Aufklärung adé?

Gerhard Zwerenz

In unserem Bloch-Buch schrieb ich über den Artikel »Zur Judenfrage« von Karl Marx, er werde »seit dem Holocaust meist abgelehnt. Obgleich die Gründe dafür nicht von der Hand zu weisen sind, hat die totale Nichtbeachtung schwerwiegende Folgen, denn sie führt zum Bruch des aufklärerischen Axioms von der Universalität der Emanzipation.«

Das bedarf der Ergänzung, denn eine unter Juden erneut um sich greifende nationale Deutschseligkeit resultiert schon aus Weimarer Zeiten. Tucholsky entgegnete ihr im Weltbühne- Artikel »Was brauchen wir –?«, als er sich die 1926 wieder zur Kriegsleier greifenden jüdischen Vaterlandsverteidiger vornahm und einem Rechtsanwalt aus deren Reihen »eine geistige Minderbemitteltheit, die bei Juden selten, aber wenn vorhanden bodenlos ist«, attestierte.

Das Tucho-Zitat fällt mir ein, höre ich neuerdings immer naiver jene 12.000 jüdischen Soldaten rühmen, die im 1. Weltkrieg den »Heldentod fürs Kaiserreich« starben. Meine Sympathien gelten jedoch den Feinden dieses deutschen Reiches, das sich bekanntlich über Noske, Hindenburg und Hitler fortsetzte. ­Noske, daran sei erinnert, suchte 1933 bei Göring um Verlängerung seines Beamtenstatus nach, damit seine Pensionsberechtigung vollgültig werde und er nicht per Kürzung Mangel leide im schönen Dritten Reich.

Heute treten erneut Noske- und William-S.-Schlamm-Typen auf, oft vormalige Radikalkommunisten, die sich wie Biermann zu verspäteten Erzfeinden ihrer kommunistischen, häufig auch jüdischen Väter ummontieren. Eine Masse ohne Klasse. Wir aber bewahren das Gedenken an unsere kriegsgegnerischen jüdischen Genossen von Marx und Heine bis Rosa Luxemburg, Trotzki und Bloch dankbar in unseren Hirnen und Herzen. An wen wir sonst noch denken mögen, sei es Adorno, Horkheimer, Robert Neumann, Fritz Bauer, Leo Bauer, Alfred Kantorowicz, Ernest Mandel, Jakob Moneta, Arthur Koestler, Stefan Heym, ­Erich Fried, Ludwig Marcuse, Herbert Marcuse, Fritz Sternberg, Manès Sperber, Jean Amery, Erich Fromm, Heinz Brandt, Peter Gingold, Georg Lukács, Walter Markov, Hans Mayer, Walter Janka, Alphons Silbermann und wen auch immer ich kennenlernen durfte, romantischer Sympathien für die Kriege Kaiser Wilhelms war keiner verdächtig. Das will gewußt und gewürdigt sein.

Der ewig sich hinziehende israelisch-palästinensische Konflikt erweist, wie fatal sich das Fehlen oder Leugnen linker und pazifistischer Grundhaltungen in Politik und Kultur auswirkt, führt es doch in die Vormoderne des Nationalismus und Rassismus zurück. Zu den so logischen wie wahnwitzigen Folgen des Sieges über den Moskauer Staatssozialismus gehört die zunehmende Gefahr totalitärer Globalisierung, vergleichbar der von 1914. In Rußland und vormaligen Satelliten der SU wenden sich ganze Gruppen religiösen Fundamentalismen zu, im Gegenzug erstarken die christlichen US-Fundis. So peppt der sich längst abzeichnende nächste Globalkrieg seine ökonomische Basis mit religiösen Fantasmen auf. Zwei tendenziell totalitäre Weltreligionen sollen im Armageddon die Waffen gegeneinander richten, was die Europäer vorerst noch zurückzucken läßt. Ein paar Eskalationsstufen mehr und Briten wie Deutsche werden gottgefällig und götzentreu mithalten wie eh und je, steht zu befürchten. Da halte ich es lieber mit den Franzosen. Scholl-Latour hat mit seinen frühen, realistischen Warnungen vor dem Bush-Krieg im Irak gezeigt, wo's langgeht. Europa ist keine Kolonie und die Aufklärung keine US-Kampftruppe.

Erschienen in Ossietzky 1/2007