Arme Demokratie

Käthe Reichel

Arme Demokratie. Sie wird zuschanden geritten. Unter der Peitsche des Geldes, des Kapitals muß sie sich krümmen wie die Würmer vor dem Maulwurf, der sie vertilgt. Als Gefangene des Kapitals verrät sie ihren eigenen Begriff, wird zum vaterlandslosen Gesellen in einem vaterlosen Land, macht die Arbeitslosen zu Bettlern und erwartet dann noch zynisch von ihnen, daß sie für sie auf die Straße gehen gegen den aufmarschierenden Faschismus. Und ist es doch selber, die den Faschismus produziert – wie zuvor Weimar.

Das Bundesverfassungsgericht mit den höchsten Richtern hat geurteilt: »Die NPD muß behandelt werden wie andere Parteien auch.« Der bayerische Minister Beckstein sagt: »Wir müssen die anständige Rechte akzeptieren.« Nach der nächsten Wahl werden sie dann die jungen Arbeitslosen kasernieren, die Senkung der Arbeitslosigkeit wird Triumphe feiern, und die Kasernierten werden marschieren und grölen lernen, daß Deutschland nicht nur am Hindukusch liegt, sondern in der ganzen Welt.

Als im Jahre 1932 die demokratische Wahl bevorstand, haben Hunderttausende Arbeiter auf den Straßen Berlins gegen die Nazis gekämpft. Ich habe mit meinen Kinderaugen gesehen, wie die Braunen mit braunen Stiefeln hoch bis zum Knie die Arbeiter an den Füßen in unseren Hausflur schleppten und mit Knüppeln »fertig machten«, wie sie das nannten. Viele dieser Arbeiter kamen nach dem 30. Januar 1933 in die Konzentrationslager, viele von ihnen kamen nicht lebend wieder heraus. Wie Vieh wurden sie totgeschlagen.

Die Arbeiter von heute, die schon seit Jahren arbeitslos sind – und jede Woche im Radio hören, wie viele Großfirmen wieder Tausende Leute rausgeschmissen haben –, all die Menschen, die kein Frühstück mehr für ihre Kinder haben – und es sind weit über eine Million Kinder, die jetzt unter der Armutsgrenze vegetieren –, sie fragen und ich frage mit ihnen und den Kindern: Warum sollen diese Väter, diese Mütter für die Demokratie kämpfen? Schlimmer, sagen sie, kann es für uns doch nicht mehr kommen.

Sie haben aber eine dunkle Ahnung, daß Demos Volk heißt und -kratie Herrschaft; daß Demokratie also »Herrschaft des Volkes« heißt und nicht Herrschaft des Kapitals, Herrschaft des Geldes. Und daß die Herrschenden kein Recht mehr haben, ihre Herrschaft Demokratie zu nennen, sagen die, die sich noch eine lesbare Zeitung kaufen können.

Erschienen in Ossietzky 24/2006