Die Rechnung

Thomas Rothschild

Machen wir die Rechnung auf: Man ziehe von der Summe der Verbrechen, der Unmenschlichkeiten, der Übel in der Sowjetunion die Verbrechen, Unmenschlichkeiten, Übel des postsowjetischen Rußland ab. Was unterm Strich übrig bleibt, geht auf das Konto eines Systems, das seine Urheber in Übereinstimmung mit seinen Feinden »Sozialismus« nannten und das damit so viel zu tun hatte wie die Inquisition mit dem Christentum. Der Rest aber ist nicht »sozialistisch«, sondern russisch. Es liegt im dringenden Interesse derer, die den Sozialismus ein für alle Mal als politische Option austilgen wollen, die sowjetischen Schrecken als sozialistisch zu definieren, auch wenn sie in Wahrheit russisch sind.

Man ziehe zur Ergänzung von den Unzulänglichkeiten in Putins Rußland die Unzulänglichkeiten der UdSSR ab. Was da unter dem Strich übrig bleibt, geht auf das Konto des Kapitalismus, und es ist nicht wenig. Es macht plausibel, daß jene, die sich heute in Rußland nach sowjetischen Verhältnissen zurücksehnen, weil ihnen ein paar Schuhe und eine bezahlbare Miete wichtiger sind als Pressefreiheit und weil die jetzt überall erhältlichen russischen Ausgaben von Computer-BILD oder diversen Pornomagazinen sie nicht satt machen, nicht bloß unbelehrbare Nostalgiker sind.

Wie aber, wird man vielleicht einwenden, passen die DDR und die CSSR, überhaupt die Länder des Warschauer Pakts in dieses Modell? Sehr einfach, wenn man endlich zur Kenntnis nimmt, daß sie russische Kolonien waren wie schon vor der Gründung der Sowjetunion Georgien oder Usbekistan und daß sie tatsächlich von 1945 bis 1989 so russisch waren wie Indien lange Zeit britisch, Algerien französisch und Indonesien niederländisch. Daß »Sozialismus« ohne den direkten Einfluss Rußlands auch ganz anders aussehen kann, bewiesen zum Beispiel Allendes Chile oder das Nicaragua der Sandinisten. Wer den Sozialismus mit der russischen Gewaltherrschaft zwischen 1917 und 1990 gleichsetzt, müßte konsequenterweise Putins Rußland als Modell der kapitalistischen Demokratie akzeptieren.

Obwohl nichts logischer erscheint als eben dies, obwohl alle faschistischen Diktaturen, die auf der Basis einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung funktionierten, das Gegenteil beweisen, hält sich das Gerücht, daß der Sozialismus Barbarei bedeute, der Kapitalismus aber Freiheit und Demokratie garantiere. So verrät uns Wolf Biermann, den wir einmal bewundert haben, in einem seiner jüngsten Bekenntnisse: »Die revolutionären Linken, wo sie an die Macht kamen, erwiesen sich als noch asozialer und massenmörderischer als die Rechten.« Einfach so, ganz pauschal. Vergessen, woher die Mörder seines Vaters kamen. Sie waren für den Poeten, der einst prophezeit hat, daß die Erde, »so oder so«, rot werde, offenbar weniger asozial, weniger massenmörderisch als die revolutionären Linken, die etwa in der von Biermann einst besungenen Pariser Commune, in der Bayrischen Räterepublik, in der Tschechoslowakei des »Prager Frühlings« »an die Macht kamen«. Wer die revolutionären Linken mit Stalins Schergen gleichsetzt, bei den Bewahrern des Kapitalismus aber Hitler, Franco und Pinochet wegretuschiert, muß sich vorhalten lassen, daß er sich ein sehr bequemes Weltbild zugelegt hat.

Machen wie die Rechnung auf. Eine unverdächtige Presseagentur meldet vom 15. September: »Bei einem Protestmarsch Tausender Irak-Kriegsgegner sind am Samstag vor dem Kapitol in Washington rund 200 Menschen festgenommen worden. Die 197 Demonstranten hatten nach Angaben der Veranstalter versucht, die Sicherheitsabsperrung vor dem US-Kongreß zu überwinden und den Abgeordneten und Senatoren eine Botschaft gegen den Krieg zu übergeben. Die Polizei setzte Reizgas ein.« Man ziehe von diesen Verhältnissen die Art ab, wie man in »linken« Diktaturen mit Protestanten umgeht. Was unterm Strich übrig bleibt, ist die Demonstrationsfreiheit, die uns von den Apologeten des Kapitalismus im Allgemeinen und der USA im Besonderen stets als unverzichtbares Kriterium der Demokratie benannt wird. Wo sie eingeschränkt wird, wie zum Beispiel im Irak Saddams, herrscht eine Diktatur, und es ist den demokratischen Staaten, die man daran erkennt, daß jeder frei demonstrieren darf, gestattet, darauf Bomben abzuwerfen. Was wäre, mathematisch gesprochen, daran falsch?

Erschienen in Ossietzky 20/2007