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Lula und Chávez haben sich so eindeutig legitimiert wie Evo Morales in Bolivien, Rafael Correa in Ekuador, Michele Bachelet in Chile und zuvor ihre Amtskollegen in Argentinien und Urugay, Nestor Kirchner und Tabaré Vázquez. Dem ersten Anschein nach hat eine respektable Reihe südamerikanischer Länder mit 295 Millionen der insgesamt 385 Millionen Bewohner des Kontinents die Abkehr von jener Politik vollzogen, die dem »big brother« im Norden und den lokalen Eliten eher gefällig war als der breiten, armen, unterprivilegierten Bevölkerung. Südamerika hätte damit die weltweit breiteste Front gegen die direkte und indirekte imperialistische Vereinnahmung zustande gebracht. Entspricht das den Tatsachen? Was hält diese Front im Innersten zusammen? Was ist der gemeinsame Nenner der Regierungspolitik in diesen Ländern? Bush hat eine baldige Inspektionsreise angekündigt. Lula und Chávez leisteten einander solidarisch Wahlhilfe; beide kämpften mit roter Krawatte, Chavez sogar im roten VW-Käfer. Chavez widmete seine Wie-derwahl zwar Fidel Castro, betonte aber alsbald den Willen zu völlig eigenen Lösungen. Lula erholte sich diskret an den Stränden eines Marinestützpunkts in Bahia. Die traditionelle rote Badehose war einer blauen gewichen, und von Kuba sprach ihr Träger schon gar nicht. Rafael Correa avisierte eine »bürgerliche Revolution« in Ekuador, und Michele Bachelet sichtete Chiles Zukunft in der wirtschafltichen Globalisierung. Der Blick zum Leuchtturm Kuba – vor den Wahlen – hatte noch einen Kern von ideologischer Geschlossenheit suggeriert, von gemeinsamem sozialpolitischem Wollen. Jetzt aber wirkt der Blick in diese Richtung eher scheu und verlegen zu sein – und dies nicht nur wegen der momentan schwachen Signale der Insel. Betrachten wir deshalb etwas näher, was in der übrigen Welt pauschal »die südamerikanische Linke« genannt wird . Was ist das Linke an ihr, wohin streben die einzelnen Exponenten? Oder auch: Wo sind die Grenzen ihrer Handlungsfreiheit? Beim zweiten Gipfelteffen der »Gemeinschaft südamerikanischer Nationen« in Cochabamba (Dezember 2006) stellte sich diese Frage überdeutlich, als gerade drei der acht versammelten Regierungschefs dem gleichzeitig stattfindenden Sozial-Gipfel ( Cúpula Social ) einen kurzen Besuch abstatteten. Dieses Forum versteht sich als ergänzende repräsentative Manifestation der Ideen und der Kritik »von unten«, vor allem der Indigenas. Es erschien nur der gerade in Nicaragua gewählte Sandinist und Yankee-Schreck Daniel Ortega nebst Hugo Chávez und Gastgeber Evo Morales, dem Initiator des Parallelgipfels. Noch nachdenklicher aber stimmen die inhaltlichen Divergenzen beim Gipfel selbst. Chávez' Vorwürfe, »daß da viel Konferenz, viel Gipfel« gewesen sei, aber »keinerlei Klarheit darüber, wo man eigentlich hin wolle«, und »am Ende habe man nicht einmal ein Projekt«, fassen das Ergebnis zusammen. Er bemängelte auch, daß »keinerlei ernsthafte Schritte« in Richtung eines gemeinsamen Generalsekretariats (von Chávez und Lula vorgeschlagen) getan worden seien, das auf eine umfassende Integration hinarbeiten sollte. Und ausdrücklich an Lula gerichtet, nannte Chávez solche Entschlußlosigkeit einen »großen Fehler«. Als der Peruaner Alan García – die vorgestrige US-Marionette schlechthin – seine bilateralen Freihandelsverträge mit Bush verteidigte, waren sich Chávez, Morales und Correa immerhin einig: Solche Verträge hätten nur den einen Zweck, »die eigenen Länder entschieden zu schädigen«. Lula hielt sich indessen bedeckt schlug eine Vertagung auf 2007 in Kolumbien vor und reiste vor Konferenzende ab. Zuvor hatte er noch eine ausführliche Debatte über die südamerikanische Energiefrage gefordert – im ureigensten Interesse: Es ging ihm um Brasiliens Teilhabe an der internationalen Ausbeutung bolivianischer Öl- und Gasvorkommen. Eine äußerst brisante Querele, die von den beiden Ländern geklärt werden muß, nicht von einem Gipfel, der sich um die Integration des Kontinents bemühen wollte. Zu Hause aber wurde Lula gebraucht: Noch immer ist sein neues Kabinett nicht vorgestellt; vermutlich wird es dem vorigen sehr ähnlich sein. Zentralbankchef Meirelles, Gralshüter des strikt neoliberalistischen Kurses und als ehemaliger Chairman der Bank of Boston persona grata der Amerikaner, bleibt im Amt. Die »Nationale Union der Studenten« (UNE), der Gewerkschaftsverband CUT und die »Bewegung der Landlosen« (MST) protestieren so vehement wie vergeblich. Sollte überhaupt jemand ausgewechselt werden, dann vor allem wegen der beschlossenen Koalition mit der rechten Oppositionspartei PMDB, die nun ihre Pfründen einfordert. »Bedeutet die zweite Regierung Lula die sozialliberale Verwüstung Brasiliens…?« fragt die kritische Net-Zeitschrift Amauta , »nachdem sich die erste nicht gegen die Macht des transnationalen Kapitals gestellt hat, weder gegen die Privatisierung der staatlichen Produktivkräfte und Dienstleistungen noch gegen die ungleichen Einkommen und die Großagrarier …?« Die «Bewegung der Landlosen« hat nach ihrer offiziellen Wahlhilfe den »Waffenstillstand gekündigt« und deklariert ihre »Enttäuschung angesichts der Unfähigkeit der Regierung Lula, mit der neoliberalen Politik ihrer Vorgänger zu brechen, auch wegen der Art, wie einige Sektoren der Linken die bürgerliche Politikmache übernommen haben, die zu einer Serie von Korruptionsskandalen und wahltaktischen Praktiken geführt hat«. Die «Landlosen« fordern deshalb »die Abkehr von der neoliberalen Wirtschaft, die Bekämpfung der Monopolisierung von Agrarflächen sowie des Kommunikations- und Finanzwesens«. Die Basisorganisation mag dabei auf die brasilianischen Großbanken anspielen, die großzügigsten Spender für Lulas Arbeiterpartei: 10,5 Millionen Real (3,75 Millionen Euro) kamen von denselben Banken, die gerade unter Lula Redkordgewinne eingefahren hatten: 28,3 Milliarden Real (10,1 Milliarden Euro) allein im Jahr 2005. Vor solchem Hintergrund sind die »Landlosen« einsame Rufer in der neoliberalen Wüste. Erst recht, wenn sie ganz wie Hugo Chávez »die solidarische Integration der lateinamerikanischen Länder als Gegenkraft zur Kolonialmentalität der brasilianischen Elite und als Front gegen den nordamerikanischen Imperialismus« postulieren. Und wenn sie weiterhin den Abzug der brasilianischen Blauhelme aus Haiti und an deren Stelle solidarische Hilfe dort fordern. Oder wenn sie schließlich auf die 2002 versprochene »politische Reform im Sinne partizipativer Mechanismen wie partizipative Finanzplanung und Volksabstimmungen« dringen. Dabei war der Präsident so stolz auf seine UN-Truppen in der Karibik wie Angela Merkel auf ihre Marine vor dem Libanon. Seinen »Brief an die Brasilia-ner« indessen, in dem er vor fünf Jahren politische Reformen ankündigte, scheint er vergessen zu haben. Es überwiegt das Gefühl der Stagnation und Ratlosigkeit. Die Abgeordneten von Senat und Kongreß entwickeln freilich ihre eigenen Vorstellungen von politischer Kultur. Nach ihrer Wahl haben sie als Erstes ihre Diäten um 91 Prozent aufgestockt: Ihr Grundgehalt von 24.500 Reais (8.750 Euro) übertrifft das ihrer deutschen und britischen Kollegen. Es entspricht 70 brasilianischen Mindestgehältern, während ein Abgeordneter des House of Commons den 5,4fachen britischen Mindestlohn bezieht. Zudem zahlt Brasilia Aufwandsentschädigungen von monatlich 65.000 bis 100.000 Reais (23.000 bis 36.000 Euro), die weit über europäische Maßstäbe hinausgehen. Inzwischen ist allerdings eine verfassungsgerichtliche Prüfung im Gange. Lula beschränkt sich im wesentlichen darauf, für 2007 ein Wirtschaftswachstum von drei bis vier Prozent vorherzusagen – als wären damit alle Probleme gelöst. Wachstumsfetisch und ideologisches Vakuum waren einst Kennzeichen der Vorgänger-Regierung Cardoso. Lulas forcierte Wachstumspolitik, wenn auch verbunden mit der Verheißung, alles besser zu machen, in Erziehung und Arbeitsbeschaffung zu investieren und »Brasilien zu entblocken«, verdrängt den ehemals angesagten Sozialismus der Arbeiterpartei, zumal die Privatisierung in allen Bereichen vorangetrieben wird. Das ist aber großen Teilen der Bevölkerung noch nicht aufgegangen. Lula und viele seiner alten Genossen vermeiden geflissentlich das genierliche Wort Sozialismus und stellen keine der traditonellen Wirtschaftsoligarchien ernsthaft in Frage. Die Partei-Ideologen verweisen auf China: Vorrangig sei die Aufgabe, die Konkurrenzfähigkeit von Industrie und Handel zu entwickeln. Erst danach könne es echte Chancen für den »Sozialismus de XXI. Jahrhunderts« geben, von dem Chávez spricht. Doch während Lula weiterhin privatisiert, avisiert Chávez die Verstaatlichung der Kommunikationsmittel und der Energiewirschaft und kündigt damit die Zusammenarbeit mit internationalen Unternehmen bei der venezuelanischen Erdölförderung auf. Der Überblick über die Politik in den mehr oder weniger links regierten Staaten Lateinamerikas wird im nächsten Heft fortgesetzt
Erschienen in Ossietzky 4/2007 |
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