Ein Krimineller packt aus

Sergej Guk

Im heutigen Rußland meint jeder, Schriftsteller werden zu müssen. Fast jeder. Vor allem verbrauchte Politiker, Generale a. D., Beamte, Totengräber, Unternehmer, Kokotten, Schauspieler, Geheimagenten und Abgeordnete sind von dem dringenden Bedürfnis getrieben, die Buchhandlungsregale mit ihren Erinnerungen vollzustopfen. Ich weiß nicht, wer so etwas liest. Aber produziert wird es in wachsenden Mengen. Seit kurzem strömen auch die Kriminellen auf den Büchermarkt. Auszüge aus der Autobiographie eines Prachtexemplars dieser Spezies erschienen jüngst in einer Boulevardzeitung. »Dreimal Leben« ließ Leonid Bilunow (unter seinesgleichen »Makintosch« genannt) sein Schreibwerk titulieren. Das erste Kapitel schildert die schweren Kinderjahre, das zweite den Knast, wo er rund 15 Jahre verbrachte, und das dritte seinen Aufstieg zum Neureichen. Das letzte ist für Leser, die sich in dieser Materie nicht auskennen, besonders lehrreich.

Den Ursprung seiner Vermögensbildung nennt er vorsichtshalber nicht. Er erzählt nur (ohne falsche Bescheidenheit), wie er Anfang der 1990er Jahre einen der heutzutage bekanntesten Bankiers (den er als »glotzäugig wie ein Pekinese« darstellt) kennenlernte und ihm aus der Patsche half. Eines Abends besuchte unser Memoirenschreiber diesen Geldsack und konnte folgende Szene in dessen Arbeitszimmer bestaunen: Mit zitternden Knien saß der bleiche Bankier zusammengesackt in seinem Sessel. Neben ihm stand – mit einem großen scharfen Messer in der Hand – ein breitschultriger Bandit, der zu dem vor Angst beinahe bewußtlosen Opfer sagte: »Wozu brauchst Du eigentlich deine Ohren, wenn Du mich sowieso nicht hören willst?« Auf diese Weise wollte er die Außenstände eintreiben. Der Literat behauptet, nur seine zufällige Anwesenheit rettete die Ohren und den ganzen Kopf des künftigen Oligarchen. Die Dankbarkeit des Geretteten ließ nicht lange auf sich warten – übrigens in der in diesem Milieu üblichen Form: Er setzte auf »Makintosch« einen Killer an. Zum Auftragsmord kam es jedoch nicht: Der künftige Bestsellerschreiber schoß schneller …

So waren die Sitten in den Neunzigern, als das öffentliche Vermögen (mit Erlaubnis der Obrigkeit) geraubt wurde. »Makintosch« gibt das unverfroren zu: »Ja, ich war einer der ersten, der sich an der Ausplünderung Rußlands beteiligt hat.« Nun genießt der neureiche Kriminelle, der Medien zufolge an mehr als 20 Mordfällen beteiligt war (direkt oder als Auftraggeber), sein bürgerliches Dasein in Paris. Er berät Geschäftsleute, wie sie in Rußland investieren können. Die französischen Behörden stehen wohlwollend zu ihm: Durch seine breit gefächerten Beziehungen in der Unterwelt half »Makintosch« ihnen einmal bei der Befreiung von vier französischen Geiseln aus Tschetschenien. Dafür erhielt er seinen Persilschein.

In letzter Zeit schlägt das russische Establishment Alarm: Die Kluft zwischen Arm und Reich nehme eine für die innere Sicherheit bedrohliche Dimension an. Man müsse schnell etwas unternehmen. Aber was? Allen – von Politikern bis kirchlichen Hirten – fällt nichts Besseres ein, als an die Barmherzigkeit der Finanzhaie zu appellieren. Ein sehr originelles Herangehen an das Problem der Armutsbekämpfung. Haben diese Herren jemals versucht, den Pulsschlag einer Holzprothese aufzuspüren? Sollte ihnen dies gelingen, dann wird es ganz bestimmt auch mit der Barmherzigkeit klappen.

Erschienen in Ossietzky 7/2007