von Utz Anhalt (sopos)
Der Religionskritiker und Philosoph Michael Schmidt-Salomon hielt im Oktober 2006 bei den Freien Humanisten Hannover einen Vortrag über die "neuen zehn Gebote - eine Ethik ohne Religion". Er analysierte zunächst den Inhalt der Zehn Gebote aus der Bibel und verdeutlichte an einigen Beispielen, daß sich prominente Vertreter der "christlichen Leitkultur" diese Mühe nicht machen. So habe Edmund Stoiber auf die Frage, welches Gebot ihm am wichtigsten sei, geantwortet: "Die Nächstenliebe". Von Nächstenliebe sei aber in keinem der zehn Gebote die Rede. Die Familienministerin Ursula von der Leyen bezeichnet die zehn Gebote sogar als Zusammenfassung des Grundgesetzes, so Schmidt-Salomon. Das Lachen bleibt einem buchstäblich im Hals stecken. Schmidt-Salomon machte deutlich, in was für einem Staat wir, Ursula von der Leyen zufolge, leben. So sei gleich das erste Gebot eines der unethischsten Gesetze der Menschheitsgeschichte. Wer Gottes Feind ist, soll verfolgt werden bis in das dritte Glied. Im Klartext: Religionszwang und Sippenhaft. Demnach müßte für seinen religionskritischen Vortrag nicht nur der Referent selbst bestraft werden, sondern auch sein fünfjähriger Sohn, dessen Kinder und deren Kinder.
Schmidt-Salomon verwies auf das Gebot "Du sollst nicht morden", dessen Zusatz "liberale Christen" gerne vergessen. Er lautet: "Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen". Der Religionskritiker erläuterte auch noch das zehnte Gebot, in dem Frauen wie Sklaven mit Tieren und Sachen gleichgesetzt werden und Besitztümer des Mannes sind. Schmidt-Salomon kam zum Ergebnis, daß die christlichen Gebote sämtliche modernen Werte wie Meinungs- oder Pressefreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, aber auch die Unantastbarkeit der Menschenwürde unterschreiten. Warum solche absurden Konstruktionen wie die von der Leyens trotzdem in die Öffentlichkeit kommen, ohne einen Aufschrei auszulösen, erklärte der Redner mit dem Phänomen der Ahnungslosigkeit und Traditionsblindheit. Ahnungslosigkeit bedeutet dabei, daß Christen ihre eigenen, oft menschenverachtenden, Quellentexte nicht kennen. Traditionsblindheit meint, (christliche) Traditionen zu praktizieren, ohne bereit und in der Lage zu sein, diese kritisch-rational zu hinterfragen. Es resultiert daraus, daß Menschen als Kinder mit religiöser Indoktrination aufwachsen und als Erwachsene nur mit psychischen Problemen in der Lage sind, diese angelernten Muster zu überwinden. Schmidt-Salomon wehrte sich dagegen, solche Konstrukte als Realität anzusehen. Wer das zum Beispiel bei der Auferstehung Christi tue, müsse das gleiche Recht jedem zugestehen, der in der Psychiatrie sitzt, weil er sich für die Wiedergeburt von Elvis Presley hält.
Auch bei Ursula von der Leyen fragt sich Schmidt-Salomon, ob sie die Leute einfach für dumm verkaufen möchte oder noch nie über ihre "christlichen Werte" nachgedacht hat. Sein erschütterndes Ergebnis: Ursula von der Leyen glaubt vermutlich selbst, daß die zehn Gebote mit der Achtung der Menschenwürde, Religionsfreiheit und anderen Grundrechten identisch seien.
Ein entscheidendes Problem bei den "Weichfilterchristen", stelle die Mischung aus Traditionsblindheit und der Zähmung des Christentums durch die Aufklärung dar, die ihnen selbst oft gar nicht bewußt ist. So vertreten "liberale Christen" keine christlichen Werte in Reinform, sondern durch die Aufklärung und den Humanismus gegen das Christentum erkämpfte Grundrechte und -werte. Das Problem mit diesen "getarnten" Humanisten sei, daß sie überkommene und mit modernen Menschenrechtsvorstellungen unvereinbare Vorstellungswelten in einer Form von intellektueller Unredlichkeit in das 21. Jahrhundert retten wollen. Intellektuell unredlich sei die Argumentation "aufgeklärter Christen" deshalb, weil sie sich und andere permanent selbst belügen und "intellektuelle Kapriolen" schlagen, um Unsinn zu Sinn umzuinterpretieren und zum Beispiel eindeutige Aufrufe zum Völkermord in der Bibel als rein symbolisch darzustellen, obwohl die Quellentexte zeigen, daß diese Aufrufe zur Vernichtung der "Ungläubigen" direkte Handlungsanleitungen sind und Christen befohlen wird, diese zu befolgen.
Nimmt man aber, so Schmidt-Salomon, die Quellentexte beim Wort, so zeige sich "ein jenseitiges Auschwitz für die Ungläubigen", in dem "Engel an der himmlischen Rampe selektieren" und zwar nicht nur durch die Gläubigen, sondern auch durch die Gott zugesprochenen Taten selbst. Würde es diesen Gott geben, so Schmidt-Salomon, müßte er wegen kolossaler Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht stehen. Er nannte den fast vollständigen Genozid an der Menschheit in der Sintflut und die Auslöschung der Städte Sodom und Gomorrha. Die Quellentexte insgesamt stünden weit unter den Mindeststandards jeder halbwegs zivilisierten Gesellschaft und seien an Grausamkeit und psychopathologischen Rachephantasien kaum zu übertreffen. Die Geschichte des Christentums sei eine Kriminalgeschichte.
Schmidt-Salomon betonte, daß er keinesfalls alle Übel der letzten Jahrtausende auf das Christentum zurückführt. Trotz außerreligiöser Ursachen sei aber das ideologische Fundament, die Bibel, das beste Rechtfertigungsargument gewesen. Die Kreuzfahrer hätten sehr wohl materielle Interessen gehabt, wie die Plünderung des "Heiligen Landes". Ihre blutgetränkten Hände konnten sie aber mit dem Slogan "Gott will es" in Unschuld waschen. Das Brennen der Scheiterhaufen für Ketzer und Hexen war durch "Gottes Willen" legitimiert.
Deswegen hält Schmidt-Salomon auch die gegenwärtige Diskussion, in der gesellschaftliche Probleme angeblich aus dem Verfall der alten Werte resultieren, für entweder unaufgeklärt oder makaber. Politiker verwechselten regelmäßig die Werte des Christentums mit denen der Aufklärung und bräuchten dringend eine Pisastudie, um ihr historisches Wissen zu verbessern. Sämtliche Menschenrechte haben die Humanisten gegen die Machtansprüche der Religionen durchgesetzt und sich dabei auch auf die von Christen verbotenen Texte gestützt. So habe die Renaissance zaghaft das von den Christen als heidnisch verurteilte Erbe der antiken Philosophie wiederentdeckt und damit eine neue Perspektive nach tausend Jahren christlich fundierter Unterentwicklung eröffnet.
Dieser Kampf des Christentums gegen die Aufklärung sei keinesfalls mit dem Ende der Scheiterhaufen in ein Arrangement übergegangen, die Unterdrückung der Menschenrechte habe lediglich andere Formen angenommen. Im katholischen Dogma seien noch im 19. Jahrhundert die "Irrtümer der Moderne" verurteilt worden, wörtlich Rationalismus, Naturalismus, Liberalismus, Menschenrechte, Demokratie und Trennung von Staat und Kirche. Der Vatikan habe als einziger europäischer Staat bis heute die Europäische Menschenrechtskonvention nicht unterschrieben. Schmidt-Salomon hält das aus dem weltanschaulichen Hintergrund des Katholizismus für logisch.
Er verwies auf den Unterschied zwischen der (christlichen) Religion in ihrer fundamentalistischen und der von der "Dompteurpeitsche der Aufklärung gezähmten" Variante. Die Fundamentalisten lehnten wissenschaftliche Tatsachen einfach als Teufelswerk und Blasphemie ab, ob es sich um die Evolutionstheorie oder Stephen Hawking handelt und Kritiker wie Michael Morddrohungen ins Haus schicken. Die "Weichfilterchristen" haben weltliche Elemente integriert und sich - insbesondere nach der NS-Zeit - eine "Religion light" gebastelt. Auf der Basis ihrer Quellen dürften sie sich redlicherweise also nicht als Christen bezeichnen: Sie bezweifelten zwar nicht Gottes Existenz, wohl aber die des Teufels, sie plädierten für die Gleichberechtigung von Mann und Frau und sehen kirchliche Gebote nicht als zwingend an. Die Quellentexte selbst verböten aber dies.
Warum sollten sich Humanisten mit solchen "netten Christen" nicht achselzuckend abfinden? Sie tun ja keinem etwas zuleide und achten die Grundrechte.
Leider sprechen alle empirischen Untersuchungen - global - für einen konsequenteren Umgang mit Religion. Nicht den Fundamentalisten und den Konfessionslosen, sondern den "zwischen den Stühlen sitzenden Christen im humanistischen Gewand" liefen die Leute davon. Fundamentalistische Christen gewinnen an Attraktivität. Im Unterschied zu "Weichfilterchristen" wüßten sie, daß ein Christentum ohne Hölle wie ein Elfmeterschießen ohne feindliche Mannschaft sei und argumentierten zumindest in sich logisch: Als konsequente Anhänger der Schöpfungslehre müßten sie sich mit "Teufelswerk" wie der Wissenschaft gar nicht erst beschäftigen. Auf der anderen Seite gebe es für Menschen, die wissenschaftliche Tatsachen akzeptieren und offensiv vertreten, beim heutigen Stand der Forschung keinen Grund, statt der Aufklärung ihre unausgegorene "christlich-liberale Kopie" zu bevorzugen. Wir befinden uns also, so Schmidt-Salomon, in einer Phase der Polarisierung, in der von Humanisten konsequentes Denken und Handeln gefordert sei, statt den real existierenden Kulturkampf zu ignorieren.
Schmidt-Salomon ist der Ansicht, daß wir uns tatsächlich in einem globalen Kulturkampf befinden. Dieser sehe aber ganz anders aus, als Samuel Huntington ihn sich vorstellt. Es handle sich nicht um den Kampf des "christlichen Europa" gegen die "islamische Welt"; es handle sich vielmehr um die Auseinandersetzung zwischen "kritischer Rationalität und Humanismus" einerseits gegen "religiösen Fundamentalismus" andererseits. Schmidt-Salomon vertiefte diese These anhand einiger Beispiele, um zu erklären, daß christliche und islamische Fundamentalisten sich in ihrem Kampf gegen die Menschenrechte gegenseitig in die Hände spielen. So haben christliche Politiker in Deutschland die islamischen Pogrome wegen der Mohammedkarikaturen zum Anlaß genommen, schärfere Strafen wegen "Gotteslästerung" zu fordern. Schmidt-Salomon hält das für logisch, da die Freiheit der Kunst für konsequente Christen schon immer ein rotes Tuch war.
Schmidt-Salomon ruft dazu auf, die Kritik sowohl am religiösen Fundamentalismus als auch an der "Religion light" weiterzuentwickeln und sich von dem Slogan "Verletzung religiöser Gefühle" nicht beirren zu lassen. "Verletzung religiöser Gefühle" bedeutet von denjenigen, die sich darauf zurückziehen, nichts anderes als ihre weltanschauliche Borniertheit abzusegnen, um die eigene Meinung heilig, das heißt unantastbar, zu machen. Er zeigte die Gefahr für Humanisten, die Rücksicht auf "religiöse Gefühle" nehmen. Mit diesem willfährigen Argument, wenn es gesetzlich verankert ist, ließe sich jede Lesung von Nietzsche-Texten verbieten.
Religiöse Fundamentalisten machten zwar fleißig Gebrauch von den Früchten der Aufklärung, aber nur, um - auch mit Waffengewalt - zu verhindern, daß die Prinzipien der Aufklärung auf ihre eigene Weltanschauung Anwendung finden. So seien die Flugzeuge, mit denen die Massenmörder das World Trade Center zerstörten, ein Produkt des aufgeklärten Denkens, der Logik und Rationalität. Das Kleinkinder-Weltbild von Al Qaida ebenso wie das von George W. Bush könne dagegen Maschinen wie Flugzeuge niemals entwickeln.
Schmidt-Salomon fragte, was eine zeitgemäße Ethik auszeichnet. Er bezeichnete eine zeitgemäße Ethik als humanistische Ethik. Das bedeute als Voraussetzung, daß wir ein Universum sinnlich erfassen können, das sich in einer metaphysischen Sinnlosigkeit befinde. Das höre sich zunächst schrecklich an, sei es aber nicht: Wir Menschen haben in diesem sinnlosen Universum als einzige Lebewesen das Privileg, den Sinn des Lebens aus dem Leben selbst zu schöpfen, könnten also die Regeln, unter denen wir leben wollen, untereinander aushandeln und das höchstwahrscheinlich einzige Leben, was wir als Individuen haben, genießen. Schmidt-Salomon plädierte an dieser Stelle für einen reflektierten Hedonismus. Dieser verfalle weder in die orientierungslose Konsumsucht der Postmoderne, noch müsse er sich metaphysischer Moral, göttlichen Richtern, unendlicher Höllenstrafe, der Erbsünde und anderen Qualen unterwerfen.
Bereits zu Anfang hatte Schmidt-Salomon die Begriffe Moral und Ethik scharf voneinander getrennt. Moral versteht er dabei als metaphysisches Urteil über gut und böse, das weder verhandelbar noch hinterfragbar ist. Ethik erkennt Schmidt-Salomon hingegen als die Regeln, die Menschen untereinander auf der Basis unterschiedlicher Interessen entwickeln. Der Ethiker akzeptiere Bedürfnisse, der Moralist nicht. Der Moralismus beschwöre die Doppelmoral deshalb, weil er seinem metaphysischen Konstrukt gar nicht gerecht werden kann. Ethik heiße kreative Lösung, Moral autoritäres Dogma. Moralismus sei das naiv-archaische Instrumentarium vormoderner Kulturen und Ethik bedeute, Moralismus zu bekämpfen. Die Losung des Ethikers sei: "Trau keinem erhabenen Motiv, wenn es nicht auch ein handfestes gibt." Das moralisierende Weltbild ist für ihn sogar der entscheidende Punkt, um Menschen in Kriege wie den Irakkrieg hetzen zu können. Moral sei die Verfestigung irrationaler Standpunkte und verurteile Menschen außerhalb jeglichen Zusammenhangs aufgrund persönlicher Schuldfähigkeit. Ethik entstünde nicht aus irrationalen Standards, sondern aus der flexiblen Verhandlung über unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse, suche zwischen verschiedenen Menschen Lösungen für Interessenskonflikte. Ziel sei also nicht die Strafe des "Bösen", sondern Fair Play.
Eine "Selbstversündigung" könne es in einer Ethik, die Personen mit anderen Personen aushandeln, nicht geben, im Gegensatz zu Moral. Schmidt-Salomon nennt als Beispiel die Onanie die allein das Selbst betrifft, also nicht "unethisch" sein kann. Homosexualität, Analverkehr und Oralverkehr, können, bei beiderseitigem Einverständnis, ebenfalls nicht unethisch sein. Bei der metaphysischen Irrationalität, der Moral, sehe das anders aus; deshalb sei es logisch, daß in einigen islamischen Ländern Homosexualität unter Todesstrafe stehe.
Die Diskussionen mit dem Publikum kreiste schließlich um den von Schmidt-Salomon verwendeten Begriff des aufklärerischen Kampfes. Jemand vertrat die Ansicht, daß Humanisten doch in der Auseinandersetzung den "Anderen" auf ebendieser ethischen Basis ansprechen und Vorstellungen von "Kampf" und "Feind" den Religionen überlassen sollten.
Schmidt-Salomon warnte davor, die Lage zu unterschätzen. Er habe mit Frauen zu tun, die gegen ihren Willen aus islamischen Ländern nach Deutschland importiert werden und hier nicht einmal die elementarsten Menschenrechte gewährt bekommen. Dazu müsse man Position beziehen und sich konsequent gegen den Übergriff der Religionen wenden. Wenn zum Beispiel die Hälfte der Schüler nicht beim Sexualkundeunterricht oder beim Sport mitmachen dürfe, befinde man sich in diesem Sinne in einer Kampfsituation. Die Aufklärung der letzten Jahrhunderte sei immer ein Kampf gewesen, die Reaktion, der Klerus hat seine Machtstrukturen brutal verteidigt und tue es noch heute. Schmidt-Salomon vertritt aufklärerische Positionen und auch Provokationen "mit Biß", aber ohne "bissig zu sein". In diesem Kontext appellierte er, die Aufklärung harsch zu betreiben und Klartext zu reden. Er vertiefte seinen Appell dahingehend, daß die Aufklärung automatisch in der Gesellschaft "verwässere". Je vehementer man aufklärerische Positionen in die Öffentlichkeit bringt, desto mehr könne man hoffen, daß ein kleiner Teil davon die Öffentlichkeit auch erreiche.
Auf die Fragen, wie Humanisten mit dem Problem der Vereinnahmung umgehen sollten, mit wem solle man einen Dialog führen, gegenüber wem müsse man sich abgrenzen, um zu verhindern, daß insbesondere die sinnliche Befreiung durch humanistisches Handeln auch für "Weichzeichnerchristen" attraktiv sei und wie man damit umgehen soll, daß sie Fragmente für sich "stehlen" und in ihre Kirchen einbastelten, antwortete Schmidt-Salomon, das Beste sei, die aufklärerischen Positionen immer wieder massiv aufzuzeigen, das Original ließe sich von der Kopie unterscheiden.
Wie kann sich der evolutionäre Humanismus als eigenständige Kraft vermitteln? Schmidt-Salomon sieht Probleme darin, daß die Berichterstattung über die Religionen die Medien beherrscht, obwohl es in Deutschland inzwischen mehr Konfessionslose als Katholiken gibt, die Konfessionslosen also die größte "Konfession" darstellen. Nichtgläubige seien als Rettungssanitäter, Erzieher und in anderen Bereichen gezwungen, in kirchlichen Institutionen zu arbeiten, Journalisten müssen Kirchenveranstaltungen dokumentieren, die sie persönlich ablehnen. Religionskritiker würden zu Talkshows entweder gar nicht erst eingeladen oder im letzten Moment auf kirchlichen Druck hin wieder ausgeladen. In Talkshows zu Kirchenthemen sei der "Gegenpol" zu einem Fundamentalisten in der Regel ein "Weichzeichnerchrist". Humanisten kommen vor allem durch Kritik an den "Anderen" in die Medien. So habe sich die "religionsfreie Zone" während des katholischen Weltjugendtag, bei dem Religionskritiker eine Tyrannosaurusfigur im Klerikalengewand eine Schafherde durch Köln trieben, nicht ignorieren lassen.
Die Leitkultur der Aufklärung sei immer eine Streitkultur gewesen, und es gelte, den gegenwärtigen Trend zum religiösen Fundamentalismus in die Öffentlichkeit zu bringen. So wisse kaum jemand in Deutschland, daß Ratzinger Exorzisten ausbilde und an Dämonen glaube, sowie in Deutschland den großen Ablaß erließ. Die Vorlage für die "Weichfilterchristen" sei, daß ihnen solche Lächerlichkeiten peinlich sind und sie zu "ihrer Kirche" auf Distanz gehen müßten, um nicht selbst der Lächerlichkeit zu verfallen. Überhaupt meinte Schmidt-Salomon, sollten wir daran arbeiten, daß Begriffe wie "Gott ist mit uns" oder "in Gottes Namen" keine Ehrfurcht, sondern Lachsalven auslösen und erinnerte an die subversive Kraft des Humors als schärfste Waffe gegen religiöse Dogmen.
Zu guter Letzt fragten Zuhörer, wie sich denn Humanisten gegenüber den kirchlichen Macht- und Unterdrückungsapparaten als eigenständige Kraft präsentieren könnten. Konsens bestand darüber, daß freie Humanisten keine neue Kirche sein können und wollen. Schmidt-Salomon zeigte sich zwar überzeugt davon, daß der evolutionäre Humanismus als freie Alternative zur religiösen Ein- und Unterordnung Alleinstellungsmerkmale definieren und sein Profil schärfen muß, PR bedeute drastische Aufklärung und Aufklärung als reflektierter Hedonismus.
Insbesondere interessierte mich, wie Schmidt-Salomon den - wenn überhaupt vorhandenen - Umgang der deutschen "Linken" mit dem Islamismus und den Mohammedkarikaturen bewertet. Er kritisierte, daß viele Linke nicht in der Lage seien, die Prinzipien der Aufklärung, die kritische Rationalität, auf ihre eigene Weltanschauung anzuwenden und deshalb dem religiösen Denken verfallen, während zum Beispiel einem Karl Marx die Vorstellung, daß jemand seine Texte wie die Bibel zitiert, tief zuwider gewesen wäre. Schmidt-Salomon bewertet den Stalinismus als politische Religion, die alles beinhaltet, was eine "anständige Religion" ausmacht: Idolatrie, Gott gewordene Menschen, Heiligenkult, Reliquienkult, Inquisition, Ketzerprozesse, eine Hölle auf Erden für die Ungläubigen und vor allem das Prinzip der verfestigten Irrationalität gegen die kritische Rationalität.
In unserer Gesellschaft sieht er hingegen das Problem, daß die "Großen" unter den Religionskritikern zwar ständig zitiert werden, ohne aber ihre Religionskritik zu erwähnen. So hätten auch "Weichzeichnerchristen" keine Probleme mit Freud, Goethe oder Heine, die alle für das Christentum ihrer Zeit Verachtung empfunden haben und ihre Religionskritik akribisch begründeten.
Linke, die die Islamisten als soziale Revolutionäre oder nationale Befreiungsbewegungen mißverstehen, haben den Unterschied zwischen aufgeklärtem und religiösem Denken nicht verstanden. Er bekomme als konsequenter Humanist, der den Menschen als entwickelten Primaten und Bestandteil der Evolution begreift, immer wieder Anfeindungen von dogmatischen Linken, die bei der Erwähnung von Darwin in ihrem Viertel- oder Achtelwissen sofort Assoziationen wie Rassismus oder Nazismus abspulen. Diese "Kritiker" würden nicht begreifen, daß sie mit diesen Angriffen auf wissenschaftliche Tatsachen den antiwissenschaftlichen Anhängern der christlichen Schöpfungslehre in die Hände spielen. Schmidt-Salomon erwähnte in diesem Kontext den dogmatischen Linken Peter Kratz, der sogar Erich Fromm in eine nazistische Ecke rückt, aber die "Christen, die an der Bergpredigt festhalten" lobt, ohne in der Lage zu sein, die Bergpredigt in ihrer Zeit als Bestandteil eines Systems zu erfassen, daß elementarsten humanistischen Standards der Moderne widerspricht.
Seinen Appell, humanistische Netzwerke zu bilden und zwar nicht als Intellektuelle, sondern in der gesamten Gesellschaft, halte ich für dringlich. Im Klartext: Wir können in dieser Gesellschaft als Atheisten, Agnostiker und Konfessionslose nicht ohne kirchliche Zumutungen leben. Wenn wir uns ein Bein brechen, landen wir meistens in einem religiösen Krankenhaus, wenn wir sterben, auf einem religiösen Friedhof, unsere Kinder gehen in christlich geführte Kindergärten usw.. Humanistisch leben zu können, bedeutet - nach Michael Schmidt-Salomon -, eindeutig vom Humanismus leben zu können. Dazu sind die Humanistenverbände gegenwärtig leider noch zu finanz- und mitgliederschwach.
https://sopos.org/aufsaetze/4546c5d5cf6d2/1.phtml
sopos 10/2006