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Aus Produktpiraterie wird internationale Kooperation. Schon jetzt dürfte Europa für Millionen junger Chinesen ein Kultur- und Technikmuseum geworden sein. Sie sprechen von Yin und Yang, vom Ausgleich, von den neuen Wahrheiten einer langen Übergangsperiode: wie sich der eigene Sozialismus unter Führung der Kommunistischen Partei mit einem brutalen Früh- und einem smarteren Turbokapitalismus verbindet. Die Partei hat vom Zerfall der Sowjetunion gelernt und hält die Zügel fest. Auf ihrem 6. Plenum beschloß sie gerade den Weg in die »harmonische sozialistische Gesellschaft«, die ein Modell für die ganze Welt werden soll. Zu diesem Zweck ist eine diplomatische Offensive angelaufen, bei der aber das Wort sozialistisch verloren gegangen zu sein scheint. In Peking leben 13 Millionen Menschen mit drei Millionen privaten Autos, dem Traum jedes chinesischen Mannes, sechs Millionen Fahrrädern und Mopeds. Der Nahverkehr entwickelt sich. Für die Olympiade 2008 wird rundum aufgerüstet. Auch breite Wege hindern Fahrrad- und Mopedfahrer nicht, den heftigen Gesamtverkehr selbst im Dunkeln zu durchqueren. Fahrradbeleuchtung ist noch nicht eingeführt. Zur Olympiade wird Peking für Privatautos gesperrt. Die Ausbeutungsrate ist hoch, der Lohn entsprechend gering. Der Dienstleistungssektor boomt, Hauptstraßen glänzen vor Sauberkeit. Bald wird der traditionelle chinesische Straßenalltag entlang vollgemüllter schmaler Gassen mit winzigen Häuserreihen verschwinden – bis auf wenige Quartiere, die museal rekonstruiert werden. Noch kann man kleinräumige Häuserzeilen mit Werkstätten, Garküchen und Marktständen sehen, wimmeln Menschenmassen am Straßenrand, wird hantiert, verkauft, gekocht und billig gegessen, ganze Bambuswälder werden täglich zu Wegwerf-Eßstäbchen. In Nebengassen ist noch Vergangenheit zu Hause: Da wohnen die Menschen ärmlich zu ebener Erde, genügsam kochen sie in einsehbaren Gemeinschaftsküchen, morgens putzen sie auf der Straße die Zähne und bringen im Pyjama den Nachttopf ins öffentliche WC. Millionen Abrißbetroffene erhalten Abfindungen für ihr altes Eigentum, manchmal aber doch nicht oder zu wenig. Sie sollen sich Neubauwohnungen kaufen, billiger ist es an Stadträndern, wo man in 15 oder 25 Stockwerken übereinander lebt und getrennt kocht. Dieser kulturelle Sprung ist so gigantisch wie der Bauboom. Für Eigentumswohnungen zahlt man 30 Prozent bar, den Rest kreditieren Banken. Wohl den jungen Paaren, die fürs Anzahlen Eltern und Großeltern haben! Die Banken gehören überwiegend, der Grund und Boden ganz dem Staat, der ihn auf 70 Jahre an in- und ausländische Investoren verpachtet. In China leben 1,3 Milliarden Menschen, mehr Männer als Frauen, die Einkindfamilie ist Gesetz, nur zehn Prozent der Bevölkerung, die, die nationalen Minderheiten angehören, dürfen zwei Kinder haben. Es wird abgetrieben. Viele Einzelkinder werden täglich von Eltern, Großeltern, Tagesmüttern und anderen Verwandten umsorgt, verwöhnt. Die neue Mittelschicht weiß, daß Bildung lohnt, und investiert in Kinder, in Privatschulen und Privatkindergärten, alles Hochleistungseinrichtungen. Zur Abwechslung in der kargen Freizeit gibt es in Peking 164 Mcdonald's, 130 Kentucky Fried Chicken, unübersehbar viele Starbucks und auch Häagen-Dasz-Cafés. Die Schulpflicht dauert neun Jahre. Aber manche Familien können Bücher und Schulkleidung nicht bezahlen, 15 Prozent der Bevölkerung sollen Analphabeten sein. Am neuen chinesischen Konsumkommunismus basteln 4,5 Millionen Privatunternehmen mit rund 150 Millionen Arbeitskräften mit. Noch wird die große Privatisierung gebremst, Staatsmonopole bestehen weiter, aber neue Mandarine bereichern sich, 147.000 Korruptionsverfahren wurden in diesem Jahr eingeleitet. In Shanghai war die Parteispitze dabei. Sieht man an den verkommenen Häusern der 1950er oder 60er Jahre hoch, findet sich kaum ein unvergittertes Fenster. Überhaupt versperren Zäune, Mauern und Uniformierte die Zugänge zu Wohnblocks, Tiefgaragen und grünen Höfen. Die Kriminalität soll erheblich sein. Die Touristenführer erwähnen das und die Probleme der Volksgesundheit. Die Staatszeitung China News schreibt von 170.000 psychisch Schwerstkranken ohne Behandlung allein in Peking; bei Aids und Tuberkulose zahlt der Staat die Medikamente. Der Zeitung entnehme ich, daß es noch 120.000 Dörfer gibt, in denen Menschen unter dem Existenzminimum von jährlich 67 Dollar leben – vor 20 Jahren galt das für fast alle Dörfer, mehr als zwei Millionen. Damals, 1986, begann der Kampf gegen die ländliche Armut. Seit diesem Jahr zahlen Bauern keine Steuern mehr. Vor 20 Jahren lebten nur 20 Prozent, heute 43 Prozent aller Chinesen in Städten, bis 2025 werden weitere 300 bis 400 Großstädte für 400 Millionen Landmenschen entstehen. 100 Millionen Menschen sind dort älter als 65. Im Jahr 2025 werden es 400 Millionen sein. Die freiwillige Kinderlosigkeit nimmt zu, der demographische Umbruch und das desolate Gesundheitssystem sind Tagesthemen. Das staatliche Fernsehen blitzt bunt: Konsum, Konsum. Sozialistische Rhetorik fehlt, große rote Transparente auf den Straßen dienen zur Produktwerbung. Drei Stunden Bahnfahrt von Nanking nach Shanghai sind drei Stunden Staunen über ununterbrochen neue Hochhäuser, Fabriken, Autobahnen, Brücken, dazwischen die letzten armseligen Hütten, Reisfelder und Gemüsegärten, Wasserärmchen und Teiche. Auch in Shanghai mit 20 Millionen Einwohnern (darunter zwei Millionen Wanderarbeiter) gehören die schönsten Gebäude den Banken. Eine 4,5 Kilometer lange Einkaufsstraße mit eleganten Shopping Malls und Kaufhäusern lockt urbane Chinesen, sie sind jung, gut gelaunt und kleiden sich wie ihre westlichen Altersgenossen. Auf der anderen Seite des Flusses sah man bis 1990 nur Reisfelder; heute stehen dort 200 Wolkenkratzer. Der höchste hat 88 Stockwerke, daneben bauen sie einen, der höher wird als der höchste in Taiwan. Zugleich bauen sie fünf neue U-Bahn-Linien in Shanghai, und sie verlängern ohne deutsche Hilfe den Transrapid bis in die nächste Stadt. Die Lebensqualität scheint zu steigen, langsam, aber spürbar für alle. In Hongkong jedoch, das seit 1994 wieder zu China gehört, blickt man immer noch von oben herab aufs sogenannte Festland. Wer es sich leisten kann, sagt die Hongkonger Reiseführerin, kaufe drüben zur Altersvorsorge eine Wohnung, und aus Kostengründen hielten sich Männer dort eine Nebenfrau. In Hongkong sind die Wolkenkratzer noch höher, die Straßen enger, die Skyline am Abend bunter illuminiert als in Shanghai. Berlin erscheint mir dagegen wie ein herbstliches Dorf, so anheimelnd die leeren Straßen, rührend der altmodische Flughafen. Plötzlich heißt die Zukunft China. Daran muß ich mich erst gewöhnen.
Erschienen in Ossietzky 24/2006 |
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