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Produktivkraft Glauben

Rezension

von Stefan Janson

Das Buch "Solidarisch Mensch werden" versucht, die Ansätze der Relationalen Psychologie, der sozialgeschichtlichen Bibelauslegung und der neuen kritischen Sozialwissenschaft zu nutzen, um die neoliberale Transformation der Gesellschaft mit ihren Auswirkungen auf die materielle und psychologische Situation ihrer Mitglieder darzustellen, zu kritisieren und Auswege aufzuzeigen. Dabei zielen die Autoren als Aktive des linken Flügels der Reformation auf ihr Arbeitsfeld, nämlich die von den Mittelschichten und Eliten bestimmten christlichen Großkirchen. Sie versuchen insbesondere die Mittelschichten für ein progressives Bündnis mit den Armen, Entrechteten und Ausgegrenzten zu gewinnen, für die "Option für die Armen", wie sie in der fortschrittlichen Basisbewegung der Ökumene propagiert und gelebt wird. Ein sehr ambitioniertes und spannendes Vorhaben.

Um die schärfste Kritik an den Anfang zu setzen: weniger wäre mehr gewesen! Der vorliegende Band versammelt eine beeindruckende Anzahl von neuen, interessanten und überraschenden Ein- und Ansichten, aber das macht leider auch sein Problem aus. Die Autoren verheben sich, wenn sie ihre aus unterschiedlicher Perspektive vorgenommene Sicht auf Realität und Mythologie des herrschenden Neoliberalismus in einem stattliche 500 Seiten umfassenden Band versammeln und ich mich am Ende doch gefragt habe, wo der rote Faden denn zu finden sei. Dabei ist jeder einzelne Ansatz lesens- und bedenkenswert, aber eben nur jeweils für sich schlüssig. Leider stehen die Teile des Buches auch stilistisch unverbunden nebeneinander. Ein Kollektiv von Autoren in bester und unterstützenswerte Absicht, vermag aber die kollektive Durcharbeitung und Präsentation nicht hinreichend deutlich werden zu lassen.

Ein Beispiel dafür ist der gewollt erscheinende Übergang von Abschnitt 2.1 "Relationale Psychologie impliziert die Perspektive von unten" zum folgenden Abschnitt 2.2 "Biblische Hermeneutik: Die Notwendigkeit der Annahme der Perspektive der Opfer damals und heute": "Der Ansatz der Relationalen Psychologie, von den Opfern sozio-ökonomischer und psychischer Prozesse auszugehen, findet seine volle Entsprechung in der biblischen Tradition." (S. 57).

Dabei ist die Sprache des ersten Abschnitts gewöhnungsbedürftig und etwas elaboriert, während die biblische Hermeneutik anschaulich und plastisch dargestellt wird. Leider setzt sich das fort: plötzlich wird die in bourdieuscher Tradition stehende Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft nach Vester/von Oertzens bedeutsamer Studie "Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel" rezipiert, um im nächsten Abschnitt der Betrachtung der Kirche und Perspektive von unten Platz zu machen (S.87). Und so geht das leider weiter: geschichtliche, soziologische, psychologische, politische, handlungstheoretische Absätze wechseln sich ab, ohne daß dieses Vorgehen methodische begründet würde. Soweit zu den Hauptmängeln.

Positiv hervorzuheben ist das Anliegen der Autoren, insbesondere die vom neoliberalen Gesellschaftsmodell bedrohten Mittelschichten und die von ihnen geprägten christlichen Kirchen für eine antineoliberale Position zu gewinnen. Die Notwendigkeit dazu zeigt sich u.a. in den letzten Stellungnahmen der christlichen Großkirchen zur sozialen Entwicklung in Deutschland: sie waren beschämende Dokumente des Einknickens gegenüber neoliberal-totalitärem "Neusprech" und ein glatter Verrat an der Option für die Armen, die für Christen selbstverständlich sein sollte. Das letzte Sozialwort der beiden Kirchen aus dem Jahre 2006 ist ebenso wie die versuchte Verbetriebswirtschaftlichung der evangelischen Kirche mit Hilfe eines Gutachtens von McKinsey ein deutliches Anzeichen für eine Kapitulation vor dem Neoliberalismus. Zu begrüßen ist es daher, wenn in der Tradition der Reformierten der jetzige Zustand der Welt unter dem Gesichtspunkt des "status confessionis" diskutiert wird, d.h. das jeder Christ zum aktiven Bekenntnis und mutigen Widerstand gegen den Raubzug der neoliberalen Eliten aufgefordert ist. Aber von den Mittelschichten wird doch zu sehr in der Objektposition gesprochen: Sie erscheinen sprachlich als Objekt, nur selten als Mit-Subjekt der Befreiung. Zwar machen die Autoren deutlich, daß, aber nicht wie der Kampf um die Köpfe und Herzen konkret geführt werden soll. Daß aber diese Befreiung aus christlicher Perspektive wohl begründet werden kann, davon geben weite Strecken der sozialgeschichtlichen Interpretation der biblischen Texte beredtes Zeugnis. "Gott ist nicht ‚allgemein' Mensch (in Jesus Christus - Anm. d. Verf.) geworden. Er ist konkret armer, verdrängter, ausgestoßener Mensch geworden, und zwar an einem ‚unmöglichen' Ort (Krippe im Stall) unter schwierigen Umständen für sein Volk." (S. 313).

Die Befreiung durch das jesuanische Denken und Handeln darzustellen, gehört zu den Stärken des Buches. Indem es auf den heilenden Charakter dieses Ansatzes abstellt, wird zugleich mit der krankmachenden kapitalistisch/neoliberalen Gesellschaft auch auf die Wirkungsweise des solidarischen Selbst in Widerstandsbewegungen verwiesen. Dabei ist dieser Ansatz immer ein herrschaftskritischer: "Ohne Erkenntnis von Ursachen gerät Protest und Widerstand zu blindem, wut- und haßerfüllten Zurückschlagen als blinde Reaktion auf die aggressive Grundstruktur, die dabei nicht erkannt und nicht Infrage gestellt wird; psychologisch handelt es sich hierbei um eine Reaktion auf der Ebene des autoritär-gebundenen Charakters, der zwar rebellieren kann, aber zu keiner soziopsychischen Änderungsperspektive der Überwindung der Spaltung von oben und unten in der Lage ist, sondern letztlich vom Wunsch getrieben ist, selber nach oben zu kommen, andere beherrschen und strafen zu können." (S. 374). Aus dieser historisch leider nur allzu gut unterlegten Erkenntnis leiten die Autoren mit vollem Recht ihre Skepsis gegenüber dem Parteienmodell ab und präferieren Basis- und Genossenschaftsbewegungen, wie z.B. attac und die argentinischen Selbstverwaltungskollektive. Damit ist zugleich ein eindrucksvolles Plädoyer für Menschenrechte und Demokratie gehalten.

Diesen Blick von unten halten die Autoren das ganze Buch über durch. Ihnen gelingt der Nachweis, daß dieser Blick zutiefst im jüdisch-christlichen Erbe und seiner Texttradition verankert ist. Eine emanzipatorisch wirkende Bewegung darf und muß sich mit allem Recht in diese Tradition stellen, weil sie von ihrem Ansatz her "die biblische Option für die Armen gegen die Spaltung der Gesellschaft" präsentiert und zugleich die Pathologie der herrschenden Eliten denunziert: "Psychisch essentielle Lebensbedürfnisse nach Verwurzelung, nach Kontinuität einer Identitätsentwicklung und ihrer Stabilisierung in einer überschaubaren und verläßlichen sozialen Lebenswelt finden keine Berücksichtigung mehr." (S. 169). Mit diesem Ansatz wird vermieden, zwar wahr, aber von Sachen zu sprechen und es dem politischen Gegner zu überlassen, falsch, aber von Menschen zu sprechen. Wer sich dieser Mühe unterziehen will, in diesem Buch danach auf die Suche zu gehen, der wird in diesem Werkzeugkasten die Produktivkraft eines christlichen Glaubens an "Heilung, Befreiung und Umkehr zum solidarischen Menschsein" an vielen Stellen entdecken können.

Ulrich Duchrow, Reinhold Bianchi, Rene Krüger und Vincenzo Petracca: Solidarisch Mensch werden - Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus - Wege zu ihrer Überwindung; Hamburg: VSA-Verlag 2006 (gemeinsam mit Publik-Forum Verlagsgesellschaft); 510 Seiten; EUR 19,80.

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sopos 10/2007