Merkblatt zur Begnadigung

Martin Petersen

Sehr geehrte(r) Ex-Terrorist(in),

dank der vorbildlichen Fürsorge der Bundesrepublik Deutschland konnten Sie einen Großteil Ihrer Haftstrafe suizidfrei und ohne nennenswerte Schäden an Körper oder Psyche absolvieren. Nun beabsichtigen Sie, derart stabilisiert und resozialisiert, vorzeitig in die bundesrepublikanische Gesellschaft zurückzukehren. Um die Erfolgsaussichten Ihres Begnadigungsverfahrens zu optimieren, sollten Sie unbedingt folgende Punkte beachten:

Der Kapitalismus – Ihnen vielleicht noch unter dem irreführenden Schimpfbegriff »das Schweinesystem« bekannt – hat auf ganzer Linie gesiegt. Seit 1989 ist er weltweit vollkommen alternativlos. Jede Kritik an der freien Marktwirtschaft, insbesondere ein revolutionär-sozialistischer Standpunkt, resultiert heutzutage in gesellschaftlicher Isolation und kann unter Umständen zu polizeilichen beziehungsweise zwangspsychiatrischen Maßnahmen führen, die Ihre Wiedereingliederung in die freiheitlich-demokratische Leistungsgesellschaft ernsthaft gefährden könnte. Vergessen Sie nicht, daß diesem Druck des Faktischen letztlich auch die »Rote Armee Fraktion« (RAF) nicht standhielt, die am 20. April (!) 1998 die Waffen streckte und jeden weiteren Widerstand gegen die kapitalistisch geprägte Wirklichkeit aufgab. Diese Einsicht ist auch Ihnen dringend anzuempfehlen.

Reue und Scham sind zwar keine juristischen Kategorien, doch kann eine ehrliche Offenbarung dieser Empfindungen Ihrem Gnadengesuch ein starkes moralisches Fundament verleihen. Sie sollten daher Ihre Untaten in aller Öffentlichkeit, möglichst mit Unterstützung einflußreicher Massenmedien, bereuen. Hierbei unterstützt Sie gern das Leitmedium der Berliner Republik, die Bild -Zeitung (Redaktionstelefon Hamburg: 040/34724929). Die verantwortungsvollen Journalisten des Hauses Springer zeigen traditionell ein großes Interesse daran, Aussöhnung und inneren Frieden der völkischen Gemeinschaft zu fördern. Sie werden gewiß Zeit und Möglichkeit erhalten, im Rahmen der Bild -Berichterstattung mit den Hinterbliebenen Ihrer Opfer zusammenzutreffen und sich bei Ihnen ausführlich zu entschuldigen. Bitte beachten Sie auch den Aspekt, daß Sie hier die einmalige Möglichkeit erhalten, Ihre moralische Überlegenheit gegenüber Nazi-Verbrechern zu beweisen, die trotz ihrer schweren Vergehen nie bereit waren, Reue zu zeigen.

Um den fälschlichen Eindruck zu vermeiden, Sie entschuldigten sich lediglich, um vorzeitig aus der Haft entlassen zu werden, sollten Sie in einem weiteren Schritt »tätige Reue« vollziehen. Diese kann so aussehen, daß Sie – falls es Ihnen gelingt, ein anderes Beschäftigungsverhältnis als einen Ein-Euro-Job zu erlangen – zur Wiedergutmachung Ihrer Untaten jeden nicht unbedingt zur Erhaltung Ihrer Arbeitskraft benötigten Cent den von Ihnen Geschädigten spenden oder in Ihrer Freizeit zu ebendiesem Zweck betteln gehen. Neben pekuniären Zeichen tätiger Reue können und sollten Sie ehrenamtlich tätig werden, zum Beispiel auf den CSU-Parteitagen Kloschüsseln schrubben, Kriegerdenkmäler pflegen, vor Vertriebenenverbänden Ihrem staatsfeindlichen Leben abschwören, Banken- und Versicherungsmanagern die Limousinen waschen etc.; Ihrer Erfindungsgabe sind hier keine Grenzen gesetzt.

Sollte Ihr Gnadengesuch erfolgreich verlaufen, werden Sie in eine neue Welt eintreten. Fraglos haben sich sämtliche Voraussagen terroristischer Vereinigungen wie »RAF«, »Bewegung 2. Juni« oder »Revolutionäre Zellen« als falsch erwiesen. Die Bundeswehr hat keinerlei »imperialistische Kriege« geführt, sondern setzt sich selbstlos in friedenschaffenden oder -erhaltenden Einsätzen für Demokratie und Menschenrechte ein; mit dem neuen Instrument der bereits erwähnten Ein-Euro-Jobs ist endlich das Recht auf Arbeit als Pflicht zur selben verwirklicht; mit der »Linkspartei« ist die ehemals radikale Linke in den bundesrepublikanischen Parlamentsbetrieb eingebunden; die Deutschen des Zweiten Weltkriegs, insbesondere die Zivilisten, sind endlich als vollwertige Opfergruppe des Faschismus anerkannt; der Unrechtsstaat »DDR« ist an seinem »Sozialismus« verendet. Heute leben Milliarden Menschen in einer einzigen Welt des sich frei entfaltenden Kapitals. Einer dieser Milliarden Menschen sind Sie. Willkommen also in der schönen neuen Welt der individuellen Freiheit und Eigenverantwortung! Beweisen Sie, daß Sie die Ihnen entgegengebrachte Gnade verdient haben.

Erschienen in Ossietzky 5/2007