von Victoria und Victor Trimondi
"Der Buddhismus sagt, daß man ein friedfertiges Leben führen soll - Gewalt wird abgelehnt. Kreuzzüge im Namen des Buddhismus gab es nicht. Erstaunlich ist, daß gerade der tibetische Buddhismus als so friedfertig gilt. Die tibetische Geschichte war nicht friedfertig. Es gab viel Gewalt und immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen es um Macht und Einfluß ging und die Religion gerne vorgeschoben wurde - das war gar nicht anders als in anderen Ländern auch." Mit diesen Worten stellt sich der Münchener Tibetologe Volker Caumanns gegen das gängige Bild vom tibetischen Buddhismus. Tatsächlich herrschten in der alten tibetischen Buddhokratie schon lange vor dem Einmarsch der chinesischen Besatzungsmacht inhumane soziale Zustände. Viele westliche Besucher berichten, daß auf dem "Dach der Welt" bis zum Jahr 1959, als der Dalai Lama aus Tibet flüchtete, diktatorische Entscheidungen, Beamtenwillkür, paranoider Dämonen- und Geisterglaube ebenso an der Tagesordnung waren wie bitterste Armut und exzessiver Reichtum, Sklaverei und Leibeigenschaft.
Nicht nur in seiner konkreten Geschichte, sondern auch in seiner Mythologie, seiner religiösen Doktrin und im Ritualwesen ist der tibetische Buddhismus aggressiv. Seine Anhänger beten schauerlich aussehende Kriegsgötter und kriegerische Herukas (Buddhas) an. Sie beschwören Schutzdämonen, welche die Feinde der buddhistischen Lehre vernichten. Nationale Kriegshelden wie Gesar von Ling werden in Epen besungen. Unter den Texten dieses militanten Buddhismus fällt besonders das so genannte Kalachakra-Tantra und die darin enthaltene Prophezeiung des Shambhala-Krieges ins Auge. Der im 10. Jh. n. Chr. verfaßte Text gilt den Tibetern als "der Gipfel aller buddhistischen Systeme". Seit fast einem halben Jahrhundert praktiziert der XIV. Dalai Lama weltweit das Kalachakra-Tantra-Ritual, in das schon Hunderttausende Initianten eingeweiht wurden.
Die Prophezeiungen dieses Tantra-Textes unterscheiden sich strukturell nicht von der christlichen Apokalypse und dem daraus abgeleiteten aggressiven Messianismus vieler Millionen christlicher Fundamentalisten in den USA. Mit der Ausnahme, daß es hier nicht Christen, sondern Buddhisten sind, die auf Seiten des "Guten" als "Shambhala-Krieger" gegen die "Achse des Bösen" (die Andersgläubigen) in einem angekündigten totalen Vernichtungskrieg antreten werden. Ebenso wie in der christlichen Apokalyptik wird in der buddhistischen Variante die Errichtung einer rechtgläubigen Weltenherrschaft (hier einer "Buddhokratie") angekündigt, unter der andere Glaubensrichtungen nicht geduldet sind. Die Rolle des militanten Christus, der nach der Vorstellung evangelikaler Sekten als Endzeiträcher alle Ungläubigen ausrottet, nimmt im Kalachakra-Tantra der Shambhala-König Rudra Chakrin ("Zorniger Raddreher") ein.
Die Teilnehmer an einer vom Dalai Lama durchgeführten Kalachakra-Einweihung erhalten das zweifelhafte Privileg, als "Shambhala-Krieger" in "der letzten Schlacht gegen die Mächte der Finsternis" reinkarnieren zu dürfen. Sie werden dann in dem prophezeiten Weltkrieg als "Soldaten Buddhas" gegen die "Feinde der Lehre" kämpfen. Nach einer Vision des Lamas Kamtrul Rinpoche ist es der Dalai Lama selber, der als reinkarnierter Shambhala-König Rudra Chakrin die buddhistische Endzeitarmee anführt.
Angesichts der aktuellen Weltlage, in der ein aggressiver Westen einem extrem militanten Islam gegenübersteht, ist das Kalachakra-Tantra nicht nur deswegen gefährlich, weil es den allgemeinen apokalyptischen Wahn fördert, sondern weil es einen konkreten "Heiligen Krieg" zwischen Buddhisten und Moslems prophezeit und anheizt. Als Gegner des Buddhismus werden darin die wichtigsten Repräsentanten aller drei monotheistischen Religionen genannt: Adam, Noah, Abraham, Moses, Jesus, Mani, Mohammed und der Mahdi, die allesamt (wie es heißt) der "Familie der dämonischen Schlangen" angehören.
Doch kämpfen am Ende der Zeiten die Buddhisten allein gegen die Muslime, die im Text als mleccha bezeichnet werden. Die Christen und Juden sind offensichtlich schon verschwunden. Diese Vision von einer letzten Schlacht mit dem Islam hat historische Wurzeln. Als das Kalachakra-Tantra vor rund 1.000 Jahren verfaßt wurde, waren die buddhistischen Kulturen Indiens und Zentralasiens von den islamischen Armeen schon überrannt. Zu Tausenden flüchteten die Mönche nach Nepal und Tibet. Da die Muslime das Lehrgebäude Buddhas nicht als eine "Religion des Buches" anerkannten und die Buddhisten zu den "Götzenanbetern" zählten, standen diese nach einer Aussage des Korans vor der Alternative, entweder zu konvertieren oder getötet zu werden.
Seit dieser Zeit der Verfolgung sitzt das buddhistische Mißtrauen gegenüber dem Islam "so tief, wie für Muslime das Trauma der Kreuzzüge", schreibt Klemens Ludwig, Leiter der deutschen Tibetinitiative. Historisch gesehen ist das Kalachakra-Tantra deswegen eine in die Zukunft projizierte Revanche der Buddhisten für die erlittene Niederlage. Ein eifriger Verfechter der Kalachakra-Vision ist der bekannte dänische Lama Ole Nydahl, der mit seinen anti-islamischen Sprüchen eine apokalyptisch-messianische Stimmung schürt.
Aber es gibt auch mehrere Parallelen zwischen den beiden gegnerischen Religionssystemen. Eine davon ist die Vorstellung von einem Heiligen Krieg: "Die Kalachakra Darstellung des Shambhala Krieges und die islamische Diskussion über den Djihad zeigen bemerkenswerte Ähnlichkeiten", schreibt der vom Dalai Lama zum Kalachakra-Experten gekürte Alexander Berzin. Kalachakra-Anhänger vertreten zudem einen primitiven Märtyrer-Kult, der an denjenigen moslemischer Mujaheddin erinnert: Wer während der Shambhala-Schlacht erschlagen wird, dem wird als Belohnung der Eintritt ins (buddhistische) Paradies garantiert. Bisher gibt es trotz heftiger Kritik von Seiten des Dalai Lama keinen Kommentar zu den offenkundig kriegerischen und die anderen Religionen diskriminierenden Passagen dieses Textes.
Ausgehend von der Islamfeindlichkeit des Kalachakra-Tantras ist es interessant zu erfahren, wie sich der heutige Religionsführer im Konflikt zwischen dem Westen und dem militanten Islam positioniert. Es gibt zwar in der letzten Zeit im Gegensatz zu früher islamfreundliche Sprüche des Dalai Lama, auffallend ist aber, daß er sich zu den aktuellen Konflikten in Afghanistan und Irak nichtssagend oder ausweichend geäußert hat. Er ließ sogar Bemerkungen fallen, die selbst seine Anhänger irritierten. Der Afghanistan-Krieg, so der "Gottkönig", habe nicht nur "eine Art von Befreiung gebracht", sondern die Bombardements der Amerikaner müßten wegen ihrer Treffsicherheit auch als humanitärer Fortschritt angesehen werden. Angesichts des weltweit verurteilten Einsatzes von Streubomben in diesem Krieg ist eine solche Einschätzung aus dem Munde eines "lebenden Buddhas" und Friedensnobelpreisträgers zynisch.
Andere Statements von ihm zur Terrorbekämpfung und zum Irakkrieg waren jedenfalls so vieldeutig, daß sie die Journalistin Laurie Goodstein dazu veranlaßten, in der New York Times einen Artikel mit dem Titel "Der Dalai Lama sagt, der Terror verlange eine gewaltsame Antwort" zu veröffentlichen. Das wurde später von einem exiltibetischen Beamten dementiert. Ob ein Mißverständnis oder nicht, feststeht, daß sich der tibetische Religionsführer in der Irak-Frage auf keinen Fall auf eine klare und engagierte Friedenspolitik festlegen wollte.
Diese Vogel-Strauß-Politik blieb nicht unbemerkt und wurde selbst von früheren Dalai-Lama-Freunden mit Befremden kommentiert. Einer von ihnen ist der bekannte amerikanische Historiker Howard Zinn: "Ich habe den Dalai Lama immer wegen seiner Plädoyers für Gewaltlosigkeit und seiner Unterstützung der tibetischen Rechte gegen die chinesische Okkupation bewundert. Aber ich muß sagen, ich war enttäuscht, als ich mir seinen Kommentar zum Irakkrieg angesehen habe, denn das ist eine so offensichtliche und klare moralische Angelegenheit, bei der massive Gewalt gegen die Iraker ausgeübt wurde, was Tausende von Toten zur Folge hatte.". Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte ironisch das Verhalten des Tibeters als die Taktik "eines Interessenpolitikers, der weiß, wer ihm die Butter aufs Brot streicht". Das bestätigte auch der Journalist Adrian Zupp, der im Boston Phoenix feststellte: "Wenn immer er auf dieses Thema [den Irakkrieg] zu sprechen kommt, geschieht das innerhalb der Vorgaben der US-Antwort." Für die Nähe zu den USA gibt es historische Gründe: Schon vor 1959 kooperierte der "Gottkönig" mit der CIA, die ihm die Flucht nach Indien ermöglichte. Später stand er jahrelang auf der payroll der CIA und unterstützte die von ihr ausgebildete tibetische Guerilla.
Heute, nachdem der Irakkrieg verloren scheint, sieht das wieder etwas anders aus. Der tibetische Religionsführer wird von den Medien als entschiedener Gegner der US-Intervention präsentiert. So schreibt Die Zeit, vergebens habe der Dalai Lama den amerikanischen Präsidenten nach dem 11. September gewarnt, daß Gewalt immer nur Gegengewalt hervorrufe. Doch er bekenne: "I still love President Bush."
Alle Schulrichtungen des Buddhismus, nicht nur der Lamaismus, haben "Leichen im Keller" und weisen Kriegsideologien sowie eine blutige Geschichte auf. Darin unterscheidet sich der Buddhismus nicht von anderen Religionen. Das Kalachakra-Tantra mit seiner aggressiven, intoleranten und apokalyptischen Weltsicht verstößt jedoch in besonderem Maße gegen wichtige Grundaussagen des historischen Buddhas, die jegliche Legitimation des Tötens und des Krieges verbot (ahimsa-Prinzip). Es ist deswegen grotesk, daß gerade der Dalai Lama als der unermüdliche Propagandist dieses fundamentalistischen Rituals von den westlichen Medien zu einer leuchtenden Ikone der Toleranz und des Friedens stilisiert wird.
Victor und Victoria Trimondi sind freie Schriftsteller, Kulturwissenschaftler und Religionsforscher. Sie veröffentlichten unter anderem die Bücher "Krieg der Religionen - Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse" (Fink 2006) und "Hitler-Buddha-Krishna - Eine unheilige Allianz im Dritten Reich bis heute" (Überreuter 2002). Ihre Homepage "Kritische und Kreative Kulturforschung" findet sich unter: www.trimondi.de.
Dieser Beitrag erschienen zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 301.
https://sopos.org/aufsaetze/46f7d93eae9c8/1.phtml
sopos 9/2007