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Zelte an der Seine Denn die Götter sind verschwunden Obdachlosen, Tagedieben, Mit den Geldern der Konzerne Schließlich sind die Armen eben Dieter Brumm
Ein wertorientierter PolitikerSo ganz will Friedrich Merz denn doch nicht aus der Politik ausscheiden – von Friedbert Pflüger ließ er sich für den Vorsitz eines wirtschafts- und steuerpolitischen Beraterkreises der Berliner Stadt-CDU gewinnen. »Wir sind Merz«, hatte der FDP-Generalsekretär Dirk Niebel geworben, als Merz seinen Rückzug aus dem Bundestag, den auch formellen, für 2009 ankündigte, und Guido Westerwelle hatte verführerisch mitgeteilt, Merz kenne ja seine Telefonnummer. Aber was soll der Spitzenmann aus dem Sauerland, der immer noch verärgert darüber ist, daß die Spitzenfrau seiner Partei ihm den Rang ablief, in der FDP? Deren Zustimmung ist ihm, falls er noch einmal ins große Politikgeschäft einsteigen will, ohnehin sicher. Nach der Ankündigung seines Verzichts auf ein neues Bundestagsmandat sagten die Medien Merz nach, ein »politischer Vordenker« verlasse demnächst die parlamentarische Bühne – ein seltsamer Titel für jemanden, der durch die Erfindung des Steuerbierdeckels und der deutschen Leitkultur berühmt wurde. Als »Wertkonservativer« wurde Merz charakterisiert, tatsächlich war und bleibt er ein versierter Interessenvertreter von Großkonzernen und transnationalen Finanzunternehmen, die ein »abendländisches Menschenbild« eher für eine Luftnummer halten. Im Politmarketing kennt Merz sich aus; er bewährte sich mit forschen Sprüchen (allerdings geklaut) für die Karnevalsgesellschaft, rüder Gewerkschaftsschelte zur Freude von Mittelständlern, frommen Redensarten für Provinzchristen und Legenden über seine Jugend als Motorradrocker für die nachwachsende Generation. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag werde sich Merz »ungestört dem Geldverdienen widmen können«, kommentierte die Frankfurter Rundschau . Aber das hat er auch bisher schon getan, recht erfolgreich, und ist mit Störern ins Gericht gegangen. Zu bestätigen ist, daß Merz sich vom »Gedanken an Werte« leiten lasse, und dieser Begriff hat in seinem Fall nichts Nebulöses. Merz steht für Wertzuwachs bei den Unternehmen, die er vertritt – und selbstverständlich für Zuwachs der Werte in der eigenen Tasche. Auf die bescheidenen Nebeneinkünfte durch Zugehörigkeit zum Parlament ist solch ein Talent nicht angewiesen. Marja Winken
Der Kinderfreund»Wir müssen die Wirtschaft entlasten. Also brauchen wir mehr Freiheit und weniger Staat.« So könnte sich ein Kandidat für den Vorsitz eines Lobbyisten-Verbandes vorstellen. Aber Günther Öttinger regiert mit diesem Programm das Land Baden-Württemberg. Folglich ist er für den Abbau des Kündigungsschutzes und gegen einen gesetzlichen Mindestlohn, für »betriebliche Bündnisse« zur weiteren Schwächungen der Gewerkschaften und für die vollständige Aufhebung der Ladenschlußzeiten. Und die Betreiber der Atomkraftwerke sollen die Freiheit erhalten, ihre Anlagen wesentlich länger als vorgesehen laufen zu lassen, auch die pannenträchtigen in Kornwestheim und Philippsburg. Seiner eigenen Partei wirft er vor: »Die CDU hat in der Vergangenheit Werte wie Solidarität und Gerechtigkeit zu stark betont« und »Die Politik der vergangenen Jahre hat zu einem hohen Maß an Solidarität und Gerechtigkeit geführt, aber zu weniger Freiheit«. Also runter mit Solidarität und Gerechtigkeit: Alle Krankenversicherten sollen gefälligst einen Teil der Behandlungkosten aus der eigenen Tasche zahlen, und die Hausbesitzer sollen die Mieten innerhalb von drei Jahren um 30 (bisher 20) Prozent erhöhen dürfen – so hat es die baden-württembergische Landesregierung im Bundesrat beantragt. In den Landtagswahlkampf zogen Öttinger und seine Partei mit dem Slogan: »Baden-Württemberg – das kinderfreundliche Land«. Und landauf, landab verkündet er unentwegt: »Von großer Bedeutung für unsere Zukunft ist eine gute Erziehung und Ausbildung.« Die Taten sehen anders aus. Während seiner knapp zweijährigen Amtszeit wurde an allen Ecken und Enden gekürzt. Mehr als 500 freigewordene Lehrerstellen sollen in den beiden kommenden Jahren nicht wiederbesetzt werden, obwohl er zugesagt hatte, keine Stelle zu streichen. Die Landesbeihilfen für Kinder- und Jugendfreizeiten wurden um zwei Millionen Euro gekürzt. Betroffen sind Jugendliche aus den ärmeren Schichten. Die können sich nun mit dem Satz ihres Landesvaters trösten: »Wir wollen das Kinderland Nummer 1 in Deutschland werden.« Für die Armen hat er wenig übrig, aber gern hilft er den Reichen. Als zum Beispiel der Prinz von Baden Geld für die Sanierung seines Schlosses Salem brauchte und wertvolle alte Handschriften und Gemälde zum Verkauf anbot, machte die Landesregierung sofort ein Angebot in Höhe von 30 Millionen Euro. Wenige Tage später stellte sich dann heraus, daß die meisten der Schriften und Werke sowieso schon seit Jahrzehnten dem Staat gehören. Zum Beispiel hatte das Land Baden ein Bild von Hans Baldung Grien, für das Öttinger acht Millionen Euro blechen wollte, bereits 1930 gekauft. Daraufhin schwieg der Ministerpräsident, der zuvor noch Proteste mit dem bemerkenswerten Satz abgetan hatte: »Die Kritik kommt im Kulturteil der Zeitung, nicht auf den Wirtschaftsseiten.« Als er sich wieder einmal mit Bildung und Wirtschaft befaßte, regte er an, man solle Deutsch nur noch als »Freizeitsprache« verwenden, ansonsten aber Englisch oder »Denglisch« einüben und den Vorrang geben. Das sei wichtig angesichts der Globalisierung und internationalen Konkurrenz. Ein Witz? Nein. Aber was er kürzlich in einem Vortrag vor seiner alten waffentragenden und schlagenden Studentenverbindung »Ulmia« in Tübingen gesagt hat, will er streckenweise humorvoll gemeint haben: »Wir sind in der unglaublichen Lage, nur von Freunden umgeben zu sein. Das Blöde ist, es kommt kein Krieg mehr.« Zum Totlachen. Werner René Schwab
Ein Fastbundespräsident rätVon dem sächsischen CDU-Politiker Steffen Heitmann, der einmal Justizminister war und beinahe Bundespräsident geworden wäre, würde man wenig mehr hören, gäbe es nicht die Wochenzeitung Rheinischer Merkur , deren Mitherausgeber er trotz seiner Ungeschicklichkeiten geblieben ist. In diesem Blatt gab er jetzt einem als potentielle Nachwuchskraft für die Politik vorgestellten fiktiven Fragesteller Erfahrungen an die Hand, was denn bei der Vorbereitung auf eine politische Laufbahn zu bedenken sei: Man müsse gelegentlich lügen können, mitunter gegen die eigene Überzeugung stimmen, eindrucksvoll zu reden verstehen, auch wenn man nichts zu sagen habe. Wollte Heitmann damit auch ausdrücken, er selbst habe diese Erfordernisse nicht hinreichend beachtet, seine Meinungen über Ausländer, Frauen und Schwule beispielsweise zu offen hinausposaunt und sei deshalb um den großen politischen Erfolg gebracht worden? Am Ende seines Sermons rät er dem politischen Karriereinteressenten, sich erst einmal »eine berufliche Lebensgrundlage zu schaffen« und dann weiterzusehen. Heitmann selbst hat eine solche, er war in seinem früheren Leben theologischer Jurist, und so mag denn verzeihlich sein, daß er seinen Grundseufzer über die heutige Staatsform auf den Kernsatz bringt: »Politische Mandate sind befristet und werden von der Mehrheit vergeben, Mehrheit ist Durchschnitt ...« Was die Rechenarten angeht, so irrt unser Ratgeber hier, aber was er uns ganz nebenbei zu verstehen geben will, ist: Die deutschen Durchschnittsmenschen waren nicht fähig, einem Heitmann den Weg zur Mehrheit bei der Bundespräsidentenwahl zu ebnen. Obwohl ihm dieses Amt doch von Helmut Kohl zugedacht war. Arno Klönne
VolkstumskämpfeDie polnische Außenministerin Anna Fotyga kritisierte jüngst die Situation polnischer Bürger der Bundesrepublik. Bedurfte es ihrer Ermahnung? Wie im Falle von Deutschen in Polen sollten eigentlich die Bürger der jeweiligen Staaten ihre wirklichen oder vermeintlichen Probleme miteinander austragen. Die FAZ sieht das anders und beteiligt sich belehrend an der Debatte: Das heutige Deutschland unterscheide sich völlig von den Verhältnissen vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Völlig? Und später? Zwischen 1939 und 1989? Stimmt, da gab's auch noch was: »In Oberschlesien litten Hunderttausende dort verbliebener Deutscher noch bis Ende der achtziger Jahre darunter, daß sie weder ihre Muttersprache noch ihre angestammten Namen gebrauchen konnten. Zwangsgermanisierung und Zwangspolonisierung haben das Verhältnis beider Völker mehr als ein Jahrhundert lang vergiftet und erheblich dazu beigetragen, daß sich die damit geschürten Aggressionen kriegerisch entluden.« Beide Seiten hatten also ihren Anteil, daß sich irgendwann irgendwas »kriegerisch entlud«. Wie könnte das Bekenntnis zu soviel Gemeinsamem und Gegenseitigem nicht als eine neuerliche bundesdeutsche Versöhnungsofferte angenommen werden!? Obwohl sich noch i mmer mancher erinnern würde: Millio-nen Polen konnten dank der unerwähnt gebliebenen deutschen »Volkstumskämpfe« zwischen 1939 und 1945 nicht nur ihre Muttersprache, sondern über-haupt niemals mehr irgend ein Wort sprechen. Aber ein bedeutendes Blatt äußert sich eben nur zu Wesentlichem (oder was es dafür hält). Ludwig Elm
Loyal bis zuletztWer danach fahndet, warum Menschen immer wieder gegen ihre eigenen Grundinteressen handeln, vielfach mit tödlichen Folgen, der wird hier keine umfassende oder gar abschließende Antwort, aber viel neuen Denkstoff finden. Das ist nicht die einzige, aber die gewichtigste Empfehlung, die sich für die eben erschienenen Tagebücher Willy Cohns aussprechen läßt, des promovierten Historikers, jüdischen Gymnasiallehrers, »Frontkämpfers« des Ersten Weltkrieges, frommen Juden und überzeugten Zionisten, aktiven Mitglieds der Sozialdemokratischen Partei und – trotz alledem – deutschnationalen Mannes, der Deutschland auch dann noch liebt, als sein Geburtsland ihn immer schlechter behandelt und ihm fremd geworden ist. Wer würde zu einer Zeit, da antisemitische Gewalttaten schon begonnen haben und die Gesetzgebung den Juden ein Recht nach dem anderen entzieht, der Feder eines solchen Mannes den Satz zuschreiben: »Man muß loyal sein, um sich auch einer neuen Regierung zu fügen, die aus einem ganz anderen Lager kommt«? Wer von ihm die Feststellung erwarten, daß den Faschisten die »Gedanken der Zukunft« gehören? Wer darauf gefaßt sein, ein Lob auf die Rede zu lesen, in der Hitler nach dem leicht errungenen Sieg über Polen ein demagogisches »Friedensangebot« unterbreitete? Drei der Kinder Willy Cohns aus seinen beiden Ehen entkamen den Eichmännern durch rechtzeitige Emigration. Er, der seinen Palästina-Plan nie energisch betrieb, seine Ehefrau und die beiden jüngsten Töchter wurden 1941 mit dem ersten Transport von Breslauer Juden »nach dem Osten« verschleppt und dort von den Mörderschwadronen der Einsatzgruppe A umgebracht. Kurt Pätzold Willy Cohn: »Kein Recht, Nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933–1941«, zwei Bände, hg. von Norbert Conrads, Böhlau Verlag, 1121 Seiten, 59,90 €
Die LiebermannsDer impressionistische Maler Max Liebermann (1847–1935), den jeder kennt, entstammte einer weitverzweigten jüdischen Familie, die auch bedeutende Industrielle, Wissenschaftler und Politiker hervorbrachte. Die Berliner Autorin Regina Scheer hat diese Familiengeschichte dokumentiert. Der erste Liebermann kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus einem polnischen Grenzort nach Berlin. Die Berufsmöglichkeiten für Juden waren damals begrenzt: Kaufmann, Arzt oder Bettler. Die Familie Liebermann wurde durch den Textilhandel wohlhabend, später als Industrieelle reich. Schon 1839 bestellte der Preußenkönig einen Liebermann zum Heereslieferanten für Uniformstoffe. Regina Scheers Spurensuche ist spannend wie ein Krimi, streckenweise liest sie sich wie eine Geschichte des deutschen Bürgertums: Die Liebermanns gehörten zunächst zu den liberalen Unternehmern, die zwar vom Elend profitierten, aber auch mittels wohltätiger Stiftungen die schlimmste Not zu lindern suchten. Im März 1848 kämpfte ein Liebermann in Berlin auf den Barrikaden, ein anderes Familienmitglied in den Reihen der Bürgerwehr, die in den rebellierenden Arbeiterbezirken die »Ordnung« wiederherstellte. Mit zunehmendem Reichtum wurde die Familie mehrheitlich konservativ – 1873 erhielt ein Liebermann trotz seines jüdischen Glaubens vom österreichischen Kaiser den Adelsbrief. Den seit Ende des 19. Jahrhunderts ständig zunehmenden Antisemitismus bekam besonders Max Liebermann zu spüren: Zuerst wurde er als »Arme-Leute-Maler« verspottet, später galt seine Kunst als »entartet«. Mit dem Regierungsantritt der Nazis kam der Absturz von der Spitze der Gesellschaft zum Paria. Zahlreiche Mitglieder der Familie endeten in Auschwitz oder Theresienstadt, andere kamen der Deportation durch Suizid zuvor. Die verbliebenen Reste ihrer Vermögen wurden eingezogen. Grauenvoll ist in den von Regina Scheer gesichteten Akten allein schon die bürokratische Sprache der Arisierer. Gerd Bedszent
Regina Scheer: »Wir sind die Liebermanns. Die Geschichte einer Familie«, Propyläen Verlag, 416 Seiten, 22,90 €
Tage eines TrinkersHaben Robert Musil, Stefan Zweig und Joseph Roth nicht geirrt, war Soma Morgenstern ein ihnen ebenbürtiger Kollege. Wieso kennt niemand den Schriftsteller? Soma Morgenstern (1890–1976), der in Galizien geboren wurde und dessen Lebenslauf in New York endete, war ein vielseitiger Autor. Er stand vielen Berühmten seiner Zeit nah; die nächsten Freunde waren ihm der Musiker Alban Berg und der Erzähler Joseph Roth. Morgenstern von und über sich: »Ich habe Menschenkenntnisse erworben, die für mein Leben ausreichen würden.« Ein Ergebnis seiner Erlebnisse und Erfahrungen ist das Erinnerungsbuch »Joseph Roths Flucht und Ende«. Nun als Sonderausgabe im Verlag zu Klampen aufgelegt, der sich rühmen kann, das Morgenstern-Werk wiederentdeckt zu haben. Wer sich über Roth äußern möchte, muß Morgenstern gelesen haben, der Roth anhing wie der ihm, seit sich die Gymnasiasten das erste Mal trafen. Wo Roth war, in Wien, Berlin, Frankfurt, Paris, war irgendwann auch Morgenstern. Das Elend des Exils teilten sie in Paris, wo Roth, der Trinker, dem Tode lustvoll-enthemmt zuprostete, bis der Tod den Delirierenden in einem Spital abholte. Morgenstern hatte nie die Absicht, eine individuelle Krankengeschichte zu verfassen. Schreiben wollte er die Lebensgeschichten verfolgter Juden im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte ist die der Zerstörung des Lebens von Joseph Roth, der erst Mitte Vierzig war, als er starb. Soma Morgensterns Worte sind Worte im Widerstand gegen die erfahrene politisch-gesellschaftliche Gewalt wie gegen die Gewalt des Alkohols. Das macht das berührend-persönliche Erinnerungsbuch zu einem, das weit über das Private hinausweist. Roth wußte sich gegen die Bedrohungen im Privaten und Politischen nicht zu wehren, er schwemmte die Probleme mit einem gehörigen Pensum Alkoholica fort. Saufen, um zu schreiben, war das System Roth. Das hat so genau nur Freund Soma beschreiben können, der ein hilfloser Helfer war. Selten gelingt es einem Autor, Zeitgeschichte derart personifiziert und dennoch allgemeingültig darzustellen. Bernd Heimberger Soma Morgenstern: »Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen«, hg. von Ingolf Schultze, zu Klampen Verlag, 330 Seiten, 24 €
Zwei SchlüsseEdgar Hilsenraths Roman »Der Nazi und der Friseur« läßt den Atem stocken. Ein aberwitziger Schauerroman über die SS und die Juden. Stil: roh, rüde, gnadenlos und – ja, poetisch. Das ist möglich. Lesen Sie. Inhalt barbarisch, grotesk. Das Erzählte sprengt Herz und Hirn, ist Finsternis ohne Erlösung: Max Schulz, SS-Mann und Massenmörder, wird nach dem Krieg zu Itzig Finkelstein. Einen Sack Goldzähne tauscht er auf dem Schwarzmarkt in einen Koffer voll Geld, wandert aus nach Israel, eröffnet einen Frisiersalon, wird zum angesehenen Bürger. 1971 erschien das Buch in New York, wurde zum Welterfolg. Außer in Deutschland. Hier hielten die Verleger sich zurück. Mehr als sechzig deutsche Verlage lehnten das Skript ab. Einwände: So darf man über das Thema Holocaust nicht publizieren! 1977 erste Publikation in deutscher Sprache. Seitdem auch hier eine unendliche Geschichte. Sie erreichte mich erst jetzt. Die Erschütterung war heftig. Irritiert las ich eine Anmerkung: Hilsenrath hat für die deutsche Ausgabe das Schlußkapitel geändert. Ich wende mich an die Akademie der Künste. Seit 2006 ist dort das Edgar-Hilsenrath-Archiv für die Öffentlichkeit zugänglich. Anfrage: Warum hat Hilsenrath für Deutschland den Schluß geändert? Was steckt dahinter? Kurz darauf liegt das Schlußkapitel für mich bereit. Ich lese. Der ursprüngliche Schluß ist ein Gespräch des Massenmörders mit Gott über Schuld. »Der Einzige und Ewige« macht dem Mördermeister & Friseur Schulz den Prozeß, verurteilt ihn. Doch der hat auch Fragen an »Großer Gott«. Wo er denn gewesen sei in dieser Zeit, damals? Schulz erfährt: Gott war anwesend, Gott hat zugeschaut, und so beschließt Schulz, der »Ewige« könne nicht sein Richter sein. Er sei schuldiger als Itzig Schulz. Der Gerechte stimmt ihm zu, steigt herunter vom Richterstuhl, stellt sich neben den Ruchlosen. Zwei Ratlose. »Und so warten wir beide! Auf ein gerechtes Urteil! Aber wer wird es fällen?« Für die deutschen Ausgaben gestrichen. Ein Brief der wissenschaftlichen Mitarbeiterin gibt Aufschluß. Sie zitiert aus einem Interview mit Hilsenrath: »Als es dann in Deutschland gedruckt wurde, habe ich mir das noch mal durchgelesen und mir gedacht, nein, das würde ja den Max Schulz entschuldigen. Und den ganzen Holocaust in Frage stellen. Daraufhin habe ich die letzten zwei Seiten einfach weggestrichen. Das bleibt in Deutschland einfach offen. Jedenfalls ist die deutsche Ausgabe die richtige Ausgabe.« Hilsenrath überläßt es Tätern wie Nachgeborenen, sich der Schuld wie der Frage nach Mitschuld zu stellen; er zwingt uns, das Unvorstellbare, Ungeheuerliche, die Urteilsfindung nicht an »Lieber Gott« zu delegieren, nicht zu verdrängen, sondern uns wieder und wieder nach den Ursachen zu befragen, auf Beunruhigungen der Gegenwart hellwach zu reagieren. So verstehe ich seine Botschaft. In künftigen Ausgaben des Buches wünsche ich mir beide Schlüsse und Hilsenraths Anmerkung zu seiner Entscheidung. Anne Dessau Edgar Hilsenrath: » Der Nazi & der Friseur«, DTV, 476 Seiten, 10 €
Deutsche KulturgeschichteMan muß schon weit genug entfernt und dennoch stark beteiligt, überaus kenntnisreich und mit einem kräftigen geistigen Rückgrat wie Jost Hermand ausgestattet sein, um eine »Deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts« wie diese schreiben zu können! Der in den USA lebende und lehrende Germanist, Kunst-, Musik- und Kulturwissenschaftler wagt hier eine Zusammenschau des Jahrhunderts, zwingt sich also zu entscheiden: Was war wesentlich? Warum war es so? Die Künste leben von Bewegungen und Gegenbewegungen, sind von unterschiedlichsten Einflüssen geprägt und dennoch höchst eigen. Hermands übersichtliche Darstellung hilft, nicht nur die Geschichte der Künste im 20. Jahrhundert zu verstehen. Denn Kultur ist für ihn mehr als das Neben- und Miteinander traditioneller Künste: all das, womit sich Menschen umgeben. Auch Architektur, Mode, Fernsehen. Für all das entwickelt der Autor Verständnis. Das letzte Drittel des Buches scheint mir die besondere Leistung: Kenntnisreich und sachlich behandelt Hermand die jeweiligen kulturellen Entwicklungen beider deutscher Staaten – selbstverständlich gleichrangig –, und das in einer Kürze, um die ihn jeder Historiker beneiden kann. Für die letzten zehn Jahre des 20. Jahrhunderts in der »neuen Bundesrepublik« braucht er gar nur zehn Seiten, die es aber in sich haben: Anschluß und Ausschluß vieler Ostdeutscher, Verunglimpfung von Gesinnungsästhetik, Nonkonformismus bis hin zur »Wellness-Kultur« – nirgendwo findet man die letzten Entwicklungen so konzentriert und klar beschrieben! Daß »Randständigkeit« eine gültige und treffende Bezeichnung für die Position der meisten Künste heute ist, läßt den Autor dieser Kulturgeschichte nicht resignieren, denn er erklärt Kultur und Künste gekonnt aus deren gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Zusammenhängen. Aus der heutigen, auch statistisch belegten Unzufriedenheit vieler mit der »Ellenbogengesellschaft« und mit den Angeboten der Parteien schöpft er Zukunftshoffnungen, auch für die Kultur und die Künste. Wie es heute ist, muß und kann es nicht bleiben! Christel Berger Jost Hermand: »Deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts«, Primus Verlag, 309 Seiten, 34.90 €
Kreuzberger NotizenDieser Artikel ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht verfügbar.
Press-KohlKurz nach den Weihnachtstagen des letzten Jahres beschäftigte sich Der Tagesspiegel mit Goethe und seinen »erklärten Gegnern«. Von denen muß nun wohl mal die Rede sein, denn »erklärte Goethe-Gegner hat es bei uns nicht gerade viele gegeben. Selbst die lärmendsten Goethe-Diffamierungen der Expressionisten, man denke nur an Brecht, Döblin oder Heym, verhallten nahezu unerhört.« Seltsam, daß » Lärmendstes « nicht gehört wurde. »Nicht anders erging es Arno Schmidts Beschimpfungen gegen den Weimarer Stümper . Fast bedauert man, daß Goethe nichts anhaben kann.« Weshalb der Tagesspiegel das bedauert, entzieht sich meiner Kenntnis. Auch dieser Klassiker konnte, wenn er wollte, nichts anhaben. Viele Menschen pflegen in gewissen Situationen nichts anzuhaben, das war schon in den Zeiten der Klassik so. * Ossietzky -Leser Peter Franz aus Taubach fand im Immobilien-Teil seiner Thüringer Zeitung das Verkaufs-Angebot für ein Einfamilienhaus. Das Objekt ist, wie es scheint, für eine sehr kleine Familie bestimmt. Es handelt sich um ein »neues 3- Liter -EFH in Gotha-West«. * In der Berliner Zeitung beschäftigte sich ein kundiger Serviermeister mit der Etikette-Frage »Darf bei Tisch nachgewürzt werden?« Der Fachmann kam zu dem Schluß: »Der persönliche Geschmack ist entscheidend.« Druckfehler werden im Press-Kohl nur erwähnt, wenn sie so apart sind wie einer in dem würzigen Feuilleton. Der Oberkellner plaudert aus: »Nun möchte ich von Eckart Witzigmann erzählen und von der Zeit, als ich bei ihm – noch ein ganz kleiner Keller – gearbeitet habe.« Doch ist der Keller noch so klein, gehört ein Sommelier hinein, findet Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 4/2007 |
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