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Im Sommer sind im Nordirak zwei jesidische Dörfer durch explodierende Tanklastwagen ausgelöscht, hunderte von Menschen ermordet worden. »Die Geschichte der neuen Exklusion beginnt bei und mit den Flüchtlingen, das Asyl-, das Flüchtlings- und Ausländerrecht war und ist ihr Exerzierfeld, dort wurden Rechtsverkürzung, Leistungsverkürzung, Ausgrenzung erstmals ausprobiert und praktiziert. Bei den Flüchtlingen wurde die Politik der Entsolidarisierung eingeübt, Opfer waren die Schwächsten der Schwachen. Seitdem folgen die anderen Schwachen.« Heribert Prantl hat das richtig erkannt. Die Kinder essen nicht gut. Sie sind oft krank. Für jeden Arztbesuch müssen die Eltern einen neuen Schein beim Sozialamt holen. Wird ein Kind an einem Tag krank, an dem das Sozialamt keine Sprechstunde hat, können sie es nicht zum Arzt bringen. Der Älteste ist gerade in die Schule gekommen und dort schon zusammengebrochen. Er hat tiefe dunkle Augenränder. Er geht in eine Ganztagsschule, das Mittagessen dort können sie sich nicht leisten. Bei Sozialhilfe und Hartz IV sind 87 Cent pro Kind fürs Mittagessen eingeplant. Das Essen in der Schule kostet 2,20 Euro. Die Schule setzt die Mutter unter Druck, daß sie den Kindern Schwarz- und nicht Weißbrot mitgeben soll. Das ist teurer, gutes erst recht. Die angestiegenen Milchpreise sind für die Familie mit drei kleinen Kindern katastrophal. Die Kinder spüren den Druck, unter dem die Eltern stehen. Ich helfe der jungen Mutter, mache aus dem Essen ein Spiel, so essen die beiden Jungen den Teller leer. Als der Älteste den Kühlschrank aufmacht, um Milch herauszuholen, sehe ich zwei Margarinebecher, etwas Käse, etwas Gemüse, Milch. Sonst nichts. Ich selber bin erwerbslos, kann die Familie finanziell nicht unterstützen, aber ich kann den Nachbarn Hilfe geben, wenn sie bei Amtspost und Behördengängen und bei der Kindererziehung Hilfe brauchen. Oberhausen hat eine hohe Arbeitslosigkeit. Es gibt drei Ausgabestellen der Tafel. Politisch bin ich gegen die Tafel. Warum? Weil sie eine Notlösung ist, die das wirkliche Problem ungelöst läßt. Es darf doch nicht sein, daß in diesem reichen Land immer mehr Menschen von zufälligen Resten leben müssen, daß arme Kinder keine Schulbücher mehr haben und die Gesundheitsversorgung schlechter wird. Es ist die Pflicht der politischen Entscheider, die Marktdefekte zu korrigieren. Aber sie tun es nicht . Ich weiß mir keinen anderen Rat: Am Samstagvormittag gehe ich mit der jungen Mutter und den drei kleinen Kindern zur Tafel. Es ist Ende Oktober, kalt. Ich habe zur Zeit noch eine Monatskarte, auf die ich am Wochenende eine erwachsene Person und drei Kinder mitnehmen kann. Wir können also mit dem Bus fahren, steigen aber an einer verkehrten Haltestelle aus und haben noch ein langes Stück zu gehen. Muß die junge Frau den ganzen Weg gehen, sind es hin und zurück sechs Kilometer. Geld für den Bus hat sie nicht. Wir kommen gegen halb eins an der Ausgabestelle an. Es ist der Innenhof einer Kirche. Etwa 150 Menschen stehen bereits dort. Viele Gesichter sind grau, vom Leben enttäuscht. Einigen ist die Flucht in den Alkohol anzusehen. Die Armut sieht man nicht nur, man riecht sie auch. Selber von Armut bedroht, spüre ich die Scham bei vielen bis ins Innerste. Samstags gibt es auch eine Suppenküche. Wir gehen hinein. Ein Mann hat die Aufgabe, »für Ordnung zu sorgen«. Gib einem Mann eine kleine Macht, und er wird sie auskosten. In schroffem Ton befiehlt er, fährt uns an, als wir uns zunächst mal umsehen: »Hier ist kein Aufenthaltsort. Entweder gehen Sie etwas essen oder wieder nach draußen.« Nur eines der Kinder möchte etwas essen. Ich setzte mich mit den dreien hin und füttere sie wieder spielerisch. Sonst würde der Teller nicht leer. Das Prozedere bei dieser Tafel: Man muß um 12 Uhr da sein, um eine Nummer zu ziehen. Die Nummern liegen in einem Korb. Hat man Glück, zieht man eine Nummer bis 20. Hat man Pech, bekommt man die Nummer 143. Zum Glück war eine Freundin von uns schon um 12 da und hat für uns eine Nummer gezogen. Noch mal Glück: Es ist die Nummer 6. Dann warten, draußen mit drei kleinen Kindern. Gegen halb zwei beginnt die Ausgabe. Die Menschen haben sich nun nach ihren Nummern aufgereiht. Der Ordnungsmann fährt immer barsch dazwischen. Erst kommen die Schwerbehinderten. Dann jeweils fünf Personen. Die Ausgabestelle ist in der Kirche, von außen nicht einzusehen. Ich bleibe mit zwei Kindern draußen. Drinnen werden die Lebensmittel zugeteilt, die Leute können sich nicht nach Bedarf etwas aussuchen. Nach etwa 15 Minuten kommt die junge Frau aus dem Kirchenraum wieder heraus. An der Türschwelle kippt der Korb vom Rollerständer, den ich ihr gegeben hatte, alles liegt auf der Erde. Sie packt schnell ein und kommt zur Tür. Wir gehen zum Hofausgang. Sie freut sich über das Gemüse und das Obst für die Kinder, was sie sich sonst nicht kaufen kann, ein Pfund Weintrauben, eine Ananas, Äpfel, Orangen, Bananen, alles an der Verfallsgrenze, Salat, Möhren, Rosenkohl, Paprika, Tomaten, Schokoladenpudding, ein paar Berliner. Auf dem Rückweg schlafen die Kinder fast im Stehen ein, so erschöpft sind sie. Dreieinhalb Stunden haben wir gebraucht, um Lebensmittel, eine Tasche voll, zu bekommen, deren Verfallsdatum erreicht ist. Ich backe mein Brot selber. Zur Zeit kostet das Kilo Weizen noch einen Euro, der Preis soll verdoppelt werden, Dinkel 1,70 Euro. Nehme ich halb und halb und ein paar Sonnenblumen- oder Kürbiskerne, kostet mein Brot für zehn Tage drei Euro. Ich werde der jungen Frau meine Kornmühle ausborgen, ihr zeigen, wie man Brot backt, das wird die Ernährungslage ein Stückchen verbessern. In Hof hinter unserem Haus ist an diesem Samstag »Eifelmarkt«. Bauern und Bäuerinnen aus der Eifel stellen ihre Produkte vor und verkaufen sie. Käse, Wein, Wurst, Fleisch, geräucherte Forellen, Obst, Wollsachen, Obstbrände und anderes. Der Hof ist voll mit gut gekleideten Menschen. Die Produkte sind teuer. Ein kleiner Ziegenkäse kostet 5,40 Euro. Im September war ich ein paar Tage mit einer Freundin in der Eifel. Habe mir Wintervorräte – Kartoffeln, Rote Beete, Weizen, Dinkel – direkt von einem kleinen Bauernhof geholt und mich mit Bauern unterhalten. Sie erzählten vom Sterben der Höfe, von der zunehmenden Produktion von Mais für Sprit statt Nahrung. Alles muß möglichst viel Geld bringen. Gemeinden erheben bereits Eintrittsgeld für den Wald, wenn Kindergruppen eine Exkursion machen wollen. Zum Abschluß des Marktes lesen Krimi-Autoren aus der Eifel. Den Kindern der armenischen Familie ist aus unserem Hof ein kleines Fahrrad und ein Roller gestohlen worden. Die Eltern hatten unter großer Mühe das Geld dafür zusammengebracht. Nun sammeln wir bei der Autorenlesung – die ganze Summe. Die Kinder werden sich freuen. Sie brauchen Freude. An diesem Wochenende ist der Hamburger Parteitag der SPD. Als ich die Fensterreden höre, muß ich abschalten, kann sie nicht ertragen. Mit einem Mal Parteinahme für die Schwachen? Wer soll das glauben?
Erschienen in Ossietzky 23/2007 |
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