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Es war vor 44 Jahren, als ich einen Tag nach der Geburt unserer ersten Tochter die Diagnose hörte: »drastischer Sauerstoffmangel unter der Geburt«. Ihr Körper und ihr Lebenslauf würden sich nun unter völlig anderen Bedingungen entwickeln, als wir uns in Vorfreude auf das Kind ausgemalt hatten. Plötzlich kamen Erinnerungen an den Biologieunterricht in meinem Lyzeum: Eine kleine drahtige Frau, die wegen Lehrermangels auch Sport unterrichtete, erzählte uns Zwölfjährigen von der großen Reinigung des deutschen Volkes, weil Behinderte als erbschwacher Nachwuchs nicht länger auf Kosten der Gesunden mitgeschleppt werden müßten. Durch ein mutiges neues Gesetz werde künftig »lebensunwertes Leben« rechtzeitig beendet werden. Nur drei Jahre später konnte ich schon nicht mehr begreifen, warum wir unserer Lieblingslehrerin so bereitwillig das Recht auf »Endlösung der Behindertenfrage« geglaubt hatten. Im Wochenbett, zwei Jahrzehnte danach, fragte ich mich, ob damals eine Mutter, die ihr Kind unter Sauerstoffmangel geboren hatte, es als »lebensunwert« angesehen hätte .... Voller Selbsttäuschungsbereitschaft nahmen wir dann alle Entwicklungsschritte unserer Tochter als Anzeichen, daß sie doch nicht behindert sei. Nach drei Monaten konfrontierte uns ihr erster schwerer epileptischer Anfall mit der Realität. Wenn ich später die spastisch gelähmte Hand und das Bein der Heranwachsenden ansah, dachte ich oft an andere Mütter, zum Beispiel in Vietnam. Es war zu der Zeit, als die USAir Force dort Kinderspielzeug abwarf, das den Kindern Gliedmaßen zerriß. Ich dachte an viele politische Ursachen von Behinderungen, an die Notwendigkeit, überall kinderfreundliche politische Bedingungen zu schaffen. An den Elternabenden des Behinderten-Kindergartens, der zugleich Vorschule war, tauschten wir Erfahrungen aus und freuten uns, daß für vieles schon gesorgt war: In der Schule würden nur acht Kinder in der Klasse sein, und später würden sie sich in einer Behindertenwerkstatt Arbeitsplätze aussuchen können; darauf hatten sie in der DDR einen gesetzlich geregelten Anspruch. Uns bedrückte freilich, daß es das Netz fördernder Sicherheit, wie wir es kennenlernten und woran wir mitwirkten, noch nicht an allen Orten der DDR gab. »Kinder die anders sind« hieß das Buch der Kinderpsychiaterin Gerda Jun, das als »Elternreport« aus der regelmäßigen Arbeit unserer Gruppe entstand. In zehn Interviews wurde deutlich, wie hart für Eltern die unerwartete Aufgabe ist, ein behindertes Kind zu akzeptieren und mit Unverständnis, oft sogar Ablehnung in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit umzugehen. Wie in anderen Schulen der DDR hatte auch in der Behinderten-Schule jede Klasse eine Patenbrigade. Es war bewegend und wohltuend für uns, wenn die Arbeiterinnen unsere Kinder in ihren Betrieb holten, an Elternversammlungen und Zeugnisausgaben teilnahmen und den Internationalen Kindertag mitfeierten. Die Bus- und Taxifahrer waren mit ihren behinderten Fahrgästen fröhlich vertraut und verwischten langsam meine finstere Erinnerung an einen ihrer Kollegen, einen gutmütigen weißhaarigen Mann, der, als er Mirjams schweren Anfall miterlebte, seufzte: »Ach Jottchen, so’n Würmchen hätte Hitler erlöst.« Aus der Arbeit unserer Gruppe entstand auch der Fernsehfilm »Diagnose Hirngeschädigt«, den der Programmchef zunächst nicht senden wollte. Wir diskutierten so lange, bis er schließlich nachgab. Es kamen Wäschekörbe voll Zuschauerpost: ernsthafte, mitmenschliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Wir fingen gerade an, die Gleichberechtigung von Behinderten für normal zu halten, als mit dem Einigungsvertrag zum gemeinsamen Deutschland zwar erstklassige Hilfsmittel für alle Arten von Behinderung ins Angebot kamen, aber zuerst die Arbeitsverträge unserer Kinder gekündigt wurden. Die geschützten Arbeitsplätze in Verwaltung und Industrie wurden gestrichen. Kontakte brachen ab. Behinderte, die einsam zu Hause sitzen, verkümmern. In Artikel 2.1 des Grundgesetzes heißt es: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit«; Artikel 2.2: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« Gleiches steht seit Dezember 2000 in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Sind Behinderte, sind Versehrte gleichberechtigt? Seit eh und je wird über die Ursachen von angeborener oder später erworbener Behinderung gegrübelt. Die Religionen gaben durch die Jahrtausende unterschiedliche und widersprüchliche Antworten. Im christlichen Abendland triumphierten vor und nach der Reformation Schuldzuweisungen nach kirchlich erstellten Sündenregistern: Bestimmte Behinderungen galten als Strafen für bestimmte Sünden – im Widerspruch zu biblischen Texten, die solche Diskriminierung ablehnen. Wirken archaische Vorstellungen wie »Gottesstrafe«, »Fluch« oder »behext« vielleicht noch heute als Grundmuster in beleidigenden Blödeleien über behinderte Mitschüler oder auch in Bundestagsdebatten fort, in denen ein Antidiskriminierungsgesetz schließlich nur als »Gleichbehandlungsgesetz« Stimmen bekommt? Müßte es für Behinderte nicht zumindest ein Recht auf Barrierefreiheit geben, wenn das rätselhafte Recht auf Unversehrtheit für sie doch nicht einklagbar ist? Ich frage mich auch, wie stark Sachzwänge sein müssen, wenn sie dazu führen, öffentliche Mittel zu kürzen, mit denen Zugänge für Behinderte zu finanzieren wären. »Gleichbehandlung« wird zur zynischen Phrase, wo Behinderte keinen Zugang finden. Der Bundestagsabgeordnete Ilja Seifert (Die Linke) hat dem Gesetzentwurf nicht zugestimmt, weil »wer Diskriminierung wirklich verhindern will, ungleich behandeln, nämlich die Schwächen der Benachteiligten ausgleichen muß«. Worauf es ankommt, ist eben nicht Gleichbehandlung, sondern ein Diskriminierungsverbot. Die Linke hatte ein Nachteilsausgleichsgesetz beantragt – zur Ermutigung für Behinderte und zur Finanzierung ihres Zugangs zu Arbeit, Bildung, Kultur, zu öffentlichen und privaten Räumen. Eine neue Chance bietet die am 13. Dezember 2006 verabschiedete UNO-Konvention »zur Förderung und zum Schutz der Rechte und Würde behinderter Menschen«, die erstmals international verbindliche Standards für die Lebensbedingungen von gegenwärtig rund 650 Millionen Menschen setzt – und täglich kommen durch Mangelernährung und Kriegshandlungen Verletzte hinzu. Der Ratifizierungsprozeß hat am 30. März 2007 begonnen. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, Menschen mit Behinderungen »vor Ausbeutung und Mißbrauch zu schützen«. Solchen gesetzlichen Schutz gibt es bisher nur in 45 Staaten. Wer aber das »Recht auf körperliche Unversehrtheit« ernst nimmt, der muß sich auch für die Ächtung von Kriegen und für Abrüstung einsetzen – vorrangig für ein Verbot des Exports von Waffen, deren Zweck es ist, Menschen zu versehren. Deutsche Rüstungsfabrikanten gehören zu den Hauptexporteuren.
Erschienen in Ossietzky 12/2007 |
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