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Bildungswissenschaftler verweisen auf eine Vielzahl von Defiziten, unter anderem auf die gravierende Unterfinanzierung, die Zersplitterung in 16 unterschiedliche Schulsysteme, die ungenügende frühkindliche Förderung, die Auslese bereits nach der vierten Klasse sowie auf schlechte Lehrerausbildung, Mangel an Lehrerstellen und zeitfressenden Bürokratismus. Bildungsministerin Annette Schavan hatte schon zuvor in Baden-Württemberg gezeigt, daß sie christlicher Wertevermittlung einen höheren Rang einräumt als dem Lesen und den Grundrechnungsarten; über das Kopftuch im Klassenzimmer wurde lange Zeit mehr diskutiert als über die desaströse Lage an unzähligen Schulen. Als übelsten Mißstand nennt die Pisa-Studie, daß hierzulande der Bildungserfolg wie in keinem anderen Land von der sozialen Lage abhängt. Das bundesdeutsche Bildungssystem ist laut Weltkinderorganisation (UNICEF) diskriminierend, laut Weltentwicklungsorganisation (OECD) unterstützt es die soziale Selektion und verhindert Chancengleichheit. Die Weltorganisation für Erziehung und Kultur (UNESCO) reiht Deutschland bildungspolitisch unter den Entwicklungsländern ein, und ein Sonderbotschafter der UN-Menschenrechtskommission prangerte das Fehlen eines Rechts auf Bildung an. Deutsche Blicke richten sich hilfesuchend auf Finnland, den unbestrittenen PISA-Sieger, dessen Schulsystem auf dem Konzept der Gesamtschule beruht. In den letzten Jahren reisten Minister und Bildungsexperten in großer Zahl in das Land der tausend Seen, um das finnische Schulwunder zu studieren. Doch warum in die Ferne schweifen? Schließlich hat es sich bis zur kleinen Frankenpost herumgesprochen, daß Finnland bei der Entwicklung seines Schulsystems auf DDR-Erfahrungen zurückgegriffen hat. Das nordbayrische Blatt ließ sich von der finnischen Erziehungswissenschaftlerin Thelma von Freymann bestätigen, »daß das Schulsystem der DDR Vorbild für das finnische war«, und selbst der bekennende DDR-Verächter Steffen Reiche (SPD), ehemaliger brandenburgischer Bildungsminister, erinnerte daran, wie er und eine deutsche Bildungsdelegation bereits 2002 in Finnland mit den Worten empfangen wurden: »Schön, daß ihr hier seid, aber was wollt ihr hier?« Die Finnen hätten zu bedenken gegeben, daß ihr Bildungssystem doch seinerseits von Humboldt, Fröbel und von Bildungsexperten aus der DDR gelernt habe. Ähnliche Berichte sind keine Seltenheit, und die Netzeitung überschrieb kürzlich einen Beitrag über das Schulsystem: »Von Finnland lernen, heißt von der DDR lernen.« Das allerdings ist in manchen Augen ein Nachteil, nicht nur in der CDU. Die Berliner PDS-Führung, bekannt für ihre verhunzte Haltung zum untergegangenen Staat, schämt sich des DDR-Vorbildes für das finnische Bildungsphänomen so sehr, daß sie im letzten Wahlkampf plakatieren ließ, Berlin müsse »skandinavisch schlau« werden. Da war selbst die frühere Bildungsministerin Edelgard Bulmahn schon 2002 ein wenig klüger. Im DeutschlandRadio Berlin wurde sie mit der Frage konfrontiert: »Ist es nicht ein bißchen absurd, Frau Bulmahn, da reisen nach der ersten PISA-Studie die Bildungsexperten nach Finnland und die Finnen sagen: › Ja, wir haben das von der DDR eigentlich gelernt‹. Ist da nicht irgend etwas schief gelaufen im deutschen Einigungsprozeß? Hätte man das nicht alles schon haben können 1990?« Die Ministerin antwortete: »Ich denke, es ist sicherlich versäumt worden, im Einigungsprozeß kritisch zu fragen, was sind eigentlich Errungenschaften in dem DDR-Bildungssystem, die wir auch erhalten sollten. Zum Beispiel war die enge Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule sicherlich eine Errungenschaft, die man hätte erhalten sollen in den neuen Ländern und die auch hätte von den alten Bundesländern übernommen werden können, das finde ich schon. Oder zum Beispiel eine stärkere Praxisorientierung in der Lehrerausbildung und -fortbildung oder eine größere Bedeutung und Gewichtung zum Beispiel der praktischen Anwendung von etwas Erlerntem...« Diese Antwort bewies Realitätssinn, auch wenn sie eine Reihe nicht gerade unwichtiger Fakten unerwähnt ließ. Wenigstens drei seien genannt: Erstens, nach Überwindung des schweren Erbes, das das Naziregime hinterlassen hatte, wurde schrittweise ein einheitliches Bildungssystem geschaffen, dessen Bestandteile – Kindergarten, Schule, Weiterbildung, Fach-, Sonder- und Hochschulen – strukturell und inhaltlich aufeinander abgestimmt waren. Besondere Aufmerksamkeit galt der Ausbildung der Lehrer. Nachdem in der ersten Phase Zehntausende von Neulehrern, vor allem befähigte Arbeiter, in Schnellkursen ausgebildet worden waren, um die die Nazilehrer zu ersetzen, wurden die Pädagogen systematisch qualifiziert: für die Klassen 1 bis 4 an Instituten für Lehrerbildung, für die höheren Klassen an der Pädagogischen Hochschule oder an Universitäten mit Diplomabschluß. Jeder Lehrer mußte in den Ferien innerhalb von fünf Jahren mindestens drei Weiterbildungskurse absolvieren, wofür vielfältige Möglichkeiten bestanden. Zweitens, eine viele Kinder benachteiligende vorzeitige Sortierung, wie sie im dreigliedrigen System der Bundesrepublik üblich ist, gab es nicht. Seit 1960 lernten alle Kinder in der zehnklassigen allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule (POS) und anschließend, wenn sie das Abitur erlangen wollten, in der »Erweiterten Oberschule« (EOS). Der muttersprachliche Unterricht, die Literatur- und Kunsterziehung sowie die Ausbildung in den naturwissenschaftlich-technischen Fächern erreichten ein Niveau, das auch international anerkannt wurde. Nach besonders begabten Schülern wurde gezielt gesucht, ihrer Förderung diente ein Netz von Spezialschulen. Drittens, dem DDR-Bildungssystem war soziale Ausgrenzung fremd. Allen Kindern stand ein Platz im Kindergarten zur Verfügung. 96 Prozent der Eltern nutzten dieses Angebot. In den Kinderkrippen bis zum dritten Lebensjahr konnte der Bedarf nicht völlig gedeckt werden, hier wurden nur 80 Prozent der Kinder betreut. (Inzwischen ist der Versorgungsgrad im Osten auf 40 Prozent gesunken, womit er für Frau von der Leyen angesichts der 2,7 Prozent im Westen »wirklich vorbildlich« ist.) Der Besuch des Kindergartens war unentgeltlich, die Eltern zahlten lediglich 35 Pfennige für das Mittagsessen. Für einen Tageskrippenplatz zahlten die Eltern statt der 177 Mark tatsächlicher Kosten lediglich 27,50 Mark im Monat. Auch der Besuch der EOS war – einschließlich aller Lernmittel – unentgeltlich, seit 1981 erhielten die Schüler in der elften Klasse 110 Mark und in der zwölften 150 Mark Ausbildungshilfe. Die »arme DDR« leistete sich ein Bildungssystem, von dem die Bürger der BRD nur träumen können. Doch statt von ihm wenigstens teilweise zu lernen, wurde dem Anschlußgebiet das antiquierte System der Bundesrepublik übergestülpt. Niemand fordert, das DDR-Bildungssystem eins zu eins zu kopieren. Zum einen hatte es Fehler, von denen es schon zu DDR-Zeiten hätte befreit werden müssen: ideologische Überfrachtung, häufig formalisierten Staatsbürgerkundeunterricht, Strammstehen bei Pionier-Appellen, einseitige Orientierung auf Russisch als Pflichtfach, übermäßige zentrale Vorgaben, schließlich auch Benachteiligungen aus politischen Gründen, jedoch bei weitem nicht so häufig, wie manche »DDR-Aufarbeiter« behaupten. Wenn zum Beispiel alle Pastorenkinder vom Studium ausgeschlossen worden wären, hätten Angelika Merkel, Wolfgang Tiefensee und viele andere niemals studieren können. Zum anderen sind unbestreitbare Vorzüge des DDR-Bildungssystems unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen in der Bundesrepublik undenkbar. Aber lernen ließe sich viel von ihm, wie man den Bildungsnotstand überwinden könnte. Und gerade wer die DDR noch immer als Feind betrachtet, sollte sich von dem Weltbühne -Autor Kurt Tucholsky auf die Sprünge helfen lassen: »Vom Feind kann man noch am ehesten lernen – manchmal auch vom Kritiker.«
Nicht nur im Bildungswesen der Bundesrepublik türmen sich heute die Probleme. Es wäre töricht, bei der Suche nach Lösungen die Erfahrungen aus der DDR zu ignorieren. Gab es nicht zum Beispiel auch im Gesundheitswesen manches Gescheite und Nützliche, was über Jahre erprobt wurde und sich bewährte? 17 Jahre nach dem Ende des ersten sozialistischen Versuchs auf deutschem Boden ist zwar fast alles »abgewickelt« und zerstört, was an die DDR auch nur erinnern könnte, und selbst wenn sich hier und da noch etwas Unzerstörtes auffinden ließe, könnte es unter kapitalistischen Bedingungen nicht einfach wieder in Gebrauch genommen werden. Die Vergegenwärtigung der Erfahrungen kann aber in heutigen politischen Auseinandersetzungen zumindest insofern hilfreich sein, als sie lehrt: Es gibt Alternativen, wenngleich die Regierenden ständig das Gegenteil behaupten. Darum beginnt Ossietzky mit dem vorstehenden Beitrag eine Serie, die zeigen soll, daß es sich lohnen kann, einfach einmal genau hinzuschauen, wie die DDR mit diesem und jenem gesellschaftlichen Problem umgegangen ist. Schwierigkeiten, Schwächen, Scheitern sollen nicht verschwiegen werden, aber wir wollen uns – so ungewöhnlich das ist – nicht durch den weiterhin vorherrschenden Antikommunismus daran hindern lassen, Erfolge wahrzunehmen und deren Ursachen zu erkunden. Red.
Erschienen in Ossietzky 5/2007 |
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