Der Revolverkredit

Sergej Guk

Die russischen Banken schlagen immer mal wieder Alarm: Dem Land drohe eine Finanzkrise. Zu hoch ständen die uneinbringlichen Forderungen in den Bilanzen. Zu viele an Verbraucher vergebene Kredite erwiesen sich als faul. Und während diese Klagelieder ertönen, nehmen immer mehr Menschen immer höhere Kredite auf.

Leihgeld für Verbraucherzwecke zu bekommen, ist in Rußland nicht schwierig. Auch Schwindler wissen die Möglichkeiten zu nutzen. So finden sie einen Penner, lassen ihn waschen, rasieren und sich anständig kleiden. Hauptsache: Er ist im Besitz eines gültigen Passes. Dann marschieren sie mit ihm in ein Fachgeschäft und kaufen auf Raten teure Computer, moderne Videogeräte, Fernseher und so weiter. Zum Schluß der Aktion drücken die Gauner ihm ein Paar Hunderter in die Hand (das vereinbarte Trinkgeld) und machen sich aus dem Staub.

Ja, so einfach ist das. Ein Kaufhaus, das seinen Kunden einen Verbraucherkredit anbietet, verlangt von ihnen keine Bescheinigung über die Höhe ihrer Lohn- oder sonstigen Einkünfte. Ein bettelarmer Rentner? Ein Student mit einem symbolischen Stipendium? Jeder ist willkommen. Und besonders die jungen Leute fallen darauf herein. Äußerst beliebt ist bei ihnen das Angebot eines sogenannten zinslosen Kredits. Damit könnten sie sich, verheißt die Werbung, den Traum von sofortigem Besitz neuer Unterhaltungselektronik erfüllen.

Die Ernüchterung läßt nicht lange auf sich warten. »Zinslose Darlehen, bei uns?« Die Bankangestellten spielen Verwunderung. »Sie scheinen uns mit einem Wohltätigkeitsverein verwechselt zu haben.« Die Verkäufer haben die erste Rate gezahlt. Dann erst lernt der Kunde, was Gratiskäse und Mausefalle bedeuten. Der weitere Verlauf läßt sich am besten an einem Beispiel verdeutlichen: Zwei Journalisten kauften im Redaktionsauftrag einen Kühlschrank auf Raten. Nach dem Erwerb erhielten sie von dem Finanzierungsinstitut einen Brief samt Kreditkarte in Höhe von 50.000 Rubeln. Ein Anruf in der Bank genüge, um die Karte zu aktivieren, erfuhren sie. Und so geschah es auch. Eine liebenswürdige Mädchenstimme teilte mit, nunmehr hätten die Schuldner nur 1.500 Rubel monatlich zu zahlen. Vier Monate später erfuhren die beiden, trotz der Tilgung habe sich ihr Schuldenstand um 8.000 Rubel erhöht. Kein Mißverständnis, erklärte man ihnen in der Bank und belehrte sie weiter: Sie hätten einen sogenannten Revolverkredit aufgenommen. Neben den abgemachten 23 Prozent Jahreszins entstünden ihnen als zusätzliche Verpflichtungen monatlich 1,9 Prozent für Kassenservice und 4 Prozent Bankgebühren. Im Kaufvertrag war das selbstverständlich nicht erwähnt. Umgerechnet sollten die in die Falle geratenen Journalisten dem Gläubiger 95 Prozent Jahreszinsen begleichen, womit sich der Preis des Kühlschranks gleich im ersten Jahr fast verdoppelte.

Und noch eine kleine Überraschung erlebten die Journalisten: Meldet der Kunde seine Kreditkarte nicht schnell ab, muß er die Bankabgaben auch dann zahlen, wenn er von den Geldangeboten keinen Gebrauch gemacht hat. Auf solche Weise verschaffen sich die Banken satte Gewinne.

Das ist kein Einzelfall, sondern landesweite Praxis. Viele Kunden leiden jahrelang unter der Kreditlast und sind teilweise gezwungen, ihr Eigentum (Immobilien) unter Wert an Kredithaie zu verkaufen. Manche landen im Knast (»wegen der Betrügereien«) oder nehmen sich sogar das Leben. Aber noch keine einzige lamentierende Bank ist wegen der uneinbringlichen Kredite bankrott ­gegangen.

Erschienen in Ossietzky 22/2006