Zur normalen Fassung

Symbolischer Bürgerkrieg

Die indigene Bewegung in Bolivien trifft auf Reaktion

von Simón Ramírez Voltaire

Der Streit wird nicht mit Waffen ausgetragen. Dennoch hat der Konflikt zwischen dem bolivianischen Tiefland im Osten und dem andinen Hochland im Westen Boliviens historisches Gewicht wie ein Bürgerkrieg: Es geht um das "nationale" Selbstverständnis. Die jeweiligen politischen Eliten sorgten in den letzten Jahren dafür, daß die beiden Landesteile auseinander drifteten. Heute stehen sich zwei Lager gegenüber, die sich kulturell, wirtschaftlich und politisch immer weiter voneinander abgrenzen.

Jede Seite hat eine eigene Vision von Bolivien. Der andine Teil sieht sich als die Kraft, die den im ganzen Land verankerten Kolonialrassismus endgültig überwinden kann und mit der sich die Indigenen neues Selbstbewußtsein einhauchen können. Ihr Ziel: ein "plurikultureller" Staat, mit Betonung auf wieder entdeckten indianischen Prinzipien. Sie sollen bei der "Neugründung der Republik" zu Leitbildern werden.

Der andere Teil Boliviens nennt sich "Halbmond", weil er aus den fünf halbkreisförmigen departamentos Beni, Pando, Chuquisaca, Tarija und Santa Cruz besteht. Es sind vor allem Unternehmer und einflußreiche Angehörige der alten Elite, die seit der Regierungsübernahme des Indigenen Evo Morales nach Kräften daran arbeiten, dass die "media luna" zum Pol gegen die Regierung in La Paz wird. Ihr wichtigster Akteur ist das Comité Cívico Pro Santa Cruz, in dem sich Wirtschaftselite und Oligarchien versammeln, um ihre Opposition zu artikulieren. Angesiedelt ist es in der Stadt Santa Cruz, dem Wirtschaftszentrum des Landes mit einer Million Einwohner. Das Comité wurde 1950 gegründet und sieht sich historisch als wichtiger elitärer Impulsgeber für die nationale Politik und als "moralische Regierung" der Cruzeños.

"I was in Bolivia"

Die stärkste Waffe des Comités ist der nationalistisch-populistische Diskurs, mit dem es die Cruzeños als eine eigenständige Nation - die "Cambas" - anruft. Das Comité versucht, die Region identitär und politisch immer stärker von der andinen Bevölkerung abzugrenzen. Es fordert mehr Autonomie vom Zentralstaat und kann dabei auf den cruzeñischen Mythos bauen, aus eigener Kraft von einer vergessenen Region zum Motor der bolivianischen Wirtschaft geworden zu sein. Dies reicht bis hin zu Rufen nach einer Abspaltung vom Rest des Landes. Schon jetzt scherzt man dort in wohlhabenden Kreisen nach einem Aufenthalt in La Paz gerne: "I was in Bolivia".

Der angeheizte Camba-Nationalismus des Comités ist die politische und ideelle Antwort auf die erstarkte Indígenabewegung. Auf den antirassistischen Kampf der Indígenas reagierte die sich ethnisch überlegen fühlende Oberschicht mit einer Radikalisierung ihres Herrschaftsanspruches. Damit wird sie zum Motor einer unheilvollen Dynamik: Das Erbe des Kolonialismus - die Existenz einer privilegierten weißen Oberschicht, rassistische Diskriminierung, ungleiche Teilhabe - ist der Ursprung eines gesellschaftlichen Konfliktes, den Akteure wie das Comité immer weiter in Richtung einer ethnisch verschärften Spaltung zwischen Osten und Westen des Landes zuspitzen. Deshalb sprechen bolivianische Analysten bereits von einer "Balkanisierung" Boliviens.

Sucre oder La Paz?

Einen deutlichen Ausdruck findet dieser Konflikt in der Verfassungsgebenden Versammlung, die nach einer Volksbefragung ihre Arbeit im August 2006 in Sucre aufnahm (siehe Kasten). Die feindlichen Lager der beiden Boliviens stehen sich hier gegenüber. Trotz der Brisanz der sich verschärfenden Polarisierung ist diese Versammlung aber auch ein Zeichen für die Stabilität der bolivianischen Demokratie: Im Moment der extremen Krise werden die Konflikte immer wieder auf das politische Terrain zurückgeführt. Sie eskalieren nicht in gewalttätigen Konfrontationen, obwohl es durchaus derartige Provokationen und Akteure gibt, wie etwa der "bewaffnete Arm" des Comités, die "Cruzeñistische Jugendunion". Der - wenn auch zähe - Verfassungsprozeß ist somit auch ein Erfolg der bolivianischen Demokratie.

Das Regierungslager verfügt in der Verfassungsgebenden Versammlung über die absolute, nicht aber über die Zweidrittelmehrheit. Nur sie würde es der Evo Morales nahe stehenden Reformbewegung ermöglichen, die neue Verfassung allein nach ihren Vorstellungen zu verabschieden. Die Opposition nutzt dagegen ihr Gewicht, um eine indigen geprägte Verfassung zu blockieren. Das Gezerre in der Versammlung stürzte das Gremium, das Bolivien eigentlich neu gründen sollte, in eine anhaltende Krise. Die Frist für die Verabschiedung der neuen Magna Charta wurde deshalb bis Dezember 2007 verlängert. Im September schlossen Regierung und Opposition eine "nationale Vereinbarung", um den Weg für Kompromisse zu ebnen und den Verfassungsprozeß weiter zu bringen - die "letzte Chance" für eine Einigung, so Kommentatoren.

In der Verfassungsgebenden Versammlung, in der 16 verschieden Gruppen und Parteien vertreten sind, geht es unter anderem um die künftige Staatsform (Zentralstaat versus Föderalismus) und Staatsorganisation, die Rolle der Indígenas, Bodenschätze, die Rolle des Staates in der Wirtschaft und die Landfrage. Auch das kulturelle Selbstverständnis des künftigen Staates und seiner Symbole sorgten für Streit.

Am stärksten ist der symbolische Kampf über das künftige Bolivien in der Debatte um die Hauptstadt verdichtet: Während das "andine Bolivien" seinen zentralen Sitz weiterhin in La Paz haben möchte, schlägt die Opposition vor, daß Sucre künftig Hauptstadt und Regierungssitz sein soll. Hiermit soll eine republikanische Tradition konstruiert werden, die in Sucre ihren gründungshistorischen Sitz haben soll.

Eine fragmentierte Nation

Die sich in der Verfassungsgebenden Versammlung und im Hauptstadt-Streit zugespitzte Polarisierung zeigt, wie sehr in der bolivianischen Gesellschaft das kollektive Imaginäre und die symbolischen Repräsentationen neu ausgehandelt werden. Mit dem neuen indigenen Selbstbewußtsein und dem verstärkten Vordringen indigener Akteure in das politische Terrain seit Beginn der 1990er Jahre ist das bisher tragende Selbstverständnis des bolivianischen Nationalstaates mitsamt seiner symbolisch-institutionellen Ordnung auseinander gebrochen. Der Zusammenhang zwischen einer "Ethnisierung des Politischen" und den veränderten Bedingungen für politisches Handeln im Neoliberalismus - Rückzug des Staates, sozio-ökonomischer Wandel, Wiederaufwertung der Gemeinschaft - ist in Bolivien deutlich ausgeprägt (siehe den Beitrag von Olaf Kaltmeier in diesem Themenschwerpunkt).

Historisch gesehen ist die bolivianische "Nation" allerdings nie besonders stabil gewesen. Seit der Revolution von 1952 sollte sie auf dem "Mestizischen" gründen - der Konstruktion einer Mischlingsnation aus Nachfahren der Spanier und Ureinwohner. De facto ist Bolivien in hohem Maße plurikulturell: 30,7 Prozent der Bolivianer sehen sich heute als Ketschua, 25,2 Prozent als Aymara, 1,6 Prozent als Guaraní, 2,2 Prozent als Chiquitanos und 0,9 Prozent als Mojeños. 1,4 Prozent fühlen sich einer der weiteren rund 30 erfaßten ethnolinguistischen Gruppen zugehörig. Nach diesen Selbstzuschreibungen, die im Hinblick auf die kollektiven Imaginationen das wichtigste quantitative Kriterium sind, sehen sich also 62 Prozent der Bolivianer als Indígenas.

Die Statistik spiegelt teilweise die Polarisierung des Landes wider: Während sich in den Halbmond-Departmentos Beni, Santa Cruz und Tarija eine Mehrheit zwischen 67 und 80 Prozent als "nicht indigen" fühlt, bezeichnen sich in La Paz, Oruro, Potosi, Cochabamba, Chuquisaca und Pando 64 bis 83,9 Prozent als Indígenas.

Für die politische Ethnizität kann die ethnolinguistische Zusammensetzung nur bedingt Auskunft geben - zumal Statistiken über solche Selbstzuschreibungen ein falsches Bild von klar abgegrenzten und homogenen "Ethnien" suggerieren können. Sie geben aber Aufschluß darüber, wie viele Bolivianer sich zu einem bestimmten Zeitpunkt als Indígenas betrachten. Die Ergebnisse sind sowohl von der politischen Konjunktur abhängig - es liegt nahe, daß sich bei starker indigener Mobilisierung mehr Menschen als Indígenas fühlen -, als auch vom normativen Ansatz und den politischen Interessen, die sich in der Methodik einer solchen Studie niederschlagen. So kam eine Erhebung im Jahre 1900 zu dem Resultat, daß die indigene "Rasse" im Begriff sei, zu verschwinden. 1950 wurden dagegen 63 Prozent Indígenas errechnet, während zwischen 1952 und 1992 das Indigene aus der offiziellen Sprache völlig ausgeblendet wurde.

"Bauer" oder "Indígena"?

Ein Wandlungsprozeß der indigenen politischen Subjektivität ist in der Geschichte der Einzigen Syndikalen Konföderation der Bolivianischen Landarbeiter (CSUTCB) erkennbar. Sie ist ein überregionaler indigen-syndikaler Verband neben weiteren Indígena-Organisationen, die zwar auch in der Zentralpolitik in Erscheinung treten, aber regional verwurzelt sind. In die CSUTCB ist das Ringen um die politische Subjektivität - zwischen Klasse und Ethnizität - eingeschrieben. Ihr Vorlauf geht bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, formal gibt es die CSUTCB seit 1979. Sie ist die vereinte Organisation der bäuerlichen Gewerkschaftsbewegung, die seit der Revolution von 1952 zu einem mächtigen Akteur in den Aushandlungen mit zivilen und militärischen Regierungen wurde.

Die CSUTCB ist Teil der Dachgewerkschaft Bolivianische Arbeiterzentrale (COB), in der neben anderen auch die Minen-, Kokabauern- und Bäuerinnengewerkschaft Mitglieder sind. Die widersprüchliche Konstruktion der bolivianischen Subalternen als Bauern, bzw. Arbeiter oder Indígenas durchzieht die Geschichte der bolivianischen Gewerkschaftsbewegung: Je nach historischer Konstellation überwog stets eine Definition. Vereinfacht läßt sich sagen, daß innerhalb der Gewerkschaften und der CSUTCB immer ein Kampf zwischen dem indigenen und dem Arbeiter- oder Bauernsubjekt um die Definitionsmacht herrscht. Bis in die 1990er Jahre hinein waren sie teilweise stark vom marxistischen, arbeiterzentrierten Diskurs der Minengewerkschaft FSTMB geprägt, danach bekam die indigene Ausrichtung immer größeres Gewicht, in der heute die CSUTCB eine Leitfunktion hat.

Die Bauerngewerkschaft ist ein bedeutender Faktor bei der Kanalisierung und Vermittlung von Politik in Bolivien: Selbstbewußte Schätzungen errechnen, daß die CSUTCB heute mit 3,8 Millionen eingegliederten Indígenas Boliviens Organisation mit den meisten Mitgliedern ist, bei einer Einwohnerzahl von rund 8 Millionen.

Die Besonderheit der CSUTCB und des bolivianischen Korporatismus liegt darin, daß sie sich nicht auf die Funktion einer Gewerkschaft beschränken lassen. Bis heute ist die Struktur der CSUTCB, die von der Regierungsspitze bis in kleinste bäuerliche Gemeinden reicht, in vielen Regionen Boliviens die zentrale Form der sozialen und politischen Organisation. Ihre kleinste Einheit ist das sindicato. Das sindicato hat dort, wo es stark ausgeprägt ist, zwei Funktionen inne: Es ist staatliche Verwaltung und Vertreter der indigenen Ordnung. Elemente indigener Organisation finden sich in fast jedem sindicato, zum Beispiel Ämterrotation, die Organisation von Zeremonien und die kollektive Entscheidungsfindung in der Vollversammlung.

Es gibt aber auch Fälle wie im Norden Potosís, in denen die sindicato-Organisation im offenen Konflikt zur indigenen Ordnung - hier den "Ayllus" der Aymaras - steht. Häufig gibt es Mischformen, wie sie in der Hochebene von La Paz weit verbreitet sind. Vor allem in der Region Cochabamba gilt das sindicato als am stärksten akzeptiert. Das Verhältnis von indigenen und syndikalen Strukturen läßt sich kaum für das ganze Territorium bestimmen. Wichtig ist aber die grundlegende Bedeutung, die die sindicato-Struktur historisch und gegenwärtig in vielen Regionen für Politik und Staatsbildung hat.

Ist der Demos ein Ethnos?

Die staatlich-politische Organisation ist somit vor allem auf lokaler Ebene weithin von indigen-syndikalistischen Organisationsformen sowie indigenen Imaginationen über Nation und Staat durchdrungen. Verstärkt wurde dies durch das Gesetz der participación popular von 1994, das eine Dezentralisierung von Verwaltung und politischer Beteiligung zum Ziel hatte.

Politische Ethnizität ist in Bolivien also mehr als ein solidarischer Zusammenschluß ethnisch definierter Gruppen, um den Ausgeschlossenen eine Stimme zu geben (panethnische Bewegung). Im bolivianischen Staatsbildungsprozeß sind indigene Formen längst eingeschrieben und Teil seiner täglichen Praxis. Mit der Wieder-Erfindung ihrer Traditionen" (so ein geflügeltes Wort des Historikers Eric Hobsbawm) und der Ausbildung politischer Ethnizität wurden sie wieder aufgewertet.

Somit versteht sich die Konstruktion des Demos vielerorts immer mehr als Konstruktion eines Ethnos - die Bürgerschaft ist indigen. Politik wird in der comunidad mit Hilfe indigener Deutungsmuster vermittelt. Politische Ethnizität ist zu einer Form geworden, die Beziehung zwischen Zentralstaat und der Peripherie zu regulieren. Sie trägt zur Legitimierung des gesamten Staatsgefüges bei - auch wenn dies nicht immer als solche anerkannt wird. Das andin-indigene Imaginäre hat also in dem Konflikt mit den Nationalisten in Santa Cruz durchaus eine institutionell-materielle Grundlage.

Vor diesem Hintergrund plädiert das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) für eine neue Sicht auf den bolivianischen Staat: Anstatt von einem failed state auszugehen und der Illusion eines liberalen Einheitsstaates anzuhängen, sollten künftig die unterschiedlichen Vorstellungen über Bolivien in einem pluralistischen Sinne stärker betont werden. Der Beitrag der täglichen, häufig indigen geprägten Praxen zur Herausbildung des bolivianischen Staates solle stärker anerkannt werden. Um aus dem "Labyrinth" der bolivianischen Krise herauszukommen, solle ein neues Staatverständnis mit einem Vokabular "made in Bolivia" konstruiert werden (PNUD 2007).

Zwei Seiten einer Medaille

Die ethnisch konnotierten Konflikte in Bolivien sind ein Kampf der unterschiedlichen "imaginarios". Doch wäre es verkürzt, die Auseinandersetzungen allein auf diese Dimension zu reduzieren. Denn die ethnisch konnotierte Spaltung in Osten und Westen überlagert sich mit Konflikten um Zugang zur politischen Macht, Klassenauseinandersetzungen, der Kontrolle über natürliche Ressourcen und Staatseinnahmen. So sind in Santa Cruz der (nicht selten illegale) Großgrundbesitz, die hohe Konzentration an der einträglichen Erdgasförderung und die Wirtschaftskraft der Region Gründe für das massive Eintreten der "Cambas" für ihre Interessen. Etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden in Santa Cruz erwirtschaftet.

Die imaginäre Polarisierung Boliviens zeigt die Widersprüchlichkeit und gleichzeitig die Gefahren einer Dynamik auf, in der zunehmend ethnisch argumentiert wird: Auf den Emanzipationsprozeß und das neue Selbstbewußtsein der indigenen Bevölkerung reagiert die weiße Elite mit einem auf dem alten Rassismus basierenden "Camba"-Nationalismus. Was bei den Indígenas befreiend wirkt, wandelt sich auf der Gegenseite in einen brandgefährlichen Chauvinismus, der zu einer Art symbolischen Bürgerkrieg führt.

In dieser Dynamik sind beide Parteien Gefangene: Für die indigene Bewegung und die Regierung erschweren sich die Bedingungen, eine neue Staatsverfassung mit indigenen Elementen zu errichten, während die Camba-Seite in einem Unternehmer-Populismus festgefahren ist. Die Konstruktion eines integrierenden kollektiven Imaginären, in dem sich die Bürger als Bolivianer und als Mitglieder eines Subkollektivs wie Ketschuas, Cambas oder Aymaras fühlen können, rückt in die Ferne.

Literatur:

Centro de Estudios para el Desarrollo Urbano y Regional (CEDURE) (2005): Santa Cruz y su gente. Santa Cruz

Alvaro García Linera (Coord.) (2004): Sociología de los movimientos sociales en Bolivia. La Paz

Programa de las Naciones Unidas para el Desarollo (PNUD/UNDP) (2007): Informe Nacional sobre Desarrollo Humano 2007. El estado del estado en Bolivia. La Paz

Ramiro Molina B./ Xavier Albó (2006): Gama étnica y lingüística de la población boliviana. La Paz

Simón Ramírez Voltaire ist Politikwissenschaftler und promoviert am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin über lokale Demokratie-Prozesse und fragmentierte Staatsbildung in Bolivien.
Dieser Beitrag erschienen zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 303.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/47923c2628e36/1.phtml

sopos 1/2008