Gänsehaut, innen, außen

Anne Dessau  

Der große ehemalige Maschinenraum im Berliner »Radialsystem V« ist kahl, fast leer. Im Zentrum Stühle, kreisförmig aufgestellt. Grelles Spotlicht, anfangs störend, alsbald bemerkt man: Das ist Programm. »Ruhe« heißt die Aufführung. Josse De Pauw (Konzept, Regie, Darsteller) führt Lieder von Franz Schubert, Texte der niederländischen Autoren Armando und Hans Sleutelaar, Sänger des Collegium Vocale aus Gent und Schauspieler des ebenfalls belgischen »Muziektheaters Transparent« zu einem außerordentlichen Ereignis zusammen.

Kaum hat das Publikum Platz genommen, stehen zwölf Männer mitten unter uns auf ihren Stühlen und singen Schuberts »Ruhe ist das schönste Gut auf Erden«. Tief berührend ist ihr Gesang. Man schwelgt romantisch verklärt mit Schubert, dem Chor. Gänsehaut, außen.

Eingelullt von weiteren Liedern hat man vergessen, was die Vorschau angekündigte, weswegen man kam: »Die Vorstellung ›Ruhe‹ beruht auf Monologen aus dem Buch ›De SS´ers‹, in dem die niederländischen Autoren Interviews mit Landsleuten publizierten, die sich im 2. Weltkrieg auf die Seite der Deutschen geschlagen hatten. Eingegliedert in die SS, kämpften sie an der Ostfront, arbeiteten in SS-Lazaretten.«

Der Gesang verklingt, die Sänger klettern von den Stühlen, ein junge Frau (Carly Wijs) erhebt sich aus unserer Mitte, erzählt. Erst entschuldigend, daß sie so jung war, damals, kaum zwanzig, daß sie – oh, ja! – den Herrn Hitler gesehen habe, kurz vor 45, den Himmler auch, der war wirklich nett. Sie hatte ihn mit »Heil Hitler« gegrüßt, gickert sie in wohlig-schauriger Erinnerung, er wünschte der jungen Dame galant einen guten Tag. Tja und in dem Lazarett all die Amputierten, die Haufen Beine, Arme, die zerschossenen Gesichter – das war schon furchtbar. Wenn sie dann die orthopädischen Glieder handhaben lernten – wie rührend, man ahnte, daß es schöne junge Menschen waren, vorher. So plaudert sie, erinnert sich, als wäre sie die Teilnehmerin eines zwar beschwerlichen, aber auch durchaus heiteren Ausflugs gewesen. Gänsehaut, innen.

Wieder umschmeichelt uns Schubert-Gesang mit Wehmut, Wein und Liebe, Maienschwung und friedlichem Frieden. Im darauf folgenden Monolog verteidigt ein Mann (Josse De Pauw) die Rassentheorie. »Die Juden selbst sind darauf bedacht, ihre Rasse rein zu halten. Töchter wurden verstoßen, heirateten sie einen Christen. Das ist noch nicht lang her. Die wollen auch kein fremdes Blut in ihrem Volk. Die Rasse rein halten. Das wollen doch alle. Das hat man schon lange vor Hitler gewußt. Die Massenvernichtung der Juden! Welche Legende! Summiert man die angeblich belegten Zahlen, übersteigen sie die Menge der Weltbevölkerung! Welche Irreführung. Bedenkt man nur mal die 60.000 Toten nach dem Bombenangriff auf Dresden und  vergleicht diesen Schrecken mit dem Gastod der Juden: Man atmet, ist tot. Aus. Die waren eben in der Minderheit. Damals. Jetzt bin ich es es, der Alt-SSler. Minderheiten sind immer Fremdköper. Werden abgestoßen. Muß man warten, bis aus Minderheiten Mehrheiten werden. Das ist so. Oder der Rußlandfeldzug. Wieso sind wir Deutschen so verteufelt wegen unserer Kriege? Nimm die Amerikaner und Vietnam. Die schicken ihre Leute in den Tod und sind stolz auf ihre Helden. Heute noch. Wir Deutschen dagegen – ewig schuldig.«

Die beeindruckende Arbeit der Schauspieler vermittelt die Texte der »SSler« grotesk, lapidar, stumpf. Im Takt von Schubertliedern. Der gewöhnliche Faschismus hockt mit uns auf den Stühlen. Gänsehaut, innen, außen.

Erschienen in Ossietzky 25/2007