Zur normalen Fassung

Die Hisbollah - ein Staat im Staate

von Marika Guderian

Obwohl die Schiiten die größte Religionsgruppe im Libanon darstellen, waren sie seit jeher mehrheitlich sozial benachteiligt. Dies stellte den Nährboden für den charismatischen Schiitenführer Imam Musa as-Sadr dar, der in den 1970er Jahren den Politisierungsprozeß der Schiiten im Libanon zu seiner "Chefsache" erklärte. In den Sommertagen 1982 trugen jedoch noch andere Bedingungen wesentlich zur Gründung der Hisbollah, der "Partei Allahs", bei.

Die traditionellen religiösen Zentren der Schiiten waren Nadschaf und Karbela im Irak. In Nadschaf wurden junge Schiiten aus Libanon, Irak, Iran und anderen Staaten zu radikal-islamischem Denken erzogen, mit dem Ziel, einen elitären religiösen Kader zu bilden. Doch unter Saddam Hussein wurden die Schiiten im Irak verfolgt. Die Deportation schiitischer Gelehrter löste Anfang der 1980er Jahre eine Fluchtwelle in die arabischen Nachbarstaaten aus. Einige libanesische Geistliche flohen aus Nadschaf in den Libanon zurück. Sie gründeten dort geistliche Zentren, um ihre Lehren an die junge schiitische Generation weiter zu geben und die Schi'a im Libanon zu beleben. Ein weiterer wichtiger Auslöser der schiitischen Bewegung war der Erfolg der iranischen Revolution von 1979. Der Iran bot den schiitischen Geistlichen finanzielle und strukturelle Hilfe, nahm politische Flüchtlinge auf und sicherte sich somit Einfluß auf sie.

Im Libanon formierte sich zunächst die Zwillingspartei der irakisch-schiitischen Partei al- Da'wa al-Islamiyya. Sie zeichnete den Weg zu einer militant-islamistischen Bewegung vor. Das Chaos im Libanon, ausgelöst durch den Bürgerkrieg (1975 bis 1990) und die Besetzung des Südlibanon ab 1982 durch Israel, boten optimale Bedingungen für den Iran, die radikal-islamischen Strömungen im Land zu unterstützen. Durch den Bürgerkrieg war die libanesische Regierung zu geschwächt, um gegen die Aktivitäten der iranischen Revolutionsgarden (Pasdaren) vorzugehen. Deren Hauptaufgabe war es, die Lehren von Ayatollah Khomeini zu verbreiten und Kampfverbände gegen Israel zu bilden. Über einige Gebiete, insbesondere Baalbeck und die Beeka-Ebene, hatte die Regierung bald keine Kontrolle mehr. So konnten libanesische Schiiten, unter ihnen bereits der heutige Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah, weitgehend ungehindert im Südlibanon operieren und die Hisbollah als Zusammenschluß radikaler schiitischer Gruppen gründen.

Schon frühzeitig etablierten Hisbollah-Aktivisten ein Netzwerk karitativer Einrichtungen. Wohlfahrtsorganisationen wie Jihad al-Binaa initiierten soziale und bildungspolitische Projekte, von Essens- und Obdachlosenversorgung bis hin zum Bau von Waisenhäusern, Krankenhäuser und Schulen. Diese Infrastruktur hätte niemals ohne die massive finanzielle Hilfe des Irans aufgebaut werden können. Doch war die Hisbollah auch auf die Unterstützung der Bevölkerung vor allem in den Vororten Beiruts und im Südlibanon angewiesen, insbesondere bei ihrem Guerilla-Kampf gegen Israel und dessen Verbündete im Libanon.

Der Kämpfer der Hisbollah gegen Israel und ihr Generalsekretär Nasrallah wurden zu Vorbildern für andere "Widerstandsbewegungen" in muslimischen Ländern. Nasrallah wurde bereits in Nadschaf mit den radikal-islamischen Theorien vertraut gemacht und besitzt noch immer enge Kontakte zu Iran und Syrien. Seine mediale Omnipräsenz ist auf die erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit der Hisbollah zurückzuführen. Sie kann mit ihrem eigenen Fernsehsender Al-Manar nicht nur regional, sondern auch weltweit antizionistische Propaganda senden.

Seit 1992 agiert die Hisbollah auch als politische Partei und sitzt im Parlament. Auch wenn sie im politischen System eher die Rolle der Opposition einnimmt und passiv agiert, gewinnt sie immer mehr an Einfluß. 2005 gewann sie 14 Sitze im Parlament und ist seither mit zwei Ministern in der Regierung vertreten. Der Abzug der israelischen Truppen im Juli 2000, den die Hisbollah als ihren Erfolg darstellte, verschaffte ihrem Ansehen zusätzlich Aufschwung. All dies macht es den rivalisierenden Parteien, insbesondere der schiitischen Amal, zunehmend schwer, die Hisbollah zu ignorieren.

Auch wenn die Hisbollah nach außen hin Einheit demonstriert, sind zwei Flügel auszumachen: einen islamistisch-militanten, der wie jetzt im neuen Libanonkrieg militärisch operiert, und einen eher politischen, der den gesellschaftlichen Einfluß der Hisbollah vergrößern möchte. So fluktuiert die Wahrnehmung der Hisbollah für Außenstehende zwischen militanter (Terror-)Organisation und politischer Partei. Der Modus operandi der Hisbollah ist je nach Kontext verschieden. Ihr Ziel bleibt jedoch immer das gleiche: die Etablierung eines islamischen Gottesstaates und der Kampf gegen Israel. Dieser wird in den Augen der Hisbollah solange andauern, bis Israels Territorium an die umma, die muslimische Gemeinschaft, zurückfällt.

Die künftige Entwicklung der Hisbollah ist eng mit dem weiteren Verlauf des arabisch-israelischen Konflikts und der Beziehungen zwischen Iran und den USA verknüpft. Unterschätzt werden sollte sie jedoch in keinem Fall, denn sie ist zu einem mächtigen Faktor in der Region und zu einem Staat im Staate geworden. Sie besitzt einen gewissen, aber entscheidenden Grad an Autonomie und kann nicht nur als verlängerter Arm Syriens und Irans betrachtet werden.

Marika Guderian studiert Politik an der Universität Freiburg.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 296.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/4589ab68d90b3/1.phtml

sopos 12/2006