Unsre Heimat sind Städte und Dörfer

Matthias Biskupek  

Vor einem guten Dutzend Jahren war es: Ich mochte nicht mehr gern sagen, daß ich im thüringischen Rudolstadt lebe. Denn dort waren 1992 die Nazis durch die Stadt marschiert. Aus den Fenstern hatten Bürger brav zugeschaut und beifällig genickt.

Damals sagte ich: Ich lebe zwar in Rudolstadt – aber ich stamme aus Mittweida. Dieser Name war friedlich und unverfänglich.

Was soll ich jetzt sagen? Ich bin in jenem Mittweida groß geworden, wo am Lauenhainer Weg die Leute wegsehen, wenn Nazis ein Kind malträtieren und ein Mädchen, das zu Hilfe eilt, mit ihren Insignien brandmarken?

Am Lauenhainer Weg, meinem Schulweg, gab es damals noch keinen Supermarkt, nicht mal eine Kaufhalle, nur ein paar Felder, könnte ich mich herausreden.

Soll ich beschwichtigen: Ich habe ja ganz woanders studiert, in Magdeburg? Sofort hieße es: Das ist doch dort, wo man Ausländer jagt, am Himmelfahrtstag. Soll ich erzählen, daß ich als Student dort vor Jahrzehnten zusammengeschlagen wurde? Nur weil ich eben wie ein Student aussah – anders als die Schläger.

Soll ich verraten, daß ich Verwandte in Mügeln habe? Ach hieße es, in Mügeln, dem hübschen kleinen Nazi-Städtchen?

Darf ich noch erzählen, daß ich oft und gern in der Sächsischen Schweiz wanderte? Schon würde man mir sächsische Nazi-Wahl-Prozente vorhalten. Denn die Abkürzung dieses romantischsten Gebirges der Deutschen lautet derzeit ganz normal SS, und SA steht für Mittweida und dessen Sturm 34.

Ich bin es leid, mich für all die Städte und Landschaften zu entschuldigen, die am Wege meiner Biografie liegen. Noch mehr bin ich es leid, von allen Verantwortungsträgern zu hören, daß es keine Nazi-Gefahr gebe, daß es sich nur um ein paar irregeleitete Jugendliche handele, daß die demokratische Gesellschaft alles tue, um Toleranz und Ausländerfreundlichkeit zu stärken.

Niemand ist in diesem Land Nazi. Niemand trägt Nazi-Klamotten von Thor Steinar. Niemand brüllt »Ausländer raus!«. Niemand leugnet Auschwitz. Niemand wählt NPD. Niemand organisiert Nazi-Demos. Niemand erlaubt sie. Niemand verwüstet Friedhöfe. Niemand schlägt den anderen, den Fremden, den Juden, den Behinderten, den Bunten. Niemand hat etwas gesehen. Niemand hat hinter den Gardinen gestanden. Niemand wohnt in Städten wie Rudolstadt, Magdeburg und Mügeln. Niemand heißt Mittweida.

Erschienen in Ossietzky 24/2007