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Eine internationale Delegation hat kürzlich in Kolumbien Aussagen zu 132 Fällen von außergerichtlichen Hinrichtungen gehört, worunter Morde verstanden werden, die von staatlichen Kräften an wehrlosen oder unterlegenen Opfern begangen werden. Ein Beispiel: Die Soldaten waren schon seit einigen Wochen verstärkt in der Region präsent, deshalb machten sich Flavia Beltrán und ihr Sohn zunächst keine Gedanken, als sie an einem Morgen die Soldaten auf ihr Haus zukommen sahen. In der bergigen Region im Osten des Bundesstaates Antioquias hatte das Militär in letzter Zeit immer versucht, gegen die Guerilla vorzugehen. Jorge, Anfang zwanzig, alleinstehend, lebte bei seiner Mutter, die noch zwei kleinere Geschwister des jungen Mannes großzog. Jorge half besonders beim Anbau von Mais und Maniok, mit deren Verkauf sich die Familie ein bescheidenes Einkommen sicherte. Flavia und Jorge sitzen gegen 11 Uhr vor ihrem Haus und besprechen die weiteren Arbeiten des Tages. Hinter der Wegbiegung taucht ein Trupp von Uniformierten auf und nähert sich dem Haus. Als die Soldaten den Hof erreichen, fragen sie Jorge in rauhem Ton nach seinem Namen und fordern ihn auf, sie zu begleiten. Auf Nachfragen der Mutter, warum sie ihn mitnehmen wollen, verweigern sie eine klare Auskunft. Sie schleppen ihn davon. Flavia hat Angst um ihren Sohn: »Ihr könnt ihn doch nicht einfach so ohne Grund mitnehmen«, sagt sie den Soldaten. Als sie versucht, ihrem Sohn zu folgen, halten zwei Soldaten sie zurück und verbieten es ihr. Eine halbe Stunde später sind Schüsse hinter dem Hügel zu hören – die Richtung, in der sie mit Jorge verschwunden sind. Erst sind es vereinzelte Schüsse, dann nach ein paar Minuten folgen mehrere Gewehrsalven. Jetzt kommen einige Nachbarn herbei; sie berichten, daß die Soldaten Jorge dort hinter den Hügel gebracht hatten. Flavia eilt zu der Stelle, von der die Schüsse zu hören waren, doch die Soldaten lassen sie nicht durch. Später kommt ein Hubschrauber und transportiert eine Leiche ab. Als ihr Sohn nicht wieder auftaucht, beschließt Flavia, nach Pueblo Nuevo zum Bataillonskommando zu fahren. Der Weg ist beschwerlich und weit, eine Stunde zu Fuß bis zur Straße, dann zwei Stunden Fahrt in dem klapprigen Geländewagen, der als Bus dient. Die Straße windet sich durch die Andentäler. In Pueblo Nuevo angekommen geht Flavia zuerst zum Haus ihrer Schwester, die in den Radionachrichten etwas gehört hat. »Sie haben berichtet, daß bei Euch in Esperanza nach einem Gefecht mit einer Patrouille ein Guerillero getötet wurde«, erzählt die Schwester. Flavia ist ihrem Schwager dafür dankbar, daß er sie zum Militärbataillon begleitet. Dort fragt sie nach ihrem Sohn. Als sie den Kommandanten sprechen kann, schaut der sie nur ärgerlich an: »Dein Sohn? Wir haben hier nur einen gefallenen Guerillero, aber den haben wir schon zur Autopsie ins Krankenhaus gebracht. Du willst doch nicht etwa ernsthaft die Leiche eines Guerilleros abholen und beerdigen!« Mit ihrem Schwager geht Flavia ins Krankenhaus, wo sie die Leiche des angeblichen Guerilleros als die ihres Sohnes identifiziert. 1.191 Menschen, so berichten kolumbianische Menschenrechtsorganisationen, wurden in den Jahren 2002 bis 2007 in Kolumbien von staatlichen Sicherheitskräften außergerichtlich hingerichtet. Eine Koalition kolumbianischer Menschenrechts- und Anwaltsorganisationen hat diese Fälle systematisch dokumentiert und die internationale Delegation aus Frankreich, Großbritannien, USA, Deutschland und Spanien eingeladen, damit diese sich selbst anhand der Zeugenaussagen ein Bild von der Situation machen kann. Außerdem haben die kolumbianischen Organisationen ihre Berichte vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission vorgestellt, auf die sie die Hoffnung setzen, daß sie die kolumbianischen Autoriäten zu konkreten Maßnahmen gegen die Verantwortlichen bewegen kann. Die Fälle, die der aus 13 AnwältInnen, Richtern und MenschenrechtsexpertInnen bestehenden internationalen Delegation vorgetragen werden, folgen einem ähnlichen Muster: »Als er von zu Hause losging, trug er ein zerrissenes Hemd und eine abgeschnittene Hose; wenn wir aufs Feld zur Arbeit gehen, tragen wir immer alte Kleidung. In der Staatsanwaltschaft haben sie uns dann gesagt, er sei in Kampfkleidung gefunden worden und habe ein Gewehr und Granaten bei sich gehabt. Mein Nachbar hat gesehen, wie die Soldaten ihn nachmittags um drei an der Brücke festgehalten und gefesselt hatten – eine Stunde später haben wir dann die Schüsse gehört,« erzählt ein Angehöriger. Die Daten aus der Autopsie und die Aussagen der Streitkräfte zum angeblichen Gefecht stimmen oft nicht überein: »Mein Vater wurde tot vor seinem Haus gefunden,« berichtet Noemi aus dem Bundesstaat Meta. »Als ich informiert wurde, eilte ich sofort hin. Soldaten hatten das Haus umstellt und ließen mich nicht durch. Später kam die Staatsanwaltschaft, um die Beweise zu sichern. Sie wollten mich immer noch nicht durchlassen, aber ich habe nicht auf sie gehört. Wir haben Fotos gemacht, vom Haus und von der Leiche meines Vaters. Was sie behaupten, ist absurd, sie sagen, er habe eine Patrouille angegriffen und sei getötet worden, als die Soldaten das Feuer erwidert hätten. Mein Vater war 65 und hat mit der Arbeit auf den Feldern die ganze Familie ernährt.« Sie zeigt der Delegation die Fotos von der Leiche: »Hier sind Granatsplitter zu sehen, doch auf dem Hof sind weit und breit keine Granatsplitter zu finden. Aus der Kopfwunde muß viel Blut geflossen sein – auch davon auf dem Hof keine Spur. Offensichtlich ist die Version der Soldaten falsch, mein Vater wurde nicht an dieser Stelle getötet. Doch die Staatsanwaltschaft hat immer noch keine Anklage gegen die Soldaten erhoben, die behaupten, meinen Vater bei einem Gefecht getötet zu haben. Ich verstehe das einfach nicht!« Noemis Fall ist typisch für die Zögerlichkeit der Justiz. Juristisch scheinen die Dinge klar zu sein. Wann immer es Anlaß zu dem Verdacht gibt, daß es sich um eine Menschenrechtsverletzung gehandelt haben könnte, muß die Militärjustiz die Finger von dem Fall lassen und die zivile Justiz ihn übernehmen. Das hat das Verfassungsgericht mehrfach bestätigt. Wenn es zum Kompetenzstreit zwischen Militärjustiz und ziviler Justiz kommt, entscheidet der oberste Justizrat Kolumbiens, und zwar in aller Regel für die zivile Justiz. Doch zum Stand der Gerichtsverfahren erfährt die internationale Delegation immer wieder, daß sich gleichzeitig zivile und Militärjustiz mit dem Fall beschäftigen. Die Staatsanwaltschaft hat zumeist keinen Zugang zum Tatort, bevor die Streitkräfte die Leiche von dort weggebracht haben. Später sind die öffentlichen Ankläger auf die Beweise angewiesen, die die Streitkräfte ins Verfahren einbringen. Aufgrund der schleppenden Ermittlungen konnte die zivile Justiz in vielen Fällen noch kein Verfahren eröffnen, und solange das Zivilverfahren nicht eröffnet ist, kann die zivile Justiz von der militärischen nicht verlangen, daß sie sich aus dem Fall zurückzieht. Zwar versichert die Führung der Militärjustiz in Bogotá der Delegation, daß die Fälle mit Verdacht auf Menschenrechtsverletzungen an die zivile Justiz übergeben werden, doch ein regionaler Vertreter der Militärjustiz stellt die Gültigkeit dieser Leitlinie für seine Arbeit in Frage. Eine Delegationsteilnehmerin, Anwältin aus Spanien, nennt das katastrophal. Sie sagt: »Wenn die Militärjustiz ermittelt, dann gibt es absolut keine richterliche Unabhängigkeit, weil es militärische Kommandanten derselben Einheit sind, die dort als Richter sitzen. Aber gerade die richterliche Unabhängigkeit ist doch ein Grundpfeiler eines rechtsstaatlichen Verfahrens!« Seit vielen Jahren wird Kolumbien vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte aufgefordert, die Kompetenzen der Militärjustiz einzuschränken. Jedes Jahr aus Neue. Drei Tage lang hört die Delegation Aussage um Aussage, viele der Angehörigen berichten unter Tränen. Besonders schmerzhaft ist für sie, daß nicht nur das Leben ihres Bruders, des Sohnes oder der Ehefrau beendet ist, sondern auch die wahre Persönlichkeit im Gedächtnis der Gemeinde ausgelöscht zu werden droht: Meist wird in den Medien vom »Erfolg« der Streitkräfte berichtet und der Tod eines im Kampf gefallenen Guerilleros gemeldet. Wenn die Angehörigen von Behörde zu Behörde laufen, um endlich die Leiche ausgeliefert zu bekommen, hören sie überall die Geschichte vom angeblichen Guerillero. Die kolumbianischen Menschenrechtsorganisationen sprechen von »falschen Erfolgsmeldungen«. Da die Regierung Uribe von den Streitkräften Erfolge im Kampf gegen die Guerilla gefordert hat, seien diese stark unter Druck, Resultate zu präsentieren – jeder im Gefecht gefallene Guerillero verbessert die Statistik. Die Aussagen der Zeugen zeigen der internationalen Delegation, daß die Soldaten, die im Gefecht Guerilleros töten, oftmals finanzielle Vergünstigungen und zusätzlichen Urlaub bekommen – und daß die Täter in aller Regel straffrei ausgehen. Der kolumbianische Präsident Uribe trägt selbst zur Verschärfung des Klimas bei und verhöhnt die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen: »Die Strategie der Guerilla hat sich verändert: Jedesmal wenn wir der Guerilla Verluste zufügen, mobilisieren sie ihre Koryphäen im In- und Ausland, um zu sagen, es handle sich um eine Außergerichtliche Hinrichtung.« Flavia strahlt Entschlossenheit aus: »Ich will, daß diejenigen, die meinen Sohn getötet haben, dafür bezahlen. Ich will kein Geld und keine Entschädigung, alles, was ich will, ist Gerechtigkeit für das, was geschehen ist.« Alles deutet darauf hin, daß sie auf Gerechtigkeit noch lange warten muß. Der Bericht der internationalen Delegation kann nur einen kleinen Beitrag leisten – immerhin hat er einen gewissen Widerhall im US-Kongreß gefunden, wo auch über die Militärhilfe für Kolumbien entschieden wird. Alexandra Huck arbeitet bei kolko e.V. (Menschenrechte für Kolumbien). Die im Text genannten Namen und Orte sind geändert, um eine mögliche Gefährdung der Zeugen zu vermeiden.
Erschienen in Ossietzky 2/2008 |
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