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Ihre wichtigste Deutung: Die Welt von heute zerfalle in Einzelheiten, Zusammenhänge seien nicht mehr feststellbar, ohne Zusammenhänge sei aber auch keine Erzählung mehr möglich. Nur in Einzelheiten sei die Welt noch darstellbar. Die Erzählung weiche der Aufzählung, die, von keinerlei Absicht und Ansicht getrübt, autonome Erscheinungen belasse, wie sie sind. »Dekonstruktivismus« heißt das philosophische Allheilmittel, das Systeme und Ordnungen auf das zurückführen soll, was sie sind: Gebilde eines »konstitutionellen Irrationalismus«. Wahr sei, was sich dem Diktat der Wahrheit entziehe. Fortschritt die Erkenntnis, daß es kein Fortschreiten mehr gebe. Jean-François Lyotard, Vordenker der Postmoderne, brachte es auf die griffige Formel: »Kämpfen wir gegen den weißen Terror der Wahrheit und für die rote Grausamkeit der Singularitäten.« Heute sei nicht nur die Geschichte am Ende, sondern auch jegliche Ideologie. Große Philosophien, die von historischen Bewegungen handeln – ob bei Bacon, Hegel oder Marx –, seien überhaupt nichts anderes als »Große Erzählungen« und als solche passé. Stillstand ist angesagt, denn Stillstand sichert das Bestehende am besten, genauer: die Bestände. Denn noch nie hat sich das Kapital bei seiner in Wirklichkeit atemlosen ständigen Umwälzung aller Werte in Tauschwerte so unbehelligt gefühlt wie in diesem, Ernst Bloch würde sagen: »objektiv-realen Nebel«. Die organisierte Undurchschaubarkeit, gepredigt von Bildschirm, Kanzel und Katheder, ist zur goldenen Regel heutigen Regierens, Denkens, Schreibens geworden. In diese Zeit nun fällt eine erstaunliche Veröffentlichung. Zunächst erstaunlich, weil sie zu dem gehört, was nach 1989 in die Müll-Container der Schulen und Bibliotheken befördert wurde: DDR-Literatur. Sie sollte so spurlos verschwinden wie die Akademie der Wissenschaft verschwand oder das Schulsystem oder die Polykliniken, die Kinderkrippen, die Gemeindeschwestern und die Industrie, vor allem die, die überlebens-, das heißt konkurrenzfähig war. Ja, selbst ein bloßes Bauwerk wie der Palast der Republik stört den Blick auf den Standort Deutschland und muß nun mit sehr viel Geld und unendlichem Aufwand ins Reich des Vergessens befördert werden. Im Falle der Bücher allerdings gab und gibt es beherzte Verleger wie Elmar Faber, Matthias Oehme, Wiljo Heinen, nicht zu vergessen den Pfarrer Weskott, die dafür sorgten und sorgen, daß DDR-Literatur statt auf dem Müll wieder in den Händen von Lesern landet. So auch geschehen am 14. Dezember 2007, und der kleine mutige Verlag heißt Edition Schwarzdruck. Seit diesem Tag befindet sich nämlich wieder eine Sammlung lang entbehrter Erzählungen, darunter noch nie gedruckte, in unseren Händen, geschrieben von einem Großen der Literatur, der allerdings Wert darauf legt, »DDR-Schriftsteller« genannt zu werden: Günther Rücker. Es ist nur ein schmales Bändchen mit dem bescheidenen Titel »Erste Liebe«, enthält aber eine beträchtliche Weite an Welt. Und es ist zeitbezogen: Es geht davon aus, daß wir, besonders die Jüngeren, uns auf dem Weg nach Pisa befinden, das heißt, daß vieles einfach nicht mehr verstanden wird. Zum Beispiel »Einmarsch der deutschen Wehrmacht ins Sudetengebiet« oder »Internationale Brigaden« oder »Stalingrad« oder »Josip Broz Tito«. Wo auch »Hammer und Sichel« nur noch nützliche Geräte des Kleingärtners bei der Gartenarbeit sind. Darum gibt es am Ende des Bändchens zum ersten Mal in einem Erzählungsband ein Glossarium. Am erstaunlichsten aber ist, daß mit diesem Büchlein ein großer Erzähler zurückkehrt, der – in Zeiten rast- und ratlosen Deutens und Verrätselns – die »Große Erzählung« wieder als sicheren und poetischen Weg von Welterkenntnis vorführt. Zur Größe aber nicht die seltene Größe großer Ereignisse oder großer Männer benötigt, sondern allenfalls die Seltsamkeit des liebevoll beobachteten täglichen und nicht alltäglichen Lebens. Der Weltereignisse sichtbar werden läßt, wenn zum Beispiel jemand bei einem zufälligen Aufenthalt in einem Flughafenrestaurant, wo man wegen Bodennebels in Budapest gezwungen ist zu warten, mit polnischem Akzent einer fremden Deutschen die Frage stellt: »Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir?«. Das ist der Titel einer Geschichte, die, zum ersten Mal veröffentlicht, in einem Gespräch, das so lange dauert, wie man eine Tasse Tee trinkt, die erschütternde Odyssee eines Menschenlebens am Rande des »Krieges der Völker und der Klassen« erzählt, und das mit großem Nachhall und großem Humor. Oder wo im Böhmischen die nicht unkomische Verwandlung des Gottlieb Prochàzka in den Gottfried Prohaska, also das Auswechseln eines Buchstaben und eines Dehnungsstriches ausreicht, Aufstiege und Untergänge ganzer Weltreiche stattfinden zu lassen unter dem Titel »Eine böhmische Geschichte«. Wo Chaos von Kriegen und anderer Menschenvernichtung fern von chaotischer Schreibweise durch die Ruhe der Verständlichkeit um so unbegreiflicher wird. Ich habe lange gesucht, eine passende Formulierung für große Erzähl-Kunst zu finden. Ich fand die beste bei Jean Paul, immerhin über anderthalb Jahrhunderte zurückliegend: »In den abwegigen Winzigkeiten des Lebtags findet man, wenn man diese nur kenne, den wahren Weg der Weltenwahrheit.« Für Günther Rücker, so scheint mir, ist das Erzählen kein bloßes literarisches Genre. Es ist ein Gesamtverhalten, denn es verrät die Beziehung eines Menschen zu anderen Menschen. Bei Günther Rücker ist es ein kommunistisches Verhalten. »Das hat man selten, daß einer gern zuhört. Weiß Gott, wie’s gekommen ist. Bei so vielen Leuten ist die Lust an der Unterhaltung verkümmert – Zuhören und Erzählen, beides ist eine Kunst, Kindchen, und jede Kunst braucht Übung – und schauen Sie sich um, wie die Menschen mit ihrer Kunst umgehen! Macht es nicht traurig? Ihre Gedanken sind klarer geworden, aber ihre Gespräche ärmer. Die Kunst der Rede verhungert; statt zu sprechen, schreibt man Zettel voll und liest ab, die Sätze sind wie verdorrt, die Worte haben ihren Geruch verloren, der Witz hat keine Muskeln mehr. Anstelle der Erzählung von einem zum andern tritt die Mitteilung über drittes.« (So steht es in »Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir«.) Rückers Kunst des Erzählens lernte ich kennen, bevor ich den Erzähler in seinen Büchern kennen lernte. In seinen Filmen nämlich. Sie sind mir wie selten Filme gegenwärtig. Ob es der von den Nazis mit todgeweihten KZ-Häftlingen vorgetäuschte Überfall auf den Sender Gleiwitz war, der den Vorwand zum Angriff auf Polen lieferte (»Der Fall Gleiwitz«); oder ob es die unglaubliche Geschichte der Umwandlung von Schulpforta, über ein Jahrhundert Eliteschmiede nach dem eisernen Prinzip »Deutschland, Deutschland über alles«, in einen Ort einladenden Humanismus ist, bewerkstelligt von einem einzigen, gegenüber dem alten »Lehrkörper« oft auf verlorenem Posten stehenden »Neulehrer« allein mit der Kraft der Überzeugung (»Die besten Jahre«) – diese Filme gehen mir bis heute so nah, daß ich sie jederzeit bis ins Details »nacherzählen« könnte. Und sie können noch und gerade heute in vielem »Lebenshilfe« geben. Erzählen als Verhalten – das gilt auch im Leben des Günther Rücker. Was er selbst in großen Erzählungen erfuhr, mußte er um jeden Preis weitererzählen. Dazu waren ihm seine Geburtstage immer wieder ein willkommener Anlaß. Wollte man ihm zum Beispiel gratulieren oder gar Geschenke überbringen, was in der protokollgeübten Akademie der Künste nahezu unvermeidlich war, wurde dies freundlich und mit Dank zurückgewiesen mit der Bitte, sich dafür mit ihm im Plenarsaal der Akademie gemeinsam Filme anzusehen, die ihm gefallen. Und das jedes Jahr wieder. So sah ich den georgischen Film »Das Gastmahl der Rose« nach Claude Tilliers Erzählung »Mein Onkel Benjamin« mit dem wunderbaren Sergo Sakariadse mindestens vier Mal. Bis dieser Film auch zu meinem Lieblingsfilm wurde, dank eben eines großen Erzählers, der das Erzählen und Zuhören wieder zu einem Lebensprinzip machte und es als solches praktiziert. Günther Rücker: »Erste Liebe«, Edition Schwarzdruck, 145 Seiten, 15€
Erschienen in Ossietzky 1/2008 |
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