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Nein, sie hat im Nebenzimmer zu arbeiten. Er fragt mich nach meinem Beruf und er sei neunzehn auch nach meinem Alter. Jetzt ist er mir fast sympathisch, seine Art zwischen Unbeholfenheit und Professionalität gefällt mir. Er sieht mir offen in die Augen, wendet den Blick nicht ab. Sein Formular ist selbstgemacht, er komme als Mitglied einer Selbsthilfegruppe, sagt er. Nun soll ich schätzen, wie viele Bundesbürger etwas gegen aus der Haft entlassene jugendliche Straftäter hätten. Ich schätze die Prozentzahl viel zu niedrig ein. Wie viele der Entlassenen erneut straffällig würden? Wieder liegt meine Zahl weit unter dem Durchschnitt aller Antworten. Dann, nach einem gutgebauten Übergang, beginnt er von sich selber zu erzählen. Seine Mutter sei schon während ihrer Schwangerschaft heroinsüchtig gewesen. So vorbelastet sei er aufgewachsen. Im Alter von sechs Jahren habe er seine Mutter zum erstenmal besinnungslos mit einer Nadel im Arm liegen sehen. Kein schöner Anblick. Mit vierzehn habe er die ersten leichten Drogen genommen. Dann sei auch er beim Heroin gelandet. Ein Richter habe ihn nach einer Straftat zum trockenen Entzug gezwungen, diesem Zwang verdanke er es, jetzt von der Sucht befreit zu sein. Er arbeite in der erwähnten Selbsthilfegruppe mit, und es gehe ihm gut, nur habe er keine Arbeit. Er könne nicht nach Hause zurück, da wäre er gleich wieder auf dem Trip. Aber er bekomme auch keine Unterstützung vom Arbeitsamt, denn er sei ja durch eine Luxusdroge in seine mißliche Lage gekommen. Wäre er alkoholsüchtig, könne er auf Hilfe rechnen. Nun habe er von einer Firma eine Chance bekommen: Er müsse in einem Monat tausend Befragungen durchführen. Und dann meine Frau steht inzwischen aufmerksam im Hintergrund läßt er die Katze aus dem Sack. Er legt mir eine Liste vor, nicht von besonders geschäftsmäßigem Aussehen, auf der ich ein Zeitschriftenabonnement ankreuzen kann. Ein Drücker, schmeiß ihn raus, geht es mir durch den Kopf und meiner Frau im Hintergrund auch, wie sie mir hinterher sagt. Zwischen Welt der Frau für Lieschen Müller und Der Spiegel für Dr. Lieschen Müller interessiert mich nichts. Den Spiegel hatte ich vor mehr als zehn Jahren schon mal ein ganzes Jahr lang Woche für Woche durchgeblättert, bis ich ihn endlich wieder los war! Was sollte ich nun mit diesem freundlichen jungen Mann tun? Er hatte seine Sache sanft, vertrauenerweckend, überzeugend eingefädelt. Er könnte mir sein persönliches Schicksal wahrheitsgemäß geschildert haben. Das wäre ziemlich schrecklich. Allerdings könnte auch der Führer seiner Drückerkolonne, eine Art moderner Schriftsteller und Regisseur, die eben gehörte, durchaus glaubhafte Geschichte verfaßt und mit ihm und seinen Mitsklaven eingeübt haben. Das wäre nicht weniger schrecklich. Vielleicht aber hat sich der fast erwachsene Jugendliche an meinem Tisch das Ganze komplett selbst ausgedacht, und sogar die Zeitschriftenwerberei ist nur einer seiner Tricks. Jedenfalls fiel er an keiner Stelle unseres Gesprächs aus der eingeübten Rolle des höflichen jungen Mannes. Als er einmal leicht aufstoßen mußte, entschuldigte er sich beinahe formvollendet mit einem Griff zum geschlossenen Mund. Na gut, ich gab ihm zehn Euro, und ich weiß, ich hätte das nicht tun dürfen. Ich hätte mich bei irgendeiner bürgernahen Behörde erkundigen können und erfahren, derzeit sei es wieder schlimm mit den Drückerkolonnen Vorsicht, Vorsicht! Weshalb sind solche Menschenschicksale in diesem angeblich hochentwickelten demokratischen Land vieltausendfach möglich? Wer schämt sich eigentlich dafür? Dreimal jeden Tag will mir jemand am Telefon irgend etwas andrehen. Ich bin längst gleichgültig geworden und gezwungen, das Gespräch abrupt und unhöflich zu beenden, wie es eigentlich nicht meine Art ist. Es war doch ein Gespräch. Und es war doch ein Mensch, der mir zwar im Auftrag von irgendwem etwas Überflüssiges aufschwatzen wollte und mich damit plagte, aber er wollte doch mit mir reden. Wie muß es in ihm aussehen, nachdem er seinen dummen Spruch hundertmal hergesagt hat, von dem er selbst weiß, wie dumm er ist, und darauf hundert freche, gleichgültige, verächtliche Reaktionen gespürt hat? Der Neunzehnjährige in unserer Wohnung, sein Alter ist das einzige, was ich ihm vorbehaltlos glaube, ist Teil unserer Jugend. Und die soll doch unserer Gesellschaft, demographisch gesehen, mehr und mehr fehlen. Aber Berufsabschlüsse lohnen sich kaum, sie münden zu oft in endlose unbezahlte Praktika ohne Aussicht auf Arbeit. Unterqualifiziert. Überqualifiziert. Was soll aus diesem jugendlichen Zeitschriftenwerber später werden? Doch noch ein Ingenieur, ein Meister, ein Facharbeiter, ein Computerspezialist? Es sind doch unsere Kinder. Und was tun wir? Viele von uns pflegen als Mitglieder all dieser Golfclubs und Karnevalsvereine ihr Image unter den Mitbürgern. Auf all diesen Studiosus-Reisen vertiefen sie ihr Wissen über die uralten Kulturen und versuchen der persönlichen Einsamkeit zu entrinnen. Eines lächerlichen Schnäppchens wegen kämpfen sich andere durch die ewigen Sonderangebote. In Kirchenchören, landauf, landab, beruhigen sie ihr Gewissen. Ehre sei Gott in der Höhe und den Menschen ein Wohlgefallen. Manche aber treffen sich Nacht für Nacht um ein Uhr vor dem »Jobcenter«, um für den nächsten Tag eine Arbeit zu bekommen, die den Namen nicht verdient. Tagelöhner für fünfzig Euro. Nur einige, wenige dieser Männer zwischen Ehre und Stolz, Armut und Asozialität haben eine Chance. Sie suchen ihre Verzweiflung zu verbergen, aber die steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Als der junge Mann geht er hat mir korrekt und sehr bescheiden gesagt, er dürfe kein Geld nehmen, aber ich könne natürlich tun, was ich wolle , bewundert er nicht meine verhältnismäßig vielen Bücher, wie das andere Besucher oft tun. Nein, da liegen im Regal zwei Marmorkugeln, die ich von irgendwoher einmal mit nach Hause geschleppt habe, chinesischer Tand im seidenausgeschlagenen Kästchen. Man soll sie in den Händen kneten und davon Kraft bekommen. Die findet er »ziemlich toll«. Beinahe hätte ich sie ihm geschenkt.
Erschienen in Ossietzky 4/2007 |
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