Wird die Distel obdachlos?

Lothar Kusche

Der Kolumnist Andreas Kurtz versorgt uns in der »Leute«-Rubrik der Berliner Zeitung nicht nur mit amüsantem Klatsch, sondern auch mit unheimlichen und bitteren Informationen, bei denen einem die Spucke wegbleiben kann:

»... Pünktlich zu Frank Lüdeckes einjährigem Jubiläum als Künstlerischer Leiter der Distel muß Geschäftsführer Norbert Dahnke auf ihn sanften Druck ausüben ...« Norbert Dahnke, Jahrgang 1941, nach dem Studium Werbe-Ökonom und Kaufmann für Export/Import, arbeitet seit 27 Jahren für unser Berliner Kabarett. In der Distel-GmbH wurde er 1991 zum »kaufmännischen Geschäftsführer« gewählt. Dahnkes Arbeit verlangt Kenntnis vom Umgang mit Menschen, mit Künstlern im Theater und mit Amtsträgern in den einschlägigen Behörden, verlangt Diplomatie, mathematisches Talent, schachspielartiges Denken. Die Arbeit ist kompliziert und mühselig. Weiter in Kurtzens Text:

»Mit den 70 Prozent Auslastung, die das Haus in den ersten Monaten des Jahres erreicht hat, ließe sich nämlich die gerade saftig erhöhte Miete nicht finanzieren. Dahnke: ›Wir sollen jetzt die dreifache Miete an die Besitzer des Admiralspalastes zahlen.‹ Man habe sich nach Jahren mit besonders günstiger Miete auf gerade noch annehmbare Zahlungen geeinigt. ›Allerdings nur, wenn endlich auch die Toiletten, die den Standard der 50er Jahre haben, in einen vernünftigen Zustand versetzt werden.‹ ...« Nun müsse das Kabarett durch seine Leistung »die Auslastung um die entscheidenden fünf Prozent heben«.

Die Zoologie kennt Stabheuschrecken, Fangheuschrecken und Gespenstheuschrecken; die Distel muß sich nun vor den Admiralspalast-Heuschrecken hüten, die sich genau so benehmen wie ihre Verwandten, von denen die Offenbarung des Johannes weiß: »Und aus dem Rauch kamen Heuschrecken auf die Erde, und ihnen ward Macht gegeben, wie die Skorpione auf Erden Macht haben ... Und die Heuschrecken sind gleich den Rossen, die zum Kriege bereitet sind.«

Heuschrecken sind Allesfresser, und falls sie der Distel tatsächlich die Haare vom Kopf fressen wollen, so muß sich das natürlich »rechnen«. Für satirische Kabarettisten ist die Räumlichkeit bestens geeignet, und bisher haben wir sogar die historischen Toiletten ertragen, und wir haben die ruinöse Treppe zum 3. und 4. Obergeschoß mit dem Mut zielstrebiger Alpinisten erstiegen. Sollen da droben künftig etwa Stars des Welt-Humors auftreten wie beispielsweise die zweibeinige Zote Fips Asmussen?

Warten wir's ab. Obwohl wir doch hoffen, der Distel möge man nicht im sechsten Lebensjahrzehnt ihrer Existenz das Dach überm Kopf wegrechnen und wegreißen – gerade jetzt, wo ein neues Programm auf die alten Bretter kam: »Hotel Heimat« (»Regie und Texte: Frank Lüdecke, Musik: Bernd Wefelmeyer, dramaturgisch-witziges Bühnenbild: Volker Walther, Kostüme und Inspizienz: Maria Döring, Technik: Steffo Jennerich). Nicht auszumalen: neues Hotel, Heimat – und Obdachlosigkeit. Paßt schlecht zusammen.

Die drei festen und prächtigen Säulen, die das Ganze tragen und zusammenhalten, heißen: Dagmar Jaeger! Stefan Martin Müller! Michael Nitzel! (Bitte jedes Ausrufungszeichen als einen großen Tusch zu verstehen.) Frau Jaeger beherrscht mit ihrer bemerkenswert gebildeten, ebenso kräftigen wie schönen Stimme eine Ausdrucksskala von ironischer Kritik bis zu kritischem Zorn. Stefan Martin Müller blättert in seinem Katalog mit denkbar vielen humoristisch-kabarettistischen Tönen, Haltungen und der entsprechenden Mimik und Gestik; dieser Mann kann sozusagen mit seinem ganzen langen Körper zwinkern. Und der rechtens vielgerühmte Michael Nitzel präsentiert sich diesmal unter anderem sogar als Parterre-Akrobat! Nitzel ist nahezu unbeschreiblich gut.

Bernd Wefelmeyer und Matthias Lauschus haben für ihre einfühlsame und exakte instrumentale Begleitung und ihre musikalischen Extra-Nummern großen Applaus verdient, so auch diesmal. An ihren Spezial-Intermezzi hat sich allerdings etwas verändert: Lauschus und Wefelmeyer sind noch besser geworden.

Erschienen in Ossietzky 9/2007