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Bemerkungen
Strategie 07
Nordpolschmelze, Alpenglühen:
Menschentechnik schließt den Kreis;
der Natur vergeht das Blühen,
weil’s der Mensch ja besser weiß.
Der lebt nur noch als Maschine,
konstruiert zum Selbstverzehr –
Irdenes wird ihm Ruine,
Sisyphos erscheint nicht mehr.
Seine Erde? Rohstoffhülle
ohne eigenen Verstand?
Langsam schwindet ihre Fülle,
schluckt die Flut so manches Land.
Weil auch Tiere untergehen
(Noahs Arche fehlt schon sehr),
steckt man welche in Museen –
oder findet keine mehr.
Also rückt die Ritterwanze
Zum »Insekt des Jahres« auf,
und läßt unsrer Todeslanze
ihren ungehemmten Lauf.
Dieter Brumm
Große Zeiten
Brigitte Fehrle, erst bei der taz, dann bei der Berliner Zeitung, ist seit der Übernahme der Frankfurter Rundschau durch den Medienkonzern DuMont stellvertretende Chefredakteurin dieses Blattes. Als politische Trendsetterin verdient sie Aufmerksamkeit. Ein Beispiel: Längst vor Kurt Beck beklagte sie, daß bei einem Teil des deutschen Volkes »jeglicher Aufstiegswille verschüttet« sei, und sie benannte auch die Ursache: »Staatliche Alimentation« sei durch eine verfehlte Politik »zur anerkannten Lebensform gemacht« worden. Trompetenstöße gegen Sozialstaatlichkeit sind inzwischen nicht mehr notwendig, und so hat sich Brigitte Fehrle nun ein neues Thema gewählt. In einem Leitartikel »Regierung am Ende« mokiert sie sich über die Große Koalition, die zu großen Taten nicht fähig sei, was aber wiederum auch nicht so tragisch sein müsse, denn deutsche Innenpolitik könne als »Raufplatz für Kinder« betrachtet wer-den, wo man sich »höchstens ein aufgeschlagenes Knie« hole – »deutsche Außenpolitik aber kann bald tödlich sein«.
Ein bedeutungsschwerer Satz. Was mag die FR-Vize da in ihrem prognostischen Blick haben? Sicherlich nicht, daß dem deutschen Außenminister bei seinen Fernreisen etwas zustoßen könnte. Auch nicht, daß Soldaten der Bundeswehr bei ihren Auslandseinsätzen möglicherweise in Lebensgefahr geraten; das ist ja nichts Neues. Brigitte Fehrle hat Höheres im Sinn, Heroisches, so ist zu vermuten, denn sie schreibt weiter: »Dann braucht das Land eine Regierung, die Mindestanforderungen erfüllt. Und das heißt zu regieren mit Ernst, Verantwortungsgefühl oder doch wenigstens mit Anstand.« Mit deutschen Tugenden also, die, in zivilistischen Zeiten »verschüttet«, einem weltpolitischen Kampfplatz angemessen sind. A.K.
Die früher unabhängige, sich als linksliberal verstehende FR, ursprünglich antifaschistisch, inzwischen auf der SPD-Schiene zum DuMont-Konzern verschoben, droht verlegerisch weiter heruntergewirtschaftet zu werden. Dagegen richtete sich im Dezember Proteste der Beschäftigten, von denen die Öffentlichkeit so wenig erfuhr wie von der braunen Vergangenheit des DuMont-Konzerns, der während der ganzen Nazi-Zeit Goebbels-Propaganda verbreitet hatte. Jetzt gehört ihm auch eine der größten Zeitungen Israels. Red.
Panzergläubig
»Ami goes home« steht in großen Lettern auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe des Monatsblattes konkret im neuen Jahr zu lesen – erbittert, nicht etwa erleichtert. Stefan Frank äußert im Inneren des Heftes die Sorge, der Bericht der Baker-Kommission (»Baker ist ein Idiot, darum kann jemand wie Uri Avnery ihn so gut leiden«, meint Frank) könne in den USA die Neigung bestärken, Truppen aus dem Irak abzuziehen. Das paßt dem konkret-Autor gar nicht: »Nicht weniger ausländisches Militär, sondern mehr« sei dort nötig. Zu welchem Zweck? »Die Sunniten müssen vor den schiitischen Milizen geschützt werden, die Schiiten vor Al-Quaida und die Kurden vor der Türkei.« Eine der humanitären Interventionen also, mit denen das Pentagon voll beschäftigt ist.
Was die konkret-Redaktion dazu veranlaßt hat, gerade jetzt vor einer »Bring them home«-Politik der USA zu warnen, ist nicht recht verständlich. Ein intensiveres Studium US-amerikanischer Quellen hätte sie beruhigen können: Derzeit ist in Washington eher eine Verstärkung des Militäreinsatzes im Irak beabsichtigt als dessen Verringerung.
Bemerkenswert ist eine argumentative Korrektur im Spektrum des Hamburger Blattes: Nachdem konkret-Autoren wie Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken (deren Sympathieerklärungen für angeblich progressiv wirkende militärische Zugriffe des Westens auch im Organ der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, in der Springer-Welt und auf den Internetseiten des Wadi e.V. nachzulesen sind) das kriegerische Vorgehen gegen den Irak zunächst als Offensive für die Demokratisierung des Nahen Ostens deuteten, wird das militärische Engagement des Westens nunmehr als rettendes »kleineres Übel« beschrieben, darauf gerichtet, »Schlimmeres zu verhüten«. Diese Dämpfung der Tonlage kommt aber insofern nicht überraschend, als inzwischen der Chef im Pentagon ausgewechselt worden ist und die US-Neocons selber an ihrem Sieg zweifeln.
Ob »demokratischer Befreiungsschlag« oder »humanitäre Notlösung« – konstant geblieben ist der Glaube daran, daß es den Irakern am besten bekommt, wenn »ein amerikanischer Panzer vor der Tür steht« (Thomas Uwer). Daß die Schiiten, Sunniten und Kurden, die da entweder mit Demokratie beglückt oder voreinander geschützt werden sollen, tagtäglich weniger werden, ist, weltmissionarisch gedacht, unerheblich.
Ein Wadi, geographisch Gebildete wissen das, ist ein Trockental, in das Wasser durch starke Regengüsse eingeführt werden kann – »dann ist es lebensgefährlich, sich darin aufzuhalten«, warnt das Internet-Lexikon Wikipedia.
Peter Söhren
Fußnote zu Ford
In den Nachrufen auf den im Dezember verstorbenen ehemaligen US-Präsidenten Gerald Ford blieb ein Name unerwähnt: Oliver Sipple. 1975 versuchte eine Frau in San Francisco, Ford aus nächster Nähe zu erschießen. Als sie abdrückte, stieß Sipple sie zur Seite, gerade noch rechtzeitig, daß Ford nicht getroffen wurde. Der 33jährige ehemalige Marinesoldat galt in den Medien sofort als Held – bis große Zeitungen gegen seinen Willen bekannt gaben, daß er heimlich homosexuell war. Ford dankte seinem Lebensretter nach tagelangem Zögern nur brieflich.
Seit 1973 galt Homosexualität unter US-Psychiatern nicht mehr als »Geisteskrankheit«; ab 1975 durften endlich auch Schwule und Lesben für die Bundesregierung arbeiten; wenige Wochen vor dem Attentat hatte sich ein Mann auf dem Titelbild des Time-Magazins öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt. Dennoch: Mit einem schwulen Helden wie Sipple wollten die meisten Amerikanern und ihr konservativer Präsident nichts zu tun haben. Seine eigene Mutter machte ihn vor Zeitungsreportern schlecht und sprach, wie auch ihr Ehemann, bis zu ihrem Tod nie wieder ein Wort mit Fords Retter. Ihr Begräbnis durfte er nicht besuchen. In sechs Gerichtsverfahren versuchte der gebrochene Mann, die Reporter zur Verantwortung zu ziehen, die ihn bloßgestellt hatten – vergeblich. Er ging nur noch nachts auf die Straße, war oft betrunken, selbstmordgefährdet und starb 1989. Erst nach zwei Wochen wurde Sipples Leiche gefunden. An einer Wand der desolaten Wohnung hing sein wertvollster Besitz: der gerahmte Dankesbrief von Gerald Ford. Dem Begräbnis seines Retters blieb der Ex-Präsident fern.
Gerald Ford wurde 93 Jahre alt. Es war ihm vergönnt, älter als jeder andere Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Martin Petersen
Ein Musterknabe
Ihren Parteivorsitzenden volkspädagogisch folgend haben Volker Kauder, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag, und Hubertus Heil, Generalsekretär der SPD, zum Jahreswechsel den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes die Leviten gelesen: Der Wille zum sozialen Aufstieg müsse lebhafter werden, so manche/r sei noch gelähmt durch falsche Hoffnungen auf den Gabentisch des Sozialstaates.
Dabei gibt es doch immer wieder Vorbilder für die angemahnten Kletterkünste, und über eines derselben konnte die Presse jetzt berichten: Matthias Berninger, derzeit noch Landesvorsitzender der hessischen Grünen und wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Partei im Bundestag, wird seine politischen Ämter hinter sich lassen und als Manager bei »Masterfoods« in Brüssel einsteigen, einer europäischen Tochterfirma des US-amerikanischen Nahrungsmittelkonzerns Mars Inc.
Berninger ist ein fixer Junge. Als 23jähriger rückte er 1994 ins Parlament und damit in die Profipolitik ein, wobei ihm, eigener Aussage nach, vor allem »die Liebe für Zahlen« zugute kam. Eben diese Neigung wirkt gewiß auch bei dem nun anstehenden Jobwechsel mit. Ein weiterer Karriereschritt in jungen Jahren. Berninger hat dafür nicht so lange gebraucht wie der ostwestfälische SPD-Vorsitzende Axel Horstmann, der neulich, schon ziemlich betagt, Manager eines Energiekonzerns wurde.
Allerdings hat der grüne Musterknabe, der seiner Partei bei der Annäherung an Union und FDP half und sich als »ökoliberal« versteht, spezifische Sachkenntnisse für seine neue Tätigkeit vorzuweisen. Als Staatssekretär im Bundesministerium für Verbraucherschutz (unter Renate Künast) kämpfte er gegen den fatalen Hang Jugendlicher zur Dickleibigkeit an. Da ist er demnächst bei dem weltweit größten Hersteller von süßen Riegeln (Mars, Twix, Bounty, Milky Way, Snickers etc.) am richtigen Platz: auf der Schokoladenseite. Marja Winken
Bericht und Kommentar
Zu den Neuerungen, die helfen sollten, der faschistischen Demagogie, die bis dahin die Zeitungen in Deutschland geprägt hatte, ein Ende zu setzen, gehörte im unmittelbaren Nachkrieg, so wird berichtet, eine Übernahme aus der britischen Presse: die saubere Trennung zwischen dem, was als Tatsache mitgeteilt wird, und dem Kommentar, mit dem die Redaktion diese ihre Mitteilung versieht. Objektivität wird so aber mitunter nur vorgetäuscht. Die Praxis, Tatsachen zu verschweigen oder sie in einer verfälschenden Verkürzung – sagen wir »mäßig entstellt« – zu berichten, bleibt davon unberührt.
Wie eine saubere Trennung von Nachricht und Kommentar aussieht, dafür gab jüngst eine Tageszeitung ein Beispiel: In einem Bericht über die bevorstehende Erhöhung der Tarife der Berliner Stadtreinigungsbetriebe war zu lesen: »Der BSR-Aufsichtsratsvorsitzende und Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linkspartei) äußerte sich zufrieden über die neue Tarifstruktur. Die BSR erbringe im Vergleich zu anderen Großstädten qualitativ hochwertige Leistungen zu niedrigen Preisen, erklärte er.« Drei Zeitungsspalten links davon wird der Kommentar des Berichterstatters unter den Überschriften »Meine Sicht. Der Griff an die Kehle« gesondert gedruckt. Darin ist zu lesen: »Besonders infam im Zusammenhang mit Preiserhöhungen ist, wenn Politiker und Unternehmer (vulgo: Kapitalisten; K. P.) dann Vergleiche mit anderen Städten bemühen, um so nachzuweisen, daß man eigentlich noch ganz gut dasteht. Die Berliner leben hier und müssen hier und heute mit dem Geld auskommen.« Wie wahr und wie binsen-wahr.
Damit hat das Thema sein Bewenden an diesem Tage in der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland noch nicht. »Läßt Rot-Rot (das ist die verkleidende Bezeichnung für die Koalition, von der die Bundeshauptstadt regiert wird; K. P.) die Preise steigen?« wird gefragt und darauf dem Leser in einem Interview erläutert, daß es eine Alternative zum Griff in den Geldbeutel der kleinen Leute nicht gebe und dies zudem gerade den Kunden zugute komme. Denn: »Wer öffentliche Unternehmen der Daseinsvorsorge halten will, muß wirtschaftlich agieren.«
So sprach der gelernte Jurist und Berliner Linkspartei-Vorsitzende. Ein Vorkämpfer für die von ihm apostrophierte Berliner »Solidarpreisgemeinschaft«. Wer wollte sich der leichten Herzens und gar guten Gewissens verweigern? Kurt Pätzold
Lust auf Anarchie
»Libertäre, freiheitliche Sozialisten, Anarchistinnen und Anarchisten wollen weder herrschen noch beherrscht werden (aus dem Griechischen: anarchia = ohne Herrschaft). Sie wollen nicht Chaos und Terror, sondern streben eine klassenlose, freiheitlich-sozialistische und menschengerechte Welt an, eine Ordnung ohne Herrschaft: die Anarchie.« Bernd Drücke, der langjährige verantwortliche Redakteur der Zeitschrift Graswurzelrevolution, gibt diese Begriffsbestimmung im Vorwort des von ihm zusammengestellten und herausgegebenen Buches »ja! Anarchismus«. Er tritt damit dem »Zerrbild des Bomben werfenden Anarchos im schwarzen Kittel« entgegen, wie es in bleiernen Zeiten immer wieder verbreitet worden ist, so zum Beispiel wenn die Süddeutsche Zeitung den Anschlag auf das UNO-Gebäu-de im Jahre 2003 der »Logik der Anarchie« zuweist und ihre bayrische Definition gleich mitliefert: »Anarchie ist der Zustand der Rechtlosigkeit, Anarchie steht für die Auflösung aller Herrschaft, für Willkür, Chaos, Abwesenheit aller ordnenden Gewalt.« Der herrschende Block schürt gern die Terror- und Chaos-Angst, um alle Kritik an seinen eigenen Gewaltpraktiken zu ersticken und den Menschen auch noch ihre Sehnsucht nach gewalt- und herrschaftsfreien Zuständen auszutreiben.
Doch auch die sozialistische Linke ist seit ihren Anfängen nicht einig darin, ob schon auf dem Weg zu einer klassenlosen, gewalt- und herrschaftsfreien Gesellschaft auf Gewalt, Unterordnung und Unterdrückung verzichtet werden kann und soll, ob der Zweck schon in den Mitteln enthalten sein muß. Auch die Praxis derer, die sich AnarchistInnen genannt haben und nennen, ist hier nicht immer eindeutig gewesen.
Das vorliegende Buch handelt derartige konkrete, auch heute aktuelle Fragen nicht in abstrakter Ferne ab. In 19 Interviews und Gesprächen kommen VertreterInnen aus dem gewaltfrei-anarchistischen Spektrum zu Wort wie auch libertäre Sozialisten und AktivistInnen der »Freien Arbeiter Union«.
Drücke mit seinem sympathisch-einfühlenden Interviewstil sorgt dafür, daß nicht Definitions- und Abgrenzungsrituale vorgeführt, sondern Bilder einer mannigfaltigen und durchweg mutmachenden Praxis gezeichnet werden. Sie sind in fünf Kapitel geordnet: »Anarchismus und Kultur«, »Anarchistische Medien«, »gewaltfreier Anarchismus und Graswurzelrevolution«, »Anarchafeminismus und soziale Revolution« und »Gelebte Utopie«. Manche Jüngere, vorwiegend aus dem studentischen Milieu, überraschen und erfreuen mit ihren vielfältigen politischen, intellektuellen wie kulturellen Ausdrucksformen; die vielen Älteren mit ihrem jahrzehntelangen Engagement tragen ähnliche Erfahrungen bei; sie zeigen, daß »Anarchismus« eine beeindruckende Lebenshaltung werden konnte und keineswegs nur eine zeitweilige Begeisterung in der Jugendzeit bleiben muß. Hanna Mittelstädt (»Edition Nautilus«) sagt es so: »Ich hätte nie in einer Gruppe mitgemacht, wo nicht Poesie und eigenes individuelles Glücksstreben eine gleichberechtigte Rolle gespielt hätten.« Da kommt »Lust auf Anarchie« auf. Ich jedenfalls habe dieses Buch in einem Zuge durchgelesen und es schon mehrfach verschenkt.
Otto Meyer
Bernd Drücke (Hg.): »ja! Anarchismus – Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert«, Karin Kramer Verlag, 280 S., 19,80 €
Upton Sinclair in Deutschland
Das erste deutsche Blatt, das einen Text von Upton Sinclair veröffentlichte war 1906 die Tierärztliche Rundschau, nämlich den Text »Wie Büchsenfleisch gemacht wird«. Das erfährt man aus Edmund Schulz‘ Bibliographie über die Sinclair-Rezeption in der deutschen Presse. Das Autorenverzeichnis umfaßt viele große Namen: Alfred Kerr, Max Herrmann-Neisse, Wieland Herzfelde, Egon Erwin Kisch, Axel Eggebrecht, Kurt Tucholsky, Karl Kautsky, Klaus Mann ... Die Zeitschrift, die am meisten dazu beitrug, den sozialkritischen Autor in Deutschland bekanntzumachen, war Die Weltbühne.
In den Jahren der Weimarer Republik war er in Deutschland der meistgelesene amerikanische Autor. Die Auflagen seiner Bücher im Malik-Verlag erreichten Rekordzahlen: »Jimmie Higgins« 40.000, »Hundert Prozent« 50.000, »Der Sumpf« 80.000, »Boston« 90.000, »Petroleum« 125.000, um nur einige zu nennen.
Vorangegangen war der Chicagoer Schlachthofroman »The Jungle«, der in den USA Furore machte und weltweit Aufsehen erregte. Es dauerte nur fünf Monate, bis im hannoverschen Sponholtz-Verlag die erste deutsche Übersetzung vorlag. Auch hierzulande wurde das Buch zu einem »Bestseller«, leider ebenfalls mit jener Wirkung, die der Autor eigentlich nicht beabsichtigt hatte: »Auf die Herzen der Menschen hatte ich es abgesehen, ihre Mägen habe ich getroffen.« Tatsächlich ist der Roman weit mehr als eine naturalistische Schilderung der unhygienischen Produktionsbedingungen in den damaligen Chicagoer Fleischfabriken, er ist ein Protest wider die gnadenlose Ausbeutung der aus dem europäischen Osten eingewanderten Frauen und Männer durch die Bosse von Armour and Co.
In den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg erschien in Westdeutschland nichts. Nachdem sich Sinclair kritisch zur Sowjetunion geäußert hatte, trat sogleich Schweigen in der DDR ein, nun durfte er gelegentlich in Westdeutschland erwähnt werden.
Wer heute in eine Buchhandlung geht und nach Upton Sinclair fragt, verläßt sie ohne Erfolg. Kein deutscher Verlag hat gegenwärtig ein Werk des wohl produktivsten nordamerikanischen Schriftstellers des 20. Jahrhundert im Programm. Nicht einmal der wahrlich aktuelle »Dschungel« findet sich in den Regalen.
Die Amerikanisten der Dortmunder Universität erinnerten in einem Symposium und mit einer von den Studierenden inszenierten szenischen Lesung an das Erscheinen dieses Buches vor 100 Jahren. Bestritten wurde das Symposium von drei Gästen aus den USA – Anthony Arthur aus Los Angeles, Kevin Mattson aus Ohio und Giedrius Subacius aus Chicago –, die in diesem Jahr mit neuen Büchern Werk und Leben Sinclairs ins gesellschaftliche Bewußtsein zurückholten, sowie von Edmund Schulz aus Leipzig.
F.G./ E.S.
Edmund Schulz: »Upton Sinclair in der deutschsprachigen Presse«, Selbstverlag: Hans-Marchwitza-Straße 2–513, 04279 Leipzig, 79 Seiten, 5 €
Friedrich Wolf im Feuerregen
Die Wolken krachen und die Blitze fegen / der Himmel ist ein Feuerregen – schrieb Friedrich Wolf am 17. Juni 1953, tief aufgewühlt von den Ereignissen der letzten Tage, in einem Gedicht für seinen neugeborenen jüngsten Sohn. Mit diesen Versen leitet Christel Berger ihr Buch über das letzte Lebensjahr des Dichters ein – das Jahr 1953 mit Stalins Tod, dem Abschluß des Dramas »Thomas Münzer«, dem Aufstand des 17. Juni und der Geburt des Sohnes Thomas.
Besonders lesenswert ist das Kapitel über Stalins Tod, Friedrich Wolf und die Sowjetunion. Wie viele Antifaschisten war Wolf in den 1930er Jahren in eine doppelte Falle geraten: Kaum waren sie dem Zugriff der Nazi-Schergen entflohen, da erreichte die Emigranten der Terror Stalins. Wohin jetzt? Wolf entschied sich für die Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg, schaffte es aber nicht mehr hinzukommen.
Kommunisten wie er saßen auch in einer Glaubensfalle: All seine Kraft hatte er dem Kampf gegen den Faschismus und für eine kommunistische Zukunft gewidmet. Immer wollte er »die wahre Gerechtigkeit – das Reich Gottes auf dieser Erde – in die Tat umsetzen«, wie er im Nachwort zum »Thomas Münzer« schrieb. Ausführlich schildert die Biographin, in welche Not des Glaubens Wolf in Moskau mit seinem »uralten Menschheitstraum des Messiasreiches, des Reiches der Gerechtigkeit von dieser Erde« geriet.
Nicht minder diffizil war aber auch die Haltung Wolfs wie vieler deutscher und sowjetischer Kommunisten zur »Judenfrage«. Ihm wurde vorgeworfen, er behandle in seinem Erfolgsstück »Professor Mamlock« die Rassenfrage, zur Debatte stehe aber die Klassenfrage. Mehrfach ändert Wolf den »Mamlock«, fragt aber 1945 in einem wütenden Brief an Stalin, warum er nicht schnell nach Deutschland zurückkehren dürfe: »Ist es, weil ich Jude bin?« Mit großer Ernsthaftigkeit geht Christel Berger der Tragik jener Jahre auf den Grund. Angesichts des »Jahrhunderts der Extreme« stellt sie sich einer Vielzahl quälender Fragen und vermeidet oberflächliche Urteile.
»Die Mühen der Gebirge sind hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebenen«, schrieb Brecht zum realen Sozialismus. Anhand einer Fülle von Material zeigt die Autorin, wie sich Wolf später in der DDR aufrieb. Als er sich 1951 »schon halb im Grab« fühlte, befreite ihn eine junge Frau aus diesem Zustand. Im Briefwechsel mit der Geliebten erleben wir Privates und Politisches aufs engste verwoben und gewinnen interessante Innenansichten sowohl der Person als auch der Zeit. Obwohl sich der Feuerkopf und messianische Eiferer am Alltag in der DDR abarbeitete, blieb er ganz der unermüdliche Kämpfer. Und so steht als Motto über dieser ungewöhnlichen Biographie und über Wolfs Werk die Schlußstrophe des Gedichts an das Söhnchen: Doch wir, die im Feuerregen noch stehen / Wir möchten, all das soll nicht fruchtlos verwehen.
Thomas Naumann
Christel Berger: »Friedrich Wolf 1953. Eine unvollständige Biographie rückwärts«, Edition Schwarzdruck, 303 Seiten, 23 €. Unser Rezensent Thomas Naumann, Physikprofessor, ist der 1953 geborene jüngste Sohn Friedrich Wolfs – viel jünger als die anderen Kinder, von denen der Filmregisseur Konrad Wolf und der DDR-Generaloberst Markus Wolf, beide verstorben, die bekanntesten sind.
Walter Kaufmanns Lektüre
Anna Politkovskaja schrieb selbst ihr Todesurteil. Allein ihre Reportage »Provinzgeschichten oder Wie Staatsorgane helfen, staatliches Eigentum kriminell umzuverteilen« könnte die mörderischen Schüsse ausgelöst haben. Da wird im Hausflur der eigenen Wohnung eine Journalistin kaltblütig hingerichtet, die dem kriminellen Aufstieg eines Pawel Anatoljewitsch Fedulew zu Macht und Reichtum nachgegangen war und auf vierundvierzig Buchseiten die detailgenaue Vorlage für einen Gesellschaftsroman von größter Brisanz geliefert hat, einen Roman, der mit ihren Worten so beginnen könnte: »Aus einem Jeep stieg ein mittelgroßer Mann in feinem Anzug, mit teurer Brille und Goldkettchen an Hals und Handgelenken und mit den Spuren eines mehrtägigen Gelages im Gesicht. Auf dem Weg zum Arbeitszimmer des Direktors (gemeint ist der Direktor von Uralchimmasch, einem der größten Industriebetriebe Rußlands) umringte den Herrn eine vielköpfige Leibwache, die aus Jekaterinburger Milizionären bestand. Wenig zimperlich schoben die Angehörigen der Sondereinheit die Betriebsangehörigen beiseite ...« Fußgänger, die Anna Politkovskaja auf den Straßen von Jekaterinburg auf die Betriebsübernahme ansprach, Bahnhofs-angestellte, Mitarbeiter der Gebietsverwaltung, Prostituierte, Richter, Milizionäre, Schulleiter erklärten una voce: »Das war alles der Fedulew,« wobei einige den Mann schlicht Paschka, andere ihn ehrfurchtsvoll Pawel Anatoljewitsch nannten.
Im folgenden legte Anna Politkovskaja dar, wie eben dieser Fedulew, um seine Ziele zu erreichen, über Leichen ging, Komplizen ermorden ließ, Richter so bestach, daß sämtliche Nachforschungen eingestellt wurden und, als er doch einmal angeklagt wurde und hinter Gittern landete, mittels Bestechungen bald wieder frei kam und sein Unwesen fortsetzen konnte. Kurzum, die Journalistin zeigte ein Geflecht von Korruption und Wirtschaftskriminalität im heutigen Rußland.
Und was den Präsidenten Rußlands angeht: Putin sieht sich beschuldigt, an jenem verhängnisvollen 26. Oktober den Gasangriff gegen Terroristen wie Geiseln im Moskauer Musical Theater angeordnet zu haben, bei dem alle Geiselnehmer getötet wurden, aber auch fast 200 Geiseln umkamen. »Wie wir jetzt genau wissen«, so die Politkovskaja, habe Putin das streng geheime militärische Gas persönlich ausgewählt. Gerichtsverhandlungen, in denen es um Schadenersatzforderungen der Opfer jener Katastrophe ging, entlarvte die Journalistin als staatlich manipuliert. Sie zeigte, wie die Kläger allesamt leer ausgingen und zudem von einer Richterin namens Gorbatschowa erniedrigt und gedemütigt wurden.
In Putins Rußland prügeln Offiziere mit Pionierspaten auf ihre Soldaten ein, bis vierundfünfzig von ihnen dem Truppenübungsgelände entfliehen und sich nach Wolgograd absetzen, um Hilfe zu holen. Am Ende werden sie alle in die Arrestanstalt der Militärkommandantur überführt und später erneut unter die Aufsicht eben jener Offiziere gestellt, vor deren Schlägen sie geflohen waren. In Putins Rußland wird ein Angehöriger der Streitkräfte, der von 1978 bis 1989 Dienst in der Baltischen Flotte tat, U-Boot-Offizier war und die Militärpolitische Akademie in Moskau besucht hatte, seit 1998 aber mit amtlich ausgestellten Personaldokumenten in Grosny wohnte, eben dort als »internationaler Terrorist« verhaftet. »Ich habe«, sagte er aus, »vierzehn Rippenbrüche erlitten und einen Schädelbruch, ein Knochensplitter ist in die Niere eingedrungen, sie haben mir die Hände kaputtgeschlagen .... ich glaube nicht, daß ich überlebe.« Ein Einzelschicksal – doch eben weil die Politkovskaja die Auswirkungen des zweiten Tschetschenien-Krieges an Einzelschicksalen festmacht, ist sie wirkungsvoll.
Eine mutige Journalistin wurde mundtot gemacht, und daß sie zudem eine beachtliche Schriftstellerin war, wird jeder bestätigen, der die Abschnitte über ihre Freunde und Bekannten auf sich wirken läßt. Das sind literarische Porträts von Zeitgenossen, die Aufschluß über den russischen Alltag geben. Allein schon dieser Portraits wegen lohnt sich das Buch, als Ganzes verdient es außerordentliche Beachtung – möglichst auch in Putins Rußland, wo es noch nicht erschienen ist. Walter Kaufmann
Anna Politkovskaja: »In Putins Rußland«, aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme, DuMont Verlag, 314 Seiten, 19.90 €
Kreuzberger Notizen
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Wie wird man zum Ehrenbürger?
Der Liedermacher und Schriftsteller Wolf Biermann ist bekanntlich siebzig Jahre alt geworden und hat für diesen verdienstvollen Umstand mancherlei Ehrungen erfahren, beispielsweise die durch den Bundespräsidenten persönlich vorgenommene Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz nebst Essen mit dem Bundespräsidenten.
Kurz nach dem Geburtstag sollten die Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses über eine Ehrenbürgerschaft des Künstlers beraten. Sie berieten aber nicht. Die Idee, Biermann zum Berliner Ehrenbürger zu machen, kam von der CDU, weil die Christlich-Demokratische Union offenbar besondere Sympathien für den Liedermacher hegt beziehungsweise der Schriftsteller welche für die CDU. Einen gemeinsamen Antrag werde es nicht geben, erklärte ein SPD-Sprecher. Die Fraktion und der Kultur-ausschuß müßten noch darüber beraten. Außerdem sei es Sache des Senats, Ehrenbürger zu ernennen.
Nun ist Biermann, wie es scheint, mit verschiedenen Wassern gewaschen, aber doch nicht mit allen.
Zu einer Ehrenbürgerschaft kommt man nicht durch einen Handstreich.
Ein solcher Coup muß gründlicher vorbereitet und inszeniert werden, als dies hier offenbar der Fall war.
Man denke nur an den seligen Sir Edward Elgar (1854–1934), Komponist und Kapellmeister in Großbritannien. Als der anno 1904 geadelt worden war, fand ein dreitägiges Elgar-Fest statt! Biermann ist schon siebzig, was, wie man erfuhr, sogar fünf Tage lang gefeiert wurde.
Aber geadelt wurde der Jubilar immer noch nicht.
Von Elgar hätte er was lernen können. Der schrieb Kantaten und Oratorien (beispielsweise »Gerontium« mit dem Text von Kardinal Newman oder »Die Apostel«, »Das Königreich«), unzählige bombastische Märsche, Balladen, Melodramen, lauter sichere Nummern, die man für royalistische Zeremonien, Hochzeiten und Paraden immer wieder braucht, die jeder mitpfeifen und nach denen man auch wunderbar marschieren kann. Nach dem großen Erfolg dieser gigantischen Gebrauchskompositionen, nach seinen Vorlesungen an großen Universitäten galt er als »erster englischer Komponist seiner Zeit«. Er wurde im Jahre 1924 Master of the King’s Music. Rechtens. Ohne Edward Elgars Klänge wäre die Monarchie vielleicht zusammengebrochen.
Das wußte er, und er wußte auch, wie man seine Karriere untermauert. Ehrenbürger ist er, glaube ich, nicht geworden. Aber mindestens sieben Universitäten ernannten ihn zum Ehrendoktor, und sowas macht immer und überall Eindruck, auch wenn man sich die Doktorhüte nicht übereinander aufsetzt.
Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 1/2007
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