Lassalle versteckt

Arno Klönne

Der vorwärts , lange Jahre hindurch als Mitgliedermagazin der SPD nur für den internen Gebrauch hergestellt, hat mit der Novemberausgabe ein neues »Outfit« bekommen und soll sich ab Januar nächsten Jahres »auf dem freien Markt bewähren«, Käufer und Abonnenten gewinnen. SPD-Chef Kurt Beck, schreibt Chefredakteur Uwe-Karsten Heye, habe seiner Partei das Kommando »Raus aus der Selbstgenügsamkeit!« gegeben, und dem wolle auch das 1876 gegründete Parteiblatt nachkommen. Ein »offenes Forum«, »frei von Denkverboten«, solle der vorwärts in Zukunft sein, mit der jüngsten Ausgabe sei der Beginn dafür gemacht. Und so kann man dort etliche Seiten aus dem Memoirenwerk von Schröder-Heye lesen – unter der Überschrift »Warum er es wieder so machen würde«. Oder auch ein Plädoyer von Oskar Negt für sozialdemokratisches Festhalten am »demokratischen Sozialismus«, am Begriff wohlgemerkt. Ein Widerspruch liegt darin nicht, denn der Sozialismustheoretiker Negt war praktizierender Schröderist, und auch er würde es gewiß wieder so machen.

Zur Marktöffnung beim vorwärts haben sich einige prominente Gratulanten eingefunden: Kardinal Karl Lehmann übermittelt dem Blatt »Gottes Segen für die Zukunft«. Erhard Eppler wünscht auch alles Gute, gibt aber, den Titel des Blattes betreffend, zu bedenken: »Wir wissen nicht mehr, was hinten und was vorn ist.« Der Medienunternehmer Tim Renner empfiehlt, den vorwärts zum »Zentralorgan der Creative Class« zu machen. Ganz kurios der Glückwunsch von Heide Simonis: Man habe, so schreibt sie, den vorwärts zwar »nicht jeden Morgen bzw. jede Woche mit Herzflimmern erwartet, aber wenn man nicht hineinsehen konnte, hat einem doch etwas gefehlt«, also sei für das Blatt ein weiteres langes Leben zu erhoffen. Jemand hätte der Politikerin erklären sollen, daß es seinen einfachen Grund hatte, wenn sie nicht jeden Morgen oder jede Woche einem neuen vorwärts ausgesetzt war: Er ist seit langer Zeit ein Monatsblatt.

Auf der Titelseite des November- vorwärts ist eine junge Frau abgebildet, die eine rote Fahne mit der Aufschrift »Freiheit, Gleichheit, Solidarität« in der einen, ein großformatiges Druckwerk in der anderen Hand trägt; um was es sich da handelt, ist nicht erkennbar. Auf ihrer Bluse trägt die Frau ein historisches Porträt, aber man hat Schwierigkeiten, den Abgebildeten zu identifizieren. Ich habe bei der vorwärts- Redaktion angerufen, die wußte den Porträtierten nicht zu nennen – vielleicht Wilhelm Liebknecht, der Gründer des vorwärts ? Dank der Vergrößerungstechnik im Internet hab ich inzwischen herausbekommen, daß es Ferdinand Lassalle ist, den die vorwärts -Fahnenträgerin uns nahebringen will. Ob Uwe-Karsten Heye ihn fälschlicherweise für einen früheren sozialdemokratischen Verehrer des Marktes hält?

Daß dem vorwärts demnächst beim freien Verkauf Gottes Segen zugute kommt, ist wenig wahrscheinlich. Die Redaktion mag dann in einem Buchtitel ihres Gratulanten Tim Renner Trost finden: »Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm«. Die SPD hat so manches eingebüßt, da wäre der Verlust ihres einstigen Zentralorgans nicht das Schlimmste. Es kann aber auch sein, daß der vorwärts auf zahlende LeserInnen gar nicht so sehr angewiesen ist. Einige regelmäßige Großanzeigen müßte den Energiekonzernen die stetige Hilfe von SPD-Politikern doch wert sein. (Wie das Anzeigengeschäft die Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit verkommen läßt, kann man schon bei Lassalle nachlesen.)

Erschienen in Ossietzky 22/2006