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Preissteigerung und Realzuwachs ergaben in den 14 Jahren ein Mehr von nominal 46 Prozent des Bruttoinlandprodukts, wie man aus anderen Statistiken des Bundesamtes ersehen kann. Rechnet man die Preissteigerungen heraus, so bleibt immerhin noch ein realer Zuwachs von 14 Prozent, was 2005 einem Wert von 315 Milliarden Euro entsprach. Wo dieses Mehr geblieben ist, wenn doch den Haushalten zwei Prozent weniger zur Verfügung standen, wird nicht erörtert. Einen Teil der Antwort hält man, wenn man sich die enormen Zuwächse in den volkswirtschaftlichen Bilanzen der Vermögenswerte anschaute: So konnten die Besitzenden – neben den Wertsteigerungen des persönlichen Anlage- und Immobilienvermögens – zum Beispiel allein ihr Geldvermögen in den letzten 14 Jahren mehr als verdoppeln, von 2 Billionen Euro 1991 auf 4,2 Billionen Euro 2005. Doch dem Statistischen Bundesamt waren derartige Zusammenhänge in seiner jetzigen Publikation keine Darstellung wert. In der statistischen Durchschnittsrechnung werden für die BRD heute 1,5 »Verbrauchereinheiten« pro Haushalt angenommen: Die erste Person zählt 1, die zweite Person 0,5, wenn sie über 15 Jahre alt ist, Kinder werden als 0,3 Verbrauchereinheiten gerechnet. Das Bundesamt differenzierte diesmal seine Gesamtdarstellung, indem es die Einkommensentwicklung in fünf sehr unterschiedlich betroffenen Haushaltsgruppen verfolgte: von der Gruppe der Selbständigen über die der Beamten, der Angestellten, der Arbeiter bis zu jener der Nichterwerbstätigen. Die Medienberichterstattung verwischte oft schon den realen Einkommensrückgang. Besonders die Einkommensunterschiede und deren differierende Entwicklungen wurden eingeebnet oder weggelassen. Die Welt titelte: »Kaufkraft der Verbraucher stagniert seit 1991.« FAZ : »Inflation zehrt Anstieg des Einkommens auf.« FR : »Reallöhne schrumpfen.« Taz : »Weniger Geld in der Haushaltskasse.« SZ : »Deutsche können sich weniger leisten.« Derart halb informiert soll der schnelle Leser lernen, daß er sich nicht groß aufzuregen brauche; es gehe eben allen Deutschen heute etwas schlechter – geteiltes Leid ist halbes Leid! In den meisten Zeitungen wird ihm auch vermittelt, daß »wir alle in unserem Land« zu lange über »unsere Verhältnisse« gelebt hätten; jetzt aber hole uns »die Globalisierung« ein oder der »demographische Wandel«. Alle müßten eben den Gürtel enger schnallen… Aber davon sind durchaus nicht alle in gleicher Weise betroffen – das Bundesamt hatte das korrekt aufgelistet. Am auffälligsten ist die Differenz zwischen »Arbeitern« und »Selbständigen«: So konnten die Haushalte der Selbständigen ihr Netto-Jahreseinkommen durchschnittlich von 77.000 Euro 1991 auf 106.900 Euro 2005, das heißt um 38 Prozent, erhöhen; real war das trotz des Preisanstiegs ein Einkommenszuwachs von sechs Prozent. Ein Arbeiterhaushalt dagegen hatte 1991 durchschnittlich 24.100 Euro zur Verfügung, bis 2005 wurden daraus 30.200 Euro, was eine nominale Zunahme von lediglich 25 Prozent bedeutet und preisbereinigt einen Rückgang um sieben Prozent. Die Selbständigen konnten also ihr früher schon dreimal so hohes Einkommensniveau weiter ausbauen. Den Arbeitern dagegen wurde der Reallohn beschnitten. Am ärmsten sind die Haushalte der »Nichterwerbstätigen« dran. Ihr Jahreseinkommen lag 2005 in einem Haushalt mit zwei Erwachsenen (= 1,5 Verbrauchereinheiten) durchschnittlich bei 21.200 Euro und damit nur knapp über der EU-Armutsgrenze (die 60 Prozent vom Haushaltsdurchschnittseinkommen der Gesamtbevölkerung des jeweiligen Landes beträgt, 2005 waren das in Deutschland 20.220 Euro). Aber ein großer Teil derer, die auf Transfereinkommen angewiesen sind, erlebt die soziale Ausgrenzung noch viel dramatischer, als es eine solche Durchschnittszahl ausweist. Zur Gruppe der »Nichterwerbstätigen« rechnet das Statistische Bundesamt auch alle Pensionäre und Rentner, ebenso die Arbeitslosengeld- und Sozialhilfeempfänger. Betrachtet man nur die Gruppe derer, die nach den Kriterien der Sozialhilfe oder des Arbeitslosengeldes 2 leben müssen, so beträgt deren Haushaltseinkommen weniger als 38 Prozent vom durchschnittlichen Haushaltseinkommen, also weit unterhalb der EU-Armutsgrenze von 60 Prozent. Ihr sogenanntes Einkommen liegt noch unter der 40-Prozent-Grenze, die in den Sozialwissenschaften »Strenge Armutsgrenze« heißt. Wer da noch behauptet, die Hartz-IV-Sätze gewährten das vom Sozialgesetzbuch gebotene »sozio-kulturelle Existenzminimum« zur Wahrung der vom Grundgesetz-Artikel 1 als unantastbar geforderten »Würde des Menschen« – wie jüngst die Richter des Bundessozialgerichts in Kassel –, legitimiert kapitalistische Klassenherrschaft, mit unabhängiger Rechtsprechung im Interesse des Gemeinwohls hat das nichts zu tun.. Die Armen dieses Landes sind also noch ärmer und sie sind mehr geworden. Jene, die sich in der Mitte wähnen, weil noch in Arbeit, sind ebenfalls ärmer geworden. Die Reichen aber werden immer reicher. Diese Erkenntnis ist nun keineswegs neu, obwohl nicht jeden Tag eine Behörde wie das Bundesamt für Statistik sie vortragen darf. Interessanter werden die ausgewiesenen Zahlen, wenn man sie mit anderen verknüpft: Die Gruppe der Selbständigen (Groß- und Kleinunternehmer zusammengenommen) wurde reicher, während der Durchschnitt aller Haushalte mit weniger auskommen mußte als vor 14 Jahren. So liegt der Schluß nahe: Nicht trotz, sondern wegen der Absenkung des Einkommens der großen Mehrheit konnte die kleine Gruppe der Hochverdienenden sich immer noch besser stellen. Die Reichen wurden reicher dadurch, daß den Ärmeren und den Armen genommen wurde. Auch das ist nicht neu, es ist das allgemeine Grundgesetz einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Es konnte nur jahrzehntelang unsichtbar gemacht werden, indem die reicher werdenden Kapitalbesitzer zumindest in der sogenannten Ersten Welt ihre ArbeiterInnen und sogar die RentnerInnen und Arbeitslosen ein wenig an ihren Gewinnen teilhaben ließen. Diese Zeiten sind vorbei, Verarmung und soziale Verelendung betreffen heute nicht mehr nur die Bevölkerungen in der Dritten Welt. Der Zwang zur ständigen weiteren Kapitalvermehrung (Akkumulation) erfordert immer höhere Gewinnbeträge auch aus den Industrieländern. Die weitere Zunahme des Reichtums in den Händen der Reichen erfordert stärkere Ausbeutung ihrer ArbeiterInnen weltweit und weitere Enteignung der Armen, vorangetrieben von willfährigen Regierungen – sofern sie nicht demokratisch daran gehindert werden. Wie lange wird die Menschheit sich den Kapitalismus und das asoziale Treiben einer relativ kleinen Clique von Nutznießern noch gefallen lassen? Ich erinnere mich an die Parole einer Initiative linker Christinnen und Christen in Kanada: »We can't afford the rich.« Ja, wirklich, wir können uns die Reichen nicht (länger) leisten.
Erschienen in Ossietzky 25/2006 |
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