von Stephan Besser
Der Begriff "Tropenkoller" ist noch heute in den meisten deutschen Wörterbüchern zu finden und seine ungefähre Bedeutung wohl allgemein geläufig. Weitgehend vergessen ist hingegen, daß es sich um eine koloniale Begriffsbildung handelt. Wie das "Tropenfieber", die "Tropentauglichkeit" und die "Tropenkrankheit" wurde der Tropenkoller in einer Zeit erfunden, in der die Besiedlungsfähigkeit tropischer Erdregionen für Angehörige der weißen ‚Rasse' eine Frage von eminentem politischen und wissenschaftlichen Interesse darstellte. Die Epoche des wilhelminischen Kolonialismus war auch eine Gründerzeit des "Tropischen" in der deutschen Kultur, und der Tropenkoller ist eines ihrer widerspruchsvollsten Produkte.
Im Rückblick fällt vor allem die schnelle und gründliche Verbreitung des neuen Begriffs auf. Schon kurz nach seinem Auftauchen Mitte der 1890er Jahre war der Tropenkoller in den Kolonialdebatten in Presse und Parlament ebenso geläufig wie in Tropenmedizin, Sexualwissenschaft und der Literatur. Doch wie genau die Definition des Tropenkollers lautete und was seine Ursachen und Ausdrucksformen seien, blieb oft im Unklaren oder strittig. Wahrscheinlich lag das Geheimnis seines Erfolges in eben dieser Unbestimmtheit: An der Schnittfläche verschiedener Wissensformen und Diskurse entzog sich der Tropenkoller jeder eindeutigen Bestimmung und konnte gerade deshalb zu einer Art Meta-Syndrom des deutschen Kolonialismus werden.
Die nahe liegende Vermutung, das Syndrom habe vor allem der pseudowissenschaftlichen Entschuldigung kolonialer Gewalttaten gedient, greift deshalb zu kurz: Schon zeitgenössisch wurde der Tropenkoller keineswegs allgemein für eine ‚wirkliche' Krankheit gehalten. Seine Erfolgsgeschichte ist also nicht das Produkt einer uniformen Kolonialideologie, die sich ohne weiteres ‚entlarven' ließe, sondern ein Hinweis auf die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit des Kolonialismus selbst.
Soweit sich das heute noch ermitteln läßt, handelt es sich beim Tropenkoller um eine Erfindung der sprichwörtlichen Berliner Schnauze, die um 1894 als Bezeichnung für die "krankhafte Reizbarkeit" europäischer Beamter in den Tropen in Umlauf kam. Konkreter Anlaß hierfür war der erste einer Reihe sogenannter "Kolonialskandale", die die wilhelminische Öffentlichkeit im Jahrzehnt um 1900 beschäftigten. Sein zentraler Protagonist, der Kameruner Vizegouverneur Heinrich Leist, hatte im Dezember 1893 eine Gruppe afrikanischer Frauen auspeitschen lassen, um sie zur Arbeit zu zwingen, und dadurch einen Aufstand der lokalen Polizeitruppe ausgelöst. Zum Skandalwert des Falles trug die Enthüllung bei, daß Leist in Kamerun wie ein "Pascha" gehaust und einige im Gouvernementsgebäude festgehaltene Frauen regelmäßig zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte.
Ähnlich hohe Wellen schlug im Jahr 1896 der Fall des Reichskommissars Carl Peters, der 1891/92 in der Kilimandscharo-Region mehrere Afrikaner hatte hinrichten lassen, unter ihnen seine schwarze Konkubine und deren vermeintlichen Liebhaber. Im März 1904 schließlich wurde der Schutztruppenleutnant Prinz Prosper von Arenberg nach langjährigem Gerichtsverfahren als heilbarer Geisteskranker in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, weil er in Deutsch-Südwest-Afrika den "Bastard" Willy Cain geprügelt und anschließend hatte hinrichten lassen.
Diese individuellen "Exzesse" kolonialer Gewalt sorgten in der Heimat vor allem deshalb für Empörung, weil hier offenbar eine Umkehr des Ideologems von der "Zivilisationsmission" zu beobachten war: Die vermeintlichen Kulturträger entpuppten sich in der Fremde selbst als "Barbaren". Doch daß Leist, Peters, Arenberg und andere "Kolonialverbrecher" um 1900 zu Parias der kolonialen Ordnung wurden, hatte weniger mit der moralischen Verwerflichkeit ihres Handelns zu tun. Es beruhte eher auf einer umfassenden Neujustierung des kolonialen Machtapparates, die 1906/07 als "Kolonialreform" auch institutionell verankert wurde. Sie zielte auf einen Übergang von der rücksichtslosen Ausbeutung der Kolonien und der Verdrängung der afrikanischen Bevölkerung hin zu einer Politik der "Negererhaltung" und der dauerhaften ökonomischen "Inwertsetzung" der überseeischen Territorien. "Sowohl vom utilitarischen wie vom humanitären Standpunkte", notierte der Publizist Franz Giesebrecht 1897, sei man zu der Erkenntnis gekommen, daß eine dauerhafte "Fruktifizierung" der Kolonien nur durch eine "fachgemäße, methodische Behandlung der Eingeborenen" zu erreichen sei.
"Fachgemäß" und "methodisch" waren Strafmaßnahmen wie diejenige von Leist keineswegs: Sie bargen nicht nur das Risiko von Aufständen und der Abwanderung von Arbeitskräften, sondern konnten durch schwerwiegende Verletzungen der Opfer deren Arbeitskraft schmälern. Nach 1896 unternahm die Kolonialregierung deshalb wiederholt Versuche, die Verhängung von Prügelstrafen und Auspeitschungen zu reglementieren und sie hygienisch und gesundheitlich zu überwachen. Die in den deutschen Kolonien akribisch geführten Prügelstatistiken weisen allerdings aus, dass die Zahl der Züchtigungen nach der Jahrhundertwende gerade zunahm - vermutlich vor allem deshalb, weil sie als effektivstes Mittel galten, die Kolonialuntertanen zur Arbeit zu zwingen.
Auch auf dem Gebiet der Sexualmoral wurden der kolonialherrlichen Willkür um 1900 engere Grenzen gesetzt. Hatten koloniale "Konkubinate" - die sexuelle und hauswirtschaftliche Ausbeutung schwarzer Frauen durch weiße Männer - zunächst als unproblematische Arrangements gegolten, so rückten um die Jahrhundertwende die Gefahren der "Blutmischung" und "Verkafferung" in den Mittelpunkt der rassenhygienischen Debatten. Den "imperialen Patriarchen" der kolonialen Gründer- und Eroberergeneration trat das "liberal-nationale" Männlichkeitsmodell des Siedlungskolonialismus gegenüber, das die deutschen Männer in der Fremde als ökonomisch und rassenhygienisch verantwortlich handelnde Staatsbürger entwarf (Wildenthal). Autokratische "Paschas" wie Leist und Peters erschienen nun als moralisch zweifelhafte Gestalten, die ihre kulturelle und rassische Identität an ihre Lüste zu verraten drohten.
Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung des Tropenkollers als Syndrom des Reformkolonialismus erkennbar: Mit seiner Hilfe ließ sich eine deutliche Grenze ziehen zwischen der ‚normalen' und der pathologischen Gewalt des Kolonialismus, dem illegitimen "Exzeß" und der legitimen Strafe. Die Rhetorik vom pathologischen Einzelfall lenkte ab von der grundsätzlichen Gewaltförmigkeit des Kolonialismus, von täglichen tausendfachen Prügelstrafen, militärischen "Strafexpeditionen" und Kolonialkriegen bis hin zum Genozid.
Ein unproblematischer Begriff war der Tropenkoller aber für die Vertreter der Regierungspolitik keineswegs. Das hat vor allem mit dem zutiefst ironischen Charakter dieses Wortes zu tun, das sozialdemokratische und liberale Kritiker der Kolonialpolitik verwendeten, um anzuprangern, daß man eben "für alle rohen Acte in den Tropen eine Entschuldigung vorzubringen wisse" (Rasch). Die politische Debatte über den Tropenkoller war von Beginn an eine Debatte zweiter Ordnung, in der es weniger um medizinische Fragen oder die Bedeutung des Begriffes ging, als um seine rhetorische Funktion. So versuchte der liberale Abgeordnete Eugen Richter in der Parlamentsdebatte über den "Fall Leist" die Erfindung des Tropenkollers den Konservativen in die Schuhe zu schieben, um sie anschließend für den Gebrauch solch fadenscheiniger Entschuldigung kritisieren zu können.
Dieser Debattentechnik wichen die Vertreter der Kolonialpolitik durch eine äußerst sparsame Verwendung des Begriffes aus. Reichskanzler von Caprivi etwa erklärte in seiner Reaktion auf Richter, daß er dem Tropenkoller keinerlei "Wirkung zuschreiben" wolle und machte statt dessen einen Mangel an deutschen Frauen für das mitunter bedenkliche "sittliche Niveau" des Koloniallebens verantwortlich (Reichstagsdebatte vom 17.2.1894).
Doch auch an sich war die Behauptung vieler Konservativer, daß das tropische "Klima" bei kolonialen Gewalttaten eine Rolle spiele, keineswegs unverfänglich. Denn wenn man den Lebensumständen in den Tropen solch weit reichende Auswirkungen auf das "Nervensystem" und die Zurechnungsfähigkeit deutscher Kolonisten zuschrieb, lag der Umkehrschluß nahe, daß die ‚weiße Rasse' in Afrika fehl am Platze sei. Der Tropenkoller markiert also gerade eine Bruchstelle zwischen einem starken, biologisch definierten Begriff von ‚Rasse' und der kolonialen Siedlungsideologie.
Von diesen Fragen und Problemen handelt - auf sehr eigene Weise - die erste ausführliche Beschreibung des Tropenkollers als Syndrom. Sie findet sich bezeichnenderweise nicht in einer medizinischen Studie, sondern in einem literarischen Text, Frieda von Bülows Kolonialroman Tropenkoller. Eine Episode aus dem deutschen Kolonialleben (1896). Verfaßt als Polemik gegen die wohlfeile Entrüstung über die "Kolonialverbrecher", plädiert der Roman für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem titelstiftenden Syndrom. "Um witzige Namen sind die Berliner ja nicht verlegen", empört sich Eva Biron, die Heldin des Romans, als sie in der Treibhaushitze Ostafrikas von der Existenz des neuen Schlagwortes erfährt.
Die Handlung suggeriert, daß man eigentlich zwischen zwei Formen des Tropenkollers zu unterscheiden habe: einer klimatisch bedingten, verkörpert durch den blonden "Forstassessor" Udo Biron, der in der Tropenhitze eine "krankhafte Überreiztheit" entwickelt, und einer charakterlich verursachten, personifiziert im jähzornigen Eisenbahnbaudirektor Leopold Drahn. Letzterer soll im Roman das eigentliche "Wesen" des Tropenkollers darstellen, verstanden als eine Emporkömmlingskrankheit subalterner Geister, die mit der kolonialen Machtfülle nicht umzugehen wissen.
Doch so unterschiedlich die beiden Krankengeschichten verlaufen und so gegensätzlich ihre moralische Bewertung ausfällt, eines ist ihnen doch gemeinsam: ihre Geschlechtsspezifik. Wie in den Tropenkoller-Debatten insgesamt, erscheint das Syndrom bei von Bülow als eine exklusiv männliche Verhaltensstörung, die letztlich einer maskulinen Neigung zu Herrschsucht und Aggression entspringt. Diese spezifische Männlichkeit des Leidens, vielleicht ihr einziges zeitgenössisch ganz unumstrittenes Definitionskriterium, wird in Bülows Roman zu kolonialfeministischen Zwecken zusätzlich unterstrichen: In Umkehrung gängiger Stereotypen von der ‚hysterischen' Frau bleibt Udos Schwester Eva von allen Nervositätserscheinungen in auffälliger Weise verschont. Die innere Spannung zwischen kolonialer Rassen- und Siedlungsideologie zeigt sich allerdings auch in dieser literarischen Gestalt: Im Gegensatz zu ihrem blauäugig-teutonischen Bruder hat Eva den dunklen Teint einer "Zigeunerin", und aus Bewunderung für ihre Unempfindlichkeit dem Klima gegenüber bescheinigen ihr die tropenkollerigen Männer des Romans eine "Negerkonstitution".
Waren literarische Texte nicht verpflichtet, eine schlüssige Ätiologie (medizinische Ursachenerforschung) des Tropenkollers zu entwerfen, so standen Tropenmediziner und Nervenärzte nach dem Aufkommen des populären Schlagworts vor der Aufgabe, seine wissenschaftliche Stichhaltigkeit zu beurteilen. Ihre Einschätzung war, auf den ersten Blick zumindest, eindeutig negativ: In den tropenmedizinischen Standardwerken der Jahrhundertwende wird der Tropenkoller durchweg als unwissenschaftliches Phantasiegebilde abgetan, das Laien eigens erfunden hätten, um es "je nach der Parteien Haß oder Gunst als entlastendes oder belastendes Moment" anzuführen (Scheube).
Die Ablehnung des politisch kontaminierten Tropenkollers bedeutete aber keineswegs, daß die Fachleute nicht einen medizinischen Hintergrund kolonialer Gewalttaten für möglich gehalten hätten. So erklärte Albert Plehn, einer der führenden Tropenmediziner des Kaiserreichs, in einem viel beachteten Vortrag vor dem deutschen Kolonialkongreß 1905, daß akute oder chronische Malariafieber die Zurechnungsfähigkeit von Straftätern deutlich herabsetzen oder sogar ausschließen könnten. Tatsächlich bildeten Fieberanfälle und Malariainfektionen um 1900 das wichtigste Kriterium bei der forensischen Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit kolonialer Gewalttäter.
Neben der Malaria erwähnte Plehn allerdings noch ein weiteres Leiden, das man am ehesten als eine medizinische ‚Übersetzung' des Tropenkollers betrachten kann, nämlich die so genannte "Tropenneurasthenie". Seit der amerikanische Nervenarzt George Miller Beard 1869 den Begriff der "Neurasthenie" in Umlauf gebracht hatte, war die "Nervenschwäche" auch in Deutschland zu einer von Fachleuten und Laien viel gestellten Diagnose avanciert, ohne die die populäre Karriere des Tropenkollers schwerlich möglich gewesen wäre. Umgekehrt bot sich die "Tropenneurasthenie" als ein wissenschaftlicher Äquivalenzbegriff zum Tropenkoller an.
So nachdrücklich sie den Tropenkoller ablehnten, so selbstverständlich erschien den Tropenmedizinern der Jahrhundertwende, daß ein längerer Aufenthalt in den Tropen dem Nervensystem weißer Europäer empfindliche Schäden zufügen müsse (diese Ansicht verschwand um 1920 ziemlich rasch wieder aus den einschlägigen Lehrbüchern). Die gefährliche Wirkung der tropischen Sonnenstrahlung und des feuchtwarmen Klimas wurden dabei ebenso ins Kalkül gezogen wie der Einfluß der ultravioletten Strahlung und die Regelung des körperlichen Wärmehaushaltes. Das Nervensystem aller Europäer, so heißt es im Handbuch der Tropenkrankheiten, gerate in den Tropen unweigerlich in einen "reizbaren Schwächezustand", der im Zweifelsfall nur durch eine Rückkehr in die Heimat zu kurieren sei.
Mit der organisch nicht nachweisbaren "Tropenneurasthenie" entstand so doch eine Art Toleranzzone für koloniale Straftaten, in die sich etwa Heinrich Leist nur allzu gern zurückzog, als er in seiner Verteidigungsschrift auf die nervösen Belastungen des Tropenlebens verwies: "Die Blutbeschaffenheit verschlechtert sich, die Widerstandsfähigkeit nimmt täglich ab, und bei allen Europäern macht sich eine gesteigerte Erregbarkeit des Nervensystems geltend, die sich bei dem Einen in Zornesausbrüchen, bei dem Anderen in geschlechtlichen Anfechtungen äußert."
Eine aus heutiger Sicht vielleicht plausiblere Erklärung des Tropenkollers legte der Berliner Sexualwissenschaftler und Kulturhistoriker Iwan Bloch 1903 vor. In seiner Psychopathia sexualis erklärte Bloch, daß das in den Kolonien "beliebte Auspeitschen von Negerweibern" als Ausdruck einer sexuellen "Perversion" zu verstehen sei, die durch die rassistische Geringschätzung der Opfer befördert werde. Fernab der europäischen Zivilisation lernten europäische Offiziere und Beamte den "Genuß" der Macht viel nachdrücklicher kennen als in der Heimat und entpuppten sich daher um so spektakulärer als "brutale, blutrünstige und zugleich sexuell ausschweifende Tyrannen."
Es gehört zu den Ironien des Tropenkoller-Diskurses, daß gerade diese These den Ausgangspunkt bildete für die wohl unverhohlenste pornographische Schilderung des Tropenkollers. Sie findet sich in Henry Wendens Kolportageroman Tropenkoller aus dem Jahr 1904, der mit einem von Bloch inspirierten psychologisierenden Vorwort beginnt. Wenden erläutert dort, daß der Tropenkoller eine "sexuelle Perversion" darstelle und er mit seinem Werk zur Erklärung und sogar "Heilung" derselben betragen wolle. Tatsächlich verschafft ihm diese Bekundung vor allem die Legitimation für die um so detailgenauere und blutrünstigere Schilderung der Genüsse der Folter, die der junge deutsche Kolonialoffizier Kurt von Zangen in Deutsch-Ostafrika kennen lernt. Gestaltet als eine Querschnittsfigur der "Kolonialverbrecher" Leist, Peters und Arenberg, foltert und vergewaltigt Kurt afrikanische Frauen und träumt in einer Szene sogar davon, das Blut seiner Opfer zu trinken.
"Scheinheiligkeit" ist trotzdem nicht der richtige Begriff für Wendens "therapeutischen" Kolonialporno. Denn zum einen finden sich neben der obligatorischen Verdammung des ‚perversen' Helden auch zahlreiche Anspielungen darauf, daß der wilhelminische Militarismus selbst sadistische Züge trage. Und zum anderen war das intime Interesse am Triebleben der "Kolonialverbrecher" eben nicht nur ein Kennzeichen dieses Romans, sondern des Tropenkoller-Diskurses insgesamt. In der tropenhygienischen Literatur zum Beispiel mischte sich die Warnung vor der "geschlechtlichen Überanstrengung" in der Fremde auf sehr ambivalente Weise mit dem Hinweis, daß auch zu wenig Sex zum Tropenkoller führen könne (Kohlstock). Die wichtigste diskursive Funktion des Tropenkollers bestand deshalb wohl in seinem Beitrag zu einer kolonialen Version jenes Wechselspiels von Lust und Verbot, das Michel Foucault als "Doppelimpulsmechanismus" der Macht bezeichnet hat: Die pathologisierende Schilderung sexueller Verworfenheiten wurde selbst zu einem erotischen Anreiz und schaffte so neue Ansatzpunkte der Disziplinarmacht.
Mit dem deutschen Kolonialismus ist auch die besondere Konstellation von medizinischem Wissen und kolonialer Herrschaft verschwunden, die den Tropenkoller um 1900 hervorgebracht hat. Es wäre deshalb wenig sinnvoll, nach direkten Kontinuitäten dieses Diskurses bis in die Gegenwart hinein zu fragen. Um so erhellender kann es allerdings sein, einige kulturelle Selbstverständlichkeiten der heutigen Zeit im Umgang mit der "Fremde" aus der Perspektive des Tropenkollers in den Blick zu nehmen.
So hat Corinne Hoffmanns Bestseller Die weiße Massai deutlich gemacht, daß das postkoloniale Afrika noch immer einen beliebten Imaginationsraum für sexuelle Grenzüberschreitungen darstellt. Der inzwischen verfilmte Roman erzählt die Geschichte einer jungen Schweizerin, die sich während eines Kenia-Urlaubs Hals über Kopf in einen atemberaubend schönen Massai-"Krieger" verliebt, ihn im Überschwang des Begehrens heiratet und ihm in sein Heimatdorf folgt. In der Filmversion scheitert die Beziehung schließlich an den kulturellen Unterschieden zwischen den Beiden - genauer gesagt, am zivilisatorischen Rückstand des Massai-Mannes Lemalian, der den selbstbestimmten Lebensstil seiner europäischen Frau nicht akzeptieren will oder kann.
In Zeiten des postkolonialen Sextourismus, der in Kenia auch europäische Frauen bedient, ist Die weiße Massai als sexualhygienischer Film lesbar, als Update der kolonialen Tropenhygiene auf die Gender- und Rassencodes der Gegenwart. Steht in Kohlstocks "Tropenhygiene" das "Recht" des männlichen Triebes auf seine Befriedigung außer Frage, so ist es hier das weibliche Begehren der Heldin, dem die Erfüllung nicht versagt bleiben darf. Die Bildsprache des Films gibt diesem Verlangen ganz nachdrücklich dadurch Recht, daß der muskulöse, stets halbnackte Körper Lemalians als erotische Sensation inszeniert wird - in einer Konstellation, die bei umgekehrten Geschlechterrollen sofort als rassistisch erkennbar wäre.
Das Problem, von dem der Film erzählt, ist nicht, daß Corinne sich überhaupt mit Lemalian einläßt - das Problem ist, daß sie den rechten Zeitpunkt zur Abreise zu verpassen droht (wie eine andere europäische Frau mit ähnlicher Geschichte, die als psychisches Wrack dargestellt wird). Während die Konflikte langsam überhand neben, büßt der prachtvolle Körper Lemalians immer mehr an Glanz und Verführungskraft ein: Der einst so stolze Krieger schneidet sich aus Eifersucht die Haare, läßt sich einen Bart stehen und fängt an, seinen imposanten Torso mit T-Shirts zu verdecken. Spätestens jetzt begreift Corinne, daß es an der Zeit ist, von ihrer finanziellen Unabhängigkeit Gebrauch zu machen und in die Schweiz zurückzukehren. Bildsprache und Plot des Films fügen sich so, sicher unbeabsichtigt, zu einem Leitsatz der postkolonialen Tropenhygiene: Der Sex mit AfrikanerInnen kann großartig sein, man (frau) sollte es aber am besten bei einer Stippvisite belassen!
Kulturelle Differenz als Assimilationshindernis spielt auch in der Vorstellungsfigur des "Kulturschocks" eine entscheidende Rolle. Das Syndrom wurde zuerst Anfang der 1960er Jahre vom amerikanischen Anthropologen Kalvero Oberg beschrieben. Es ist mittlerweile im Allgemeinwissen ebenso etabliert wie in der psychologischen Fachliteratur oder populären Ratgebern für Mitarbeiter im "Auslandseinsatz". Wie der Name bereits verdeutlicht, bezeichnet der "Kulturschock" die "Anpassungsschwierigkeiten in einer fremden Kultur", ein Phänomen, das im Zeitalter international ‚flexibilisierter' Arbeitsmärkte auch aus ökonomischen Gründen auf einiges Interesse rechnen kann.
Charakteristisch für die Rede vom Kulturschock ist seine Darstellung in Verlaufsphasen und Kurvendiagrammen. Auf eine anfängliche Phase der Euphorie und Optimismus, so erläutert Enid Kopper in ihrem Ratgeber-Kapitel "Was ist ein Kulturschock und wie gehe ich damit um?", folge beim durchschnittlichen "Expat" meist nach etwa einem halben Jahr eine Periode von Streß, Depression und kultureller Desorientierung, begleitet von Streit am Arbeitsplatz und Spannungen im privaten Bereich. Mit der Eingewöhnung in die fremde Kultur werde das psychische, emotionale und kognitive Gleichgewicht wieder hergestellt, bis bei der Rückkehr in die Heimat der vielfach unterschätzte "re-entry-Schock" drohe. In Koppers Buch wie in anderen Werken zum Thema wird diese ‚typische' Verlaufsform des Kulturschocks graphisch als "W-Kurve" wiedergegeben.
Man muß nicht bezweifeln, daß ein beruflicher Aufenthalt in der Fremde zu schweren psychischen Belastungen führen kann, um sich über die besondere diskursive Form zu wundern, die dem Phänomen hier gegeben wird. Sprach die koloniale Hygieneliteratur drohend von der Pflicht zur "Selbstzucht", so geben die "Kulturschock"-Ratgeber in einem scheinbar viel entspannteren Ton Tips zum persönlichen Stimmungsmanagement im Auslandeinsatz. ("Ab und zu negative Gefühle zulassen!", "Restaurant mit Küche aus dem eigenen Land besuchen").
Das Kurvendiagramm des Kulturschocks, das den "normalen Anpassungsprozeß" symbolisiert, ist allerdings nicht weniger diskursiv geformt als die tropen-hygienischen Anweisungen der vorletzten Jahrhundertwende. Die durchlaufende Wellenlinie suggeriert psychische Kontinuität in Zeiten der Verstörung, formuliert aber auch eine subtile Drohung. Denn wer größere oder länger anhaltende als die vorhergesagten Schwierigkeiten bekommt, hat den Bereich des ‚Normalen' offenbar verlassen und wird sich fragen lassen müssen, ob er seinen Pflichten zum Stimmungsmanagement auch in ausreichender Weise nachgekommen ist: "Wenn der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin in der Kulturschock-Phase steckenbleibt oder die Firma während des Reintegrationsschocks frühzeitig verläßt, hat das weitreichende Konsequenzen für alle Beteiligten."
Im Vergleich zum Tropenkoller fällt auf, mit welcher Beharrlichkeit der "Kulturschock"-Diskurs die kulturelle Differenz als Assimilationshindernis beschreibt. Es liegt nahe, darin einen Ausdruck des heute politisch und intellektuell gängigen Kulturessentialismus zu sehen, der immer schon weiß, daß die Differenz der Kulturen oder ein "Clash" der Zivilisationen das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft problematisch, wenn nicht unmöglich macht. Nimmt man den Tropenkoller zum Anlaß, dem selbstverständlichen Wissen unserer eigenen Gesellschaft auf die Spur zu kommen, so kann man sich fragen, warum der Begriff der "Kultur" heutzutage bei der Erklärung von Anpassungsproblemen so unmittelbar einleuchtet, wie "Rasse" und "Nerven" in der Zeit um 1900.
Iwan Bloch: Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sexualis. Bd. 2, Dresden 1903.
P.C.J. van Brero: Die Nerven- und Geisteskrankheiten in den Tropen. In: Carl Mense (Hg.): Handbuch der Tropenkrankheiten. Bd. 1, Leipzig 1905.
Frieda von Bülow: Tropenkoller. Eine Episode aus dem deutschen Kolonialleben. Berlin 1896.
Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt/M. 1983.
Franz Giesebrecht: Kolonialgreuel. Kulturhistorische Studie. In: Freie Bühne 6 (1895) 1/2.
Enid Kopper, Rolf Kiechl: Globalisierung - von der Vision zur Praxis. Methoden und Ansätze zur Entwicklung interkultureller Kompetenz. Zürich 1997.
Paul Kohlstock: Ratgeber für die Tropen. Handbuch für Auswanderer, Ansiedler, Reisende, Kaufleute und Missionare über Ausrüstung, Aufenthalt und Behandlung von Krankheiten in heißen Ländern. 3. Aufl. Berlin 1910.
Albert Plehn: Über Hirnstörungen in den heißen Ländern und ihre Beurteilung. In: Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1905. Berlin 1906.
Chr. Rasch: Über den Einfluß des Tropenklimas auf das Nervensystem. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 54 (1898) 5.
Botho Scheube: Die Krankheiten der warmen Länder. 3. Aufl. Jena 1903.
Henry Wenden: Tropenkoller. Leipzig 1904.
Lora Wildenthal: German Women for Empire, 1884-1945. Durham, London 2001.
Stephan Besser unterrichtet am Fachbereich für Medien und Kultur der Universität Amsterdam. Seine Dissertation "Pathographie der Tropen. Literatur, Medizin und Kolonialismus um 1900" befaßt sich mit Diskursen über tropische Krankheiten in der Zeit des deutschen Kolonialismus. Der Artikel basiert in Teilen auf dem Buchbeitrag: "Tropenkoller. 5. März 1904: Freispruch für Prinz Prosper von Arenberg" In: Honold/ Scherpe (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus. Stuttgart, Weimar 2004.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 301.
https://sopos.org/aufsaetze/469c207f2308e/1.phtml
sopos 7/2007