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Wer hetzt zum militärischen Überfall auf Länder und Völker, von denen keinerlei Gewalt gegen die Bundesrepublik ausgeht? Wer rechtfertigt den verfassungs- und völkerrechtlich verbotenen Angriffskrieg? Wenn Soldaten aus wohlerwogenen Gründen Mörder zu nennen sind – jedenfalls potentielle Mörder –, dann dürfen wir den verantwortlichen Kriegstreibern und Kommandeuren die Kennzeichnung als Massenmörder nicht vorenthalten. Oder warum sollen wir, wenn das Gespräch zum Beispiel auf George W. Bush kommt, der sich als Gouverneur von Texas für das Amt des US-Präsidenten empfahl, indem er weit über hundert Todesurteile vollstrecken ließ, und inzwischen u.a. für den Tod hunderttausender Menschen im Irak verantwortlich ist (darunter annähernd 3000 US-Soldaten), vornehm, nein feige drumherumreden? Seit dem 2. November denke ich über die Richter des III. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs nach. Sie haben die Klage von 35 Überlebenden und Hinterbliebenen des NATO-Luftangriffs vom Pfingstsonntag 1999 auf die Brücke von Varvarin (s. Ossietzky 19/06, Seite 698: »Deutsches Völkerrecht«) abgewiesen. In einer Mitteilung für die Presse nennen sie als Hauptgrund: »Ein Schadenersatzanspruch der Kläger gegen die Bundesrepublik Deutschland auf einer völkerrechtlichen Grundlage scheidet schon deshalb aus, weil im Falle von Verletzungen des Kriegsvölkerrechts etwaige völkerrechtliche Wiedergutmachungsansprüche gegen den verantwortlichen fremden Staat nicht einzelnen geschädigten Personen, sondern nur deren Heimatstaat zustehen.« Also im konkreten Fall dem Staat, dem führende deutsche Politiker das Existenzrecht abgesprochen hatten und der infolge des zwischen dem damaligen US-Präsidenten Clinton und dem deutschen Kanzler Schröder vereinbarten Angriffskriegs heute nicht mehr besteht. Wehe den jetzt von NATO- und namentlich von Deutschlands Gnaden auf dem Balkan Regierenden, wenn sie es etwa wagen würden, Ansprüche gegen die Sieger zu erheben. Ausdrücklich knüpft der Bundesgerichtshof an seine Distomo-Entscheidung an, mit der er Entschädigungsforderungen der Überlebenden und Hinterbliebenen eines Wehrmachtsmassakers in Griechenland zurückgewiesen hatte: Die völkerrechtliche Lage habe sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht geändert. Und ausdrücklich läßt der BGH offen, ob das deutsche Amtshaftungsrecht überhaupt zuläßt, daß die Bundesrepublik für etwaige Kriegsverbrechen ihrer Soldaten haftet. Nach Nazi-Recht haftete Deutschland nicht. Die Kläger hatten der BRD unter anderem vorgeworfen, daß deutsche Dienststellen an der Auswahl der Brücke von Varvarin als militärisches Ziel mitgewirkt und den Angriff mit ihren »Tornados« durch Aufklärung, Begleitschutz und Luftraumschutz unterstützt hätten. Dagegen argumentiert der BGH wie zuvor das Oberlandesgericht Köln, »daß den militärischen Dienststellen bei ihren Entscheidungen für eine militärische Operation oder im Rahmen derselben ein umfangreicher, gerichtlich nicht nachprüfbarer, Beurteilungsspielraum zusteht. Es ist nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht diesen Beurteilungsspielraum erst bei völliger Unvertretbarkeit oder eindeutiger Völkerrechtswidrigkeit der betreffenden militärischen Entscheidung als überschritten ansieht. Das Berufungsgericht hat in rechtsfehlerfreier tatrichterlicher Würdigung angenommen, daß diese Schwelle im Zusammenhang mit der von den Klägern behaupteten Billigung der Aufnahme der Brücke von Varvarin in die Zielliste der NATO-Operationen durch die Beklagte nicht überschritten worden ist. Diese tatrichterliche Würdigung lag schon deshalb nahe, weil zu den militärischen Zielen traditionell unter anderem die Infrastruktur wie Straßen, Eisenbahnen, Brücken, Fernmeldeeinrichtungen gezählt wird. Das konnte für eine Aufnahme in die Zielliste ausreichen…« Indem der Bundesgerichtshof dem kriegführenden Staat einen dermaßen weiten Beurteilungsspielraum zuspricht, wischt er alles beiseite, was die KlägerInnen vorgetragen hatten, um klar zu machen, daß bei dem Angriff gegen die Bestimmungen des Völkerrechts zum Schutz der Zivilbevölkerung verstoßen worden war: daß es in Varvarin und in weitem Umkreis kein einziges militärisches Ziel gab, daß speziell die Brücke keinem militärischen Zweck diente, daß sie sich dafür wegen ihrer einfachen Bauart auch gar nicht eignete. Mit den Worten, daß schon Straßen »traditionell« zu den militärischen Zielen gehören, stellen die Bundesrichter dem Militär einen Freibrief aus: Wenn alle Straßen erlaubte Ziele sind, wird die gesamte Zivilbevölkerung zum Ziel. Genau das Gegenteil fordert die Genfer Konvention im entsprechenden Zusatzprotokoll in mehr als 30 Artikeln: Zivilisten sollen verschont bleiben, Kriegshandlungen dürfen sich nur gegen militärische Ziele richten. Für die abgewiesenen Kläger im Fall Varvarin bedeutet der Ausgang des Revisionsverfahrens, daß sie beziehungsweise das Berliner Ehepaar Kampffmeyer, das den durch den Verarmten mit einem Teil seiner Habe geholfen hatte, den Rechtsweg (sollen wir ihn noch so nennen?) zu beschreiten, nun viele Zigtausende Euro für Verfahrenskosten aufwenden müssen. Auch für Verfahrenskosten der deutschen Seite. Welche anderen Opfer deutscher Kriegführung werden unter diesen Umständen noch wagen, Schadenersatz zu fordern? Übrigens: Der Angriff auf Varvarin am 30. Mai 1999 war im NATO-Krieg gegen Jugoslawien nicht etwa ein Einzelfall. Zum Beispiel wurden am 29. Mai, dem Pfingstsamstag, in Cupria Wohnhäuser und Läden zerstört und 20 Personen verletzt. In Cenovac wurde eine Brücke über die Jablanica zerbombt, ein Vater und sein Sohn getötet, eine Frau schwer verletzt. Am Morgen des 30. Mai wurden in Brvenik Einfamilienhäuser und der Friedhof zerbombt. In der Nacht vom 30. zum 31. Mai bombardierte die NATO im Surdulica, südlich von Varvarin, ein Altersheim und Sanatorium für Lungenkranke. Dort wurden 20 Menschen umgebracht, darunter zwölf Kinder. Am 31. Mai mittags wurden in Novi Pazar durch Bombardierung eines Wohngebietes elf Menschen ermordet und 20 verletzt. Und so weiter. Von alledem weiß in Deutschland fast niemand. Die tonangebenden deutschen Medien haben während des Krieges und seither einmütig konsequent über die Opfer des völkerrechts- und verfassungswidrigen Angriffskrieges geschwiegen. Wie sollen wir die dafür Verantwortlichen in den Medien nennen? Was den Bundesgerichtshof betrifft, werde ich nie vergessen, daß er sich in dem von Rosalinde von Ossietzky-Palm angestrengten Wiederaufnahmeverfahren geweigert hat, das Reichsgerichtsurteil gegen ihren Vater Carl von Ossietzky aufzuheben, der demnach weiterhin als Verräter zu gelten hat. Weil er mitgewirkt hatte, völkerrechts- und verfassungswidriges Handeln deutscher Militärs aufzudecken. Ein Urteil, das geradewegs in den Faschismus führte. Wie kann ich ein solches Gericht respektieren?
Erschienen in Ossietzky 23/2006 |
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