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Seither ist die Globalisierung zügig vorangeschritten, doch den Nutzen hat weiterhin nur eine Minorität der Weltbevölkerung. Der weitaus größere Teil der Menschheit muß am unteren Ende der Schere mit weniger als einem Euro pro Tag pro Person um das schiere physische Überleben ringen, oft ohne Erfolg. Die Realität der krass unterschiedlich verteilten Lebenschancen läßt sich nicht länger verheimlichen: Die Reisbauern in Bangladesch, die Hirten in den Gebirgstälern der Anden, die Beduinen auf der saudi-arabischen Halbinsel und die Industriearbeiter in Zentralamerika oder Südosteuropa haben die UNO-Charta nicht gelesen, in der ihnen seit 1945 ein besseres Leben versprochen wird. Aber sie alle fühlen täglich die ungleiche Verteilung der Freiheit und des Wohlstands. Sie wissen auch nicht von den über Jahrzehnte hinweg nicht eingehaltenen Versprechen der reichen Industrieländer, den kleinen Betrag von 0,7 Prozent ihrer nationalen Einkommen für die Reduzierung der Ungleichheit bereitzustellen. Sie erkennen jedoch, daß Güter aus den Industrieländern bei ihnen zwar erhältlich sind, aber nur wenige Menschen die Mittel haben, sie zu erwerben. Ihre Politiker hingegen wissen warum, und viele sind nicht mehr bereit, die eigenen Exporte weiter diskriminieren zu lassen. Dies ist ein Hauptgrund, warum die Doha-Handelsrunde der Welthandelsorganisation dieses Jahr gescheitert ist. Der Kampf für die Freiheit von Not und gegen diesen Doppelstandard wird immer härter ausgetragen. Es gibt Teilerfolge. Im Jahr 2000 verkündeten die Vereinten Nationen acht Millenium-Entwicklungsziele, um bis 2015 die menschliche Sicherheit zu verbessern: Die Zahl der Hungernden soll um die Hälfte reduziert werden, alle Kinder auf der Welt, Jungen und Mädchen, sollen Zugang zu Primarschulen bekommen, Kindersterblichkeit soll um zwei Drittel, Müttersterblichkeit um drei Viertel gesenkt werden, die Häufigkeit der Neuerkrankungen an HIV/AIDS und Malaria soll erheblich zurückgehen usw. Doch der Fortschritt ist zu langsam. Die Ziele werden nicht erreicht werden. Nach wie vor gibt es Überernährung und Reichtum auf der einen, Unterernährung und Armut auf der anderen Seite. Die Staatsverschuldung der sich entwickelnden Welt bleibt hoch und mit ihr die politische Abhängigkeit, und gleichzeitig wachsen die Haushaltsdefizite auch in den Industrieländern. Aber etwa 500 Milliardäre haben mehr Kapital als 460 Millionen ihrer Mitbürger auf der Welt. Die Politik im Westen versteht den engen Zusammenhang zwischen der Freiheit von Angst und der Freiheit von Not nicht oder nimmt ihn nicht ernst. Ebenso fehlt es an Verständnis dafür, daß Ungleichheit, Armut und Erniedrigung etwas mit dem zu tun haben, was verallgemeinernd als Terrorismus bezeichnet wird. Die Regierenden beschränken sich darauf, Symptome zu bekämpfen, und hoffen, mit Gewalt und militärischer Herausforderung des Terrorismus Herr zu werden. Die Ursachen des Terrors sind für sie kein Thema. Sie versuchen gar nicht, sie zu begreifen und gegen sie anzugehen. Damit wird die Unfreiheit von Not zu einer immer ernsteren Gefahr für die Freiheit von Angst. Die Angst wächst und wird zur Angst vor einer heraufziehenden globalen Katastrophe. Der auf seine Privilegien bedachte und daher bewußt mit zweierlei Maß messende Westen ruft vielerlei Reaktionen hervor: von anti-westlichen, besonders anti-amerikanischen, Äußerungen bis hin zu kriminellen Terrorakten. Im Mittelfeld dieses Spektrums entstehen neue Allianzen mit dem Ziel, diesem westlichen Doppelstandard auf den verschiedensten Gebieten ein Ende zu bereiten. Zu diesen Allianzen gehören die Shanghai Cooperation Organisation (China, Rußland, zentralasiatische Länder in Assoziierung mit Indien, Pakistan und Iran), die China-Afrika-Partnerschaft und das Trio der Handelsländer Brasilien, Indien und Südafrika (Doha-Trio). In diesem Zusammenhang darf es nicht überraschen, daß sechs arabische Staaten (Algerien, Ägypten, Marokko, Emirate, Tunesien und Saudi-Arabien) in Fragen der Nuklearenergie zusammenarbeiten wollen. Auf diesem Gebiet darf es aus existenziellen Gründen keinen Doppelstandard geben. Doch die Zusammenkunft der Unterzeichner des am 5. März 1970 beschlossenen Nuklearen Nicht-Verbreitungs-Abkommens (Nuclear Non-Proliferation Treaty) im Mai 2005 in der UNO-Zentrale in New York hat gezeigt, daß der Doppelstandard nicht nur weiterbesteht, sondern sich verhärtet hat. UNO-Generalsekretär Kofi Annan sprach bei diesem Treffen von einer »Krise der Einwilligung und des Vertrauens« in den Bereichen Nicht-Verbreitung, Abrüstung und friedliche Nutzung von Nukleartechnologie. Die Gegensätze unter den Mitgliedstaaten waren gross. Die einen sprachen von der »Gefahr der Verbreitung von Nuklear Technologie«, die anderen von der »Gefahr des existierenden Arsenals« von Nuklearwaffen. Der Doppelstandard in der Frage der Entwicklung von Nuklearenergie hat auf Grund der weltpolitischen Geschehnisse, besonders im Nahen und Mittleren Osten, und des immer stärkeren Mißtrauens unter den UNO-Mitgliedstaaten an politischer Bedeutung zugenommen. Zu Symbolen des Doppelstandards sind das »Projekt für ein neues amerikanisches Jahrhundert« (Project for a New American Century) und die darauf basierende amerikanische Sicherheitsstategie von 2002 geworden. Die Welt, besonders die sich entwickelnde Welt, will nicht akzeptieren, daß die Macht der Entscheidung allein bei der Supermacht USA liegen soll, und dies nicht nur auf militärischen, sondern auch auf politischen, wirtschaftlichen und selbst kulturellen Gebieten. Akutes Beispiel dieser Auseinandersetzung ist die Konfrontation zwischen dem Iran und den USA vor dem Hintergrund des verheerenden völkerrechtswidrigen Irakkriegs und der fehlgeschlagenen Besetzung des Landes. Die Vereinigten Staaten gehören zu den Initiatoren des Umfassenden Teststopp-Abkommens (Comprehensive Test Ban Treaty), haben es aber nicht ratifiziert und wenden sich immer mehr gegen die Verpflichtungen dieses Abkommens. Sie betreiben Nuklearforschung, entwickeln neue Generationen von Nuklearwaffen und haben eine nukleare Angriffsstrategie entworfen, die in der »Doctrine for Joint Nuclear Operations« vom März 2005 enthalten ist. Damit wird es schwer sein, Länder wie China, Indien und Ägypten zu überzeugen, das Umfassende Teststopp-Abkommen zu ratifizieren. Viele andere Länder, die aktive Nuklearforschung betreiben, zum Beispiel der Iran, meinen, sie könnten sich gegen eine solche Hegemonialpolitik nur dadurch schützen, daß sie ihre Nuklearkapazitäten erhöhen. Hier liegt die echte Gefahr, daß menschliche Sicherheit zur Unmenschlichen Destruktion entartet. Die große und verantwortungsvolle Aufgabe, die den neuen UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon erwartet, ist, die Mitgliedstaaten der Völkergemeinschaft an das zu erinnern, was Kofi Annan in seiner Amtszeit immer wieder hervorgehoben hat: Man muß den Leim gemeinsamer Interessen (»the glue of common interests«) erzeugen, um den Doppelstandard in internationalen Beziehungen zu überwinden, damit im Sinne der UNO-Charta endlich einheitliche Maßstäbe für alle gelten, auch und gerade die gleiche Verpflichtung zur Nicht-Verbreitung von Nuklearwaffen und zur Abrüstung. Damit wäre ein großer Schritt getan, um die Welt von Angst zu befreien. Und dadurch würden sich die Voraussetzungen verbessern, die Millenium-Entwicklungsziele und die Freiheit von Not zu erreichen. Es wird ein langer und beschwerlicher Weg werden, wenn wir ihn gehen wollen. »Lernen ist nicht obligatorisch, überleben auch nicht«, sagte einmal der amerikanische Mathematiker und Denker W. Edwards Deming. Hans-Christof Graf Sponeck war 32 Jahre bei den Vereinten Nationen tätig, zuletzt in Bagdad im Range eines Beigeordneten UNO-Generalsekretärs.
Erschienen in Ossietzky 24/2006 |
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