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Zumeist werden diese Forderungen mit der Behauptung flankiert, zusätzliche Überwachungsmaßnahmen führten nicht nur zu mehr Sicherheit, sondern auch zu einem besseren Sicherheitsgefühl. Die Grundrechte derjenigen, die nichts zu verbergen hätten, weil sie nichts Böses getan haben, würden nicht betroffen. Deren Daten würden nur kurz gespeichert und dann gleich wieder gelöscht. Das Programm der inneren Sicherheit bringe tatsächlich Sicherheit, innen wie außen, in der Lebenswirklichkeit wie im Gefühl. Dagegen gab es bisher niemanden, der behauptete, Überwachung bringe nichts und mache aggressiv. Also müssen die politischen Deklarationen, behördlichen Forderungen und wissenschaftlichen Untersuchungen wohl zutreffen! Manchmal liegt die Wahrheit aber nicht in den regierungsoffiziellen Verlautbarungen, die sich auf die Bürokratie und die zuarbeitende Wissenschaft berufen. Deren Wahrheitsgehalt kann auch dann nicht als erwiesen gelten, wenn Gegenverlautbarungen fehlen. Manchmal liegt die Wahrheit ganz woanders. Diese Vermutung kann zum Beispiel aufkommen, wenn wir über den Teich schauen, den kleinen Teich nach Großbritannien oder den großen zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort wird seit dem 11. September 2001 ein wahres Überwachungsfeuerwerk abgebrannt. Riesige Datenbanken mit gewöhnlichen oder genetischen Fingerabdrücken, neue Überwachungsmammutbehörden, elektronische Gesichtsbiometrie auf Ausweisen, Datenbeschaffungen von sämtlichen Flugbewegungen und sämtlichen internationalen Finanztransaktionen, millionenfache Telekommunikationsangaben von Internet- und Telefonprovidern, Videoüberwachung an jeder Straßenecke – all das hat diesen beiden Staaten nicht mehr Sicherheit gebracht. Verglichen mit der dortigen Kriminalität befinden wir uns in Deutschland in einem Land des Friedens und der Gewaltfreiheit, trotz der auch bei uns nie auszurottenden Kriminalität, unter der wir leiden. Aber nicht nur das: Auch das Sicherheitsgefühl will sich bei den Einwohnerinnen und Einwohnern des United Kingdom oder der United States nicht so richtig einstellen. Im Gegenteil, je mehr Überwachung, desto größer die Angst wegen der Unsicherheit, die immer noch besteht. Es sieht fast so aus, als hätten wir es bei diesen beiden Staaten mit zwei kollektiven Überwachungsjunkies zu tun, die davon immer mehr wollen und brauchen, ohne wirklich zufriedener zu werden. Wir wissen es von den realen Drogen: Dauernd steigender Konsum führt früher oder später zum Tod. Der Untergang der DDR war ein direktes Produkt der Überwachung ihrer Bevölkerung durch das Ministerium für Staatssicherheit. Das MfS – von Überwachungsopfern fast liebevoll und zugleich verängstigt mit dem Spitznamen »Stasi« mystifiziert – hatte das Problem, daß es mit der Menge seiner Daten nicht mehr zurechtkam. Die Angst vor ihrer Überwachung verflüchtigte sich mit einem Schlag, als die Menschen merkten, daß die Stasi ihrer Überwachung keine Repression mehr folgen lassen konnte, weil eben zu viele betroffen waren. Und bei der friedlichen Revolution in der DDR könnte auch ein Stück Aggression wegen der Stasi-Überwachung mitgewirkt haben. Nun mag man sagen, die BRD ist nicht die DDR, und man hat damit recht. Wir haben noch nicht so viel von der Überwachungsdroge zu uns genommen. Aber sehen wir ein Ende auf der nach oben offenen Überwachungsskala? »Ja« rufen da alle Rechtsstaatler und ich mit ihnen: »Das Limit setzt das Bundesverfassungsgericht.« Der höchste deutsche Gerichtshof hat unseren Regierungen in der jüngeren Vergangenheit eine Entziehungskur nach der nächsten verordnet: War das Volkszählungsurteil 1983 erst eine Ermahnung, so erleben wir jüngst ein eskalierendes Entzugsprogramm: 2004 der große Lauschangriff, 2005 die präventive niedersächsische Telekommunikationsüberwachung, 2006 die Rasterfahndung, die Exzesse mit der Droge Überwachung nehmen zu und die verordneten Entzüge auch. Was uns in dieser Situation besondere Sorgen machen muß, ist dies: Der Patient, lange Zeit noch einsichtig und zur Reha der Grundrechte bereit, wird aufmüpfig, unsere Law-and-Order-Protagonisten stellen zunehmend die Autorität des behandelnden Verfassungsgerichts in Frage. Sie scheuen immer weniger vor dem Vorwurf des Verfassungsignoranten und schon gar nicht des Verfassungsfeindes zurück, wenn sie sich nur mit Überwachungssicherheit besaufen können. Aber zurück zum Ausgangspunkt. Es gab bisher niemanden, der behauptete, Überwachung bringe nichts und mache aggressiv. So ganz schwarz/weiß läßt sich das schwerlich behaupten noch beweisen. Ein Sprichwort bestätigt sich im Alltag immer wieder: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« Ganz ohne Polizei und Finanzamt geht es nicht, keine Frage. Dennoch lohnt es sich, unsere Titelthese zu vertiefen: Kann es dazu kommen, daß die Sicherheitsbehörden an ihren Daten erstickten? Zumindest vorläufig ist das nicht auszuschließen. Bei der Anti-Terror-Datei dürfte es zum Problem werden. Beim Polizei-Informationssystem INPOL-neu war es über Jahre ein Problem. Im Polizeialltag ist es ein Dauerproblem. Aber das ist kein Trost: Ob es bei der Telekommunikationsdaten-Vorratsspeicherung in drei, vier Jahren noch so sein wird, ist nicht absehbar. Die Informatiker arbeiten daran, daß das Ersticken immer weiter hinausgezögert wird: schnellere Geschwindigkeit, riesige Speicherkapazitäten, »intelligentere« Auswertung, einfachere Bedienung. Die Stasi hatte mit ihren alten Robotron-Geräten noch nicht die richtige Überwachungstechnik. Dennoch spricht vieles dafür, daß technische Überwachung es nicht bringt: Der Grund liegt in der Technik selbst, die nicht nur ein Überwachungspotential birgt, sondern auch ein Anti-Überwachungspotential. Gegen das Mitlesen und Abhören von Nachrichten gibt es die Verschlüsselung. Gegen die Speicherung von Verkehrsdaten gibt es weltweit verfügbare Anonymisierungssoftware. Und ob überhaupt Daten gespeichert werden, läßt sich in mit Zufallsdaten restaufgefüllten verschlüsselten Datencontainern verbergen. Professionelle Kriminelle kennen weitere Strategien, die den Strafverfolgern natürlich auch bekannt sind: wechselnde Handys, Fälschungen, zum Beispiel falsche Auto-Kennzeichen, Identitätsdiebstahl ... Wer es darauf anlegt und die nötige technische Kompetenz hat, der kann sich technischer Überwachung weitestgehend entziehen. Da bleiben den Behörden die klassischen Ermittlungsmethoden, die oft erfolgreich sind. Wer in jedem Fall von Überwachungsmaßnahmen erfaßt wird, das sind die Arglosen, die sich davor nicht schützen. In den meisten Fällen aber auch die Unschuldigen, die fälschlich vermuten, sie hätten nichts zu verbergen. Manchmal sind sie dann doch verblüfft, was da an Informationen über sie beim Arbeitgeber, bei der Versicherung oder beim Finanzamt gelandet ist. Schlimmer ist aber für die, die »nichts zu verbergen« haben, daß die technische Überwachung zwangsläufig erst mal viele trifft und daß die Sicherheitsbehörden lange Zeit (noch) nicht wissen und vielleicht auch nie erfahren, daß diese Menschen sich nichts haben zu Schulden kommen lassen. Das kann schon Angst machen. Macht das auch aggressiv? Ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur aus persönlicher Erfahrung, daß Überwachung oft einzuschüchternd wirkt und daß dabei ausgelöste Furcht auch mal zu Aggression führen kann. Doch sind mir keine wissenschaftlichen Untersuchungen bekannt, inwieweit Überwachung aggressionsfördernd ist. Diese Forschung ist dringend nötig. Wir könnten sonst blind mit unserer Überwachung in eine Sackgasse von Aggression und Gewalt geraten. Eine gewisse Plausibilität hat zweifellos folgende These: Die Überwachung und Ausgrenzung junger Moslems mag der Nährboden gewesen sein, der so manchen für fanatische Haßpredigten empfänglich gemacht hat. Es wäre eine lohnende Aufgabe, sich aus kriminologischer Sicht mit der Frage zu beschäftigen, was die U-Bahn-Attentäter von London zu ihrer Tat gebracht hat. Allseits bekannt ist, daß Videoüberwachung Selbstmordattentäter nicht abschreckt, sondern eher anzieht: Sie können so sicher sein, daß ihre Tat auf allen Fernsehkanälen gesendet werden wird. Aber auch bei weniger final orientierten Terroristen mag die Überwachung Ursache oder Ansporn für ihr kriminelles Tun sein. Mehr Überwachung garantiert nicht automatisch mehr Sicherheit. Begrenzte und gezielte Kontrollen sind, wenn sie intelligent durchgeführt werden, wohl zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nützlich und nötig. Geheimmethoden und Jedermannkontrollen auszuweiten, wäre unnütz und unnötig. Überwachung tendiert dazu, zum Sicherheitsrisiko zu werden. Thilo Weichert ist Landesbeauftragter für Datenschutz in Schleswig-Holstein.
Erschienen in Ossietzky 23/2006 |
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