ich verwundet. Als sie mir den Granatsplitter aus dem Kopf zogen, haben vier Mann mich festgehalten … Das Ding war zu lange drin gewesen; alles war schon grün. Das blutete und blutete, fing an zu laufen. Ich kam ins Spital von Neapel. Als ich kuriert war, bekamen wir Yperit-Granaten ab (Senfgas). Ganz vorne war alles tot, erstickt. Unsere Kompanie mußte dann auf den Monte Grappa (Piave-Front), wo der Frieden unterzeichnet wurde. Alle kamen aus den Gräben, warfen die Arme in die Luft – es war vorbei. Wir waren alle froh, wir und die Österreicher. Man fragte sich die ganze Zeit: Um was schlagen wir uns eigentlich? Dem Veteran Lazare Ponticelli zuhörend frage ich mich: Um was schlagen wir uns heute in Afghanistan? Warum hintergeht die Regierung 86 Prozent unserer Bevölkerung, die Aufbau wollen statt methodischer Chaotisierung und Zerstörung? Sie lehnte medienwirksam US-amerikanische Truppenforderungen ab, um dann doch die neue »Schnelle Eingreiftruppe«, im Norden stationiert, auch für den Kampf im Süden zur Verfügung zu stellen – »natürlich« (so Kriegsminister Jung am Aschermittwoch). Die bedachtsame Schweiz zieht am 1.März ihre Militärs aus dem schmutzigen Krieg zurück. Deutschland aber macht weiter; Jung wird es allen zeigen. Lazare Ponticelli und sein Kamerad Louis de Cazenave (gestorben am 20. Januar 2008) haben sich beide ein Staatsbegräbnis verbeten: »… das wäre ein Affront gegen alle anderen, für die man nichts getan hat.« Ponticelli erlaubt lediglich eine Messe im Invaliden-Dom, »aber für alle Gefallenen!« Was werden unsere Afghanistan-Veteranen einmal erzählen? Daß sie verwundete Talibani – vor wenigen Jahren noch CIA-trainiert – zu deren afghanischen Kameraden geschleppt haben? Oder verlassen sie sich heute auf jene Postille im Tornister eines jeden GI: den Leitfaden zum problemlosen Töten? Im Internet ist Lazare Ponticelli im französischen Originalton zu hören: http://www.libelabo.fr/2008/02/04/lazare-ponticelli-le-dernier-poilu/
Erschienen in Ossietzky 4/2008 |
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