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Doch weiterhin springen die Auswüchse des wilden Kapitalismus ins Auge, und über sie will ich berichten – in der Hoffnung, daß es auch die Leser interessiert. Wie zum Beispiel diese jüngste Geschichte. In Moskau wurde eine Ausstellung speziell für die Neureichen veranstaltet – der Plebs hatte da nichts zu suchen. Angeboten wurde dort alles Mögliche zu Preisen in Millionen- oder Milliardenhöhe, sogar eine Insel. Manche Bettler pflegen ihr (echtes oder künstliches) Geschwür zur Schau stellen, um Mitleid bei den Passanten zu erwecken. Auf der anderen Seite der Gesellschaft machen die Geldsäcke, die das Land ausgeplündert haben, dasselbe auf ihre Art. Die sich vermehrenden Oligarchen haben allem Anschein nach beschlossen, nicht mehr Versteck zu spielen. Die moderne Plutokratie führt das Geschwür im sozialen Gefüge der Öffentlichkeit schamlos vor. Was mich aber noch trauriger stimmte, waren die Fernseh-Ansager, die vor Begeisterung beinah platzten, als könnten sie vom Reichtum absahnen, und die Bevölkerung, die sich diesen Zynismus stillschweigend gefallen läßt. Gerade in diesen Tagen brachte die ehemals parlamentarische, inzwischen oligarchische Zeitung Iswestija ein Interview mit einem gewissen Herrn Alexandr Schochin. Der Mann gehörte zu den Jelzinschen »Reformern« der erster Stunde, war Chef des Wirtschaftsministeriums. Später, als Jelzin ihn von dieser Aufgabe entband, wechselte Schochin zur Staatsduma, nachher auf hübsch bezahlte Posten im Finanz- und Kommerzwesen. Heute leitet er den Russischen Verband von Industriellen und Unternehmern. Also, er wird immer gebraucht. Das Gespräch wurde anläßlich des 15. Jahrestages des Jelzinschen Staatsstreichs geführt. Und Schochin packte aus. Die Leser erfuhren unter anderem, wie die führenden Personen der russischen Politszene damals den Aufstieg und Fall erlebten. Einige Mitstreiter Jelzins saßen am Tisch, zeichneten Quadrate auf einen Bogen Papier, bezeichneten die Quadrate mit Regierungsämtern und trugen dann die Namen derjenigen ein, die künftig über die Geschicke des Landes entscheiden sollten. Nach dem Prinzip ihrer professionellen Fähigkeiten? Nein, nach dem Gesetz des Klüngels. Fast alle Bewerber waren knapp über 30, ohne Erfahrung. Schochin erinnert sich: Ins Zimmer stürzt plötzlich ein solcher Herausforderer und sieht, daß sämtliche Quadrate schon besetzt sind. Empört schreit er: »Moment mal, und wo bin ich?« Ihm wird freundlich beigebracht: Selbst schuld, wo hast du dich rumgetrieben? Na schön, der Posten eines stellvertretenden Finanzministers ist vakant, den kriegst du. Entscheidend für die Nominierung war damals, die Verteilung nicht zu verpassen, so Schochin. Auf die Frage, warum ausgerechnet Jegor Gaidar zum Chef der ersten Regierung ernannt wurde, kam eine weitere Offenbarung: »Eines der Hauptargumente zu seinen Gunsten bestand nicht darin, daß er der Klügste von uns war, sondern … er bekam den Posten wegen seines Namens. Aus PR-Gründen.« Denn Gaidars Großvater ist ein beliebter Kinderbuchautor. Schon 1992, ein Jahr nach der Machtübernahme, wurde den neoliberalen Reformern klar, daß ihre Schocktherapie gescheitert war. Produktionsverfall, massenhafte Verelendung und wuchernde Inflation waren die Folgen. Jelzin tobte: Ihr habt mir Erfolge versprochen, wo sind sie? Sündenböcke mußten her. Manche Minister wurden aus ihren Ämtern katapultiert. Schochin erinnert sich: Da wird einer zum Präsidenten vorgeladen, liefert seinen Bericht ab, sagt Aufwiedersehen, und ein paar Minuten später erfährt er aus dem Autoradio, er sei per Präsidialerlaß suspendiert. Mit keinem einzigen Wort wird in dem Interview erwähnt, wie die jungen machthabenden Neoliberalen das Leben im Lande zum Besseren ändern wollten. Stattdessen erfahren wir, wie sie außer sich vor Freude waren, als sie in die staatlichen Paläste auf dem Lande einziehen und kostenlos jegliche gewünschte Delikatesse bestellen konnten (in Zeiten massenhaften Elends). Zuschlechterletzt: Mit einer neuen Initiative hat das »Einheitliche Rußland« in der Duma kürzlich die Öffentlichkeit überrascht. Unter ihrer Federführung entstand eine Gesetzesnovelle, um die Untergrenze der Wahlbeteiligung abzuschaffen. Wie ein Sprecher erläuterte, möchte die »regierungsnahe Partei« schon wieder das Beste für uns: Die Menschen dürften nicht zur Wahlteilnahme gezwungen werden, das wäre undemokratisch. Die Duma hat schon in erster und zweiter Lesung zugestimmt. Damit steht fest: Alle künftigen Wahlen werden als legitim gelten, wenn nur ein einziger Wahlberechtigter zur Wahlurne geht. Ein seltsames Bekenntnis zur Demokratie. Besser gesagt: uferloser Zynismus. Man befürchtete nämlich, daß sonst die Parlamentswahl 2007 und die Präsidentschaftswahl 2008 wegen zu niedriger Beteiligung ungültig werden. Als nächsten Schritt möchte ich dem »Einheitlichen Rußland« empfehlen, die Wahlergebnisse ohne uns Wähler beliebig einzutragen. Damit spart man eine Menge Zeit und Geld.
Erschienen in Ossietzky 24/2006 |
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