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Seit einiger Zeit wird die Medienszene im Nahen Osten durch das Internetprojekt bitterlemons.org bereichert. Es ist einer der wenigen Orte, an denen Israelis und Palästinenser gleichberechtigt und zu gleichen Anteilen über die verschiedenen Aspekte des Nahostkonflikts diskutieren. Die Redaktion ist paritätisch besetzt. Die israelische Seite wird vertreten von Yossi Alpher, einem ehemaligem Regierungsberater. Für die Palästinenser spricht Ghassan Khatib, ehemals Minister der Palästinensischen Autonomiebehörde. Finanziert wird bitterlemons.org zu weiten Teilen von der Europäischen Union, weshalb das e-zine kostenlos zugänglich ist. Beide Redakteure kommen nicht aus der Friedensbewegung, sondern vertreten eher den jeweiligen politischen Mainstream. Doch genau das macht bitterlemons.org so herausragend. Denn wo sonst prallen die israelischen und palästinensischen Mehrheitspositionen so direkt aufeinander, wo sonst wird dennoch intensiv miteinander diskutiert, und wo sonst werden politische Lösungen und Zugeständnisse skizziert, die aufgrund der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse realisierbar erscheinen? Jede Woche erscheint eine neue Ausgabe mit vier Analysen, Kommentaren und Interviews zu einem aktuellen Thema. Die Beiträge von Yossi Alpher und Ghassan Khatib werden dabei von wechselnden palästinensischen und israelischen Gastautoren ergänzt. In den vergangenen Monaten beschäftigte sich bitterlemons.org mehrfach mit dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah sowie der Hamas in Gaza. Aus diesem Anlaß dokumentieren wir in gekürzter Fassung die Ausgabe vom 24. Juli mit dem Titel "The regional dimension".



Was Israel tun und lassen sollte

Eine israelische Sicht

von Yossi Alpher

Israels Zwei-Fronten-Krieg mit den Kräften des islamistischen Extremismus findet vor einer nahezu revolutionären internationalen Kulisse statt. Der Nahe Osten ist entlang einer Linie zwischen Radikalen und Moderaten sowie zwischen Schiiten und Sunniten gespalten. Der Iran, der die Fehler der Amerikaner ausnutzt, führt das Revival der Schiiten an. Zusammen mit Syrien steht er an der Spitze der Radikalen. Die traditionellen sunnitischen arabischen Mächte, Ägypten und besonders Saudi Arabien, ermutigen Israel, die Hisbollah zurechtzustutzen und dadurch Iran und Syrien einen Dämpfer zu verpassen. Ägypten versucht erneut, als Vermittler einen Waffenstillstand und ein Abkommen über einen Gefangenenaustausch mit der Hamas in Gaza herbeizuführen, zu vorteilhaften Konditionen für Israel.

Die internationale Gemeinschaft, angeführt von den USA, verzögert ein Eingreifen in der Hoffnung, daß sich Israels Strategie im Libanon auszahlt, trotz der massiven Zerstörungen von Infrastruktur und dem menschlichen Leid in diesem Land. (Kaum überraschend sind Iran und Saudi Arabien jeweils bereit, für den Wiederaufbau des Libanon zu bezahlen). Wenn der Krieg vorbei ist, wird mit größter Wahrscheinlichkeit eine internationale Truppe jenseits der UN die IDF (Israel Defense Forces) im Südlibanon ersetzen.

Nach zwei Wochen Krieg im Libanon und noch länger an der Gaza-Front, lassen sich jene Bereiche identifizieren, in denen Israel neue Strategien entwickeln sollte - oder es besser nicht tun sollte. Israel kann und sollte nicht versuchen, eine "Neue Ordnung" im Libanon oder in der Region durchzusetzen. Israels Beitrag ist ein erster ernsthafter Schlag gegen die Kräfte des radikalen Islam, die das Land an zwei Fronten umgeben. Jeder israelische Versuch, die regionale politische Führung zu übernehmen, wird kontraproduktiv sein. Je weniger Israel zur Veränderung der Region sagt, desto besser.

Auf der anderen Seite bietet der gegenwärtige Flächenbrand Israel die einzigartige Chance, in strategischen Schlüsselfragen näher an die moderaten arabischen Staaten zu rücken, insbesondere an Saudi Arabien. Es ist kein Zufall, daß Premierminister Ehud Olmert die arabischen Staaten an einer multinationalen Truppe im Libanon beteiligen möchte. In dieser Hinsicht ist es zwingend erforderlich, daß Israel und die moderaten sunnitischen Staaten die USA mit den Folgen ihrer fragwürdigen Politik der demokratischen Reformen in der Region zu konfrontieren: Die Aufwertung der radikalen Islamisten, hauptsächlich schiitischer, und die Stärkung des Iran. Israel zahlt derzeit den Preis für diese Fehler (auch wenn es durch eigene Fehler dazu beigetragen hat); hoffentlich macht es einigen Schaden rückgängig. Doch Washington muß in dieser Hinsicht zu einer aktiveren Rolle bewegt werden.

Mit Blick auf den neuen iranischen und schiitischen radikalen Block als Ganzes läßt sich sagen, daß Syrien die Schwachstelle ist. Syrien ist ein Land mit einer sunnitischen Mehrheit und einem problematischen alewitischen Regime, das seine Interessen von allen Seiten her bedroht sieht, und das in den vergangen Jahren wiederholt aufgefordert wurde, den Friedensprozeß mit Israel wieder aufzunehmen. Nun mag die Zeit gekommen sein, Bashar Assads Angebote aufzugreifen. Syrien könnte nicht nur der Schlüssel dazu sein, die Hisbollah zu neutralisieren, sondern auch die Hamas zu schwächen. Auch hier muß Washington überzeugt werden, daß sein Druck auf Israel, diese Lösung zu verwerfen, nicht mehr sinnvoll ist.

Hinsichtlich Gaza, wo die regionale arabisch-sunnitische Schwäche auch eine palästinensische ist, sollte mit ägyptischer Hilfe ein separater Waffenstillstand angestrebt werden. Diese Lösung wird jedoch durch die palästinensische Uneinigkeit behindert. Auf welche Weise auch immer, die strategisch bedeutsamere libanesische Front muß davon abgetrennt werden und Hassan Nasrallahs Versuchen, die Palästinenser zu repräsentieren, das Wasser abgegraben werden. Ein Waffenstillstand würde es Israel ermöglichen, zum Rückzug aus den dicht bevölkerten Palästinensergebieten inklusive Teilen Ost-Jerusalems zurückzukehren.

Einige werden argumentieren, daß die provokativen Verletzungen der israelischen Souveränität an den Grenzen zu Gaza und Libanon, die diesen Krieg hervorgerufen haben, ein Beweis dafür sind, daß Israels einseitiger Rückzug von diesen Fronten kontraproduktiv war. Das Ergebnis dieses Krieges widerlegt sie. Zunächst einmal ist die starke öffentliche Unterstützung des Krieges - insbesondere die Bereitschaft, erhebliche zivile Verluste hinzunehmen gegen einen Feind, der unsere endgültige Zerstörung anstrebt - eine direkte Konsequenz des Umstandes, daß der Krieg auf Israels souveränem Territorium und nicht auf besetztem Land begonnen wurde, und daß Israel begonnen hat, sich demographisch zu konsolidieren, um sicherzustellen, weiterhin ein jüdischer und demokratischer Staat zu bleiben. Israels Erfolg dabei, den Krieg zu einem guten Ende zu bringen ist zusammen mit der israelischen Einmütigkeit hinsichtlich des Krieges die beste Garantie dafür, daß unsere Abschreckungsmittel nächstes Mal respektiert werden.

Yophi Alpher ist Redakteur von bitterlemons. Früher war er der Direktor des Jaffee Center for Strategic Studies an der Universität von Tel Aviv und Berater von Premierminister Ehud Barak.



Nicht von der palästinensischen Sache motiviert

Eine palästinensische Sicht

von Ghassan Khatib

Trotz der Tatsache, daß die schwerwiegende Eskalation zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen mit der noch dramatischeren Eskalation zwischen Israel und der Hisbollah zusammenfällt, und trotz der Tatsache, daß Hisbollah und Hamas islamische Parteien sind, gibt es keine direkte Verbindung zwischen den Entwicklungen an den beiden Fronten. Die Entwicklungen in Gaza zwischen Israel und den Palästinensern sind eine Fortsetzung der jahrzehntelangen Konfrontationen im Kontext der Besatzung und ihrer Praktiken auf der einen Seite und des Widerstandes gegen diese Besatzung auf der anderen. Die Ereignisse in Gaza sind daher von lokalen Dynamiken motiviert.

Israel behauptet, Gaza verlassen zu haben, hat es jedoch nicht in Ruhe gelassen. Israel setzte Gaza unter eine strikte, massive Belagerung, die einer Strangulierung gleichkam und den Streifen in ein riesiges Gefängnis verwandelte. Die Abkoppelung Gazas von der Westbank und vom Rest der Welt verursachte humanitäres Leid und einen wirtschaftlichen Schaden, der die Zahl der Armen laut jüngsten UN-Statistiken auf 68 Prozent anwachsen ließ und die Zahl der Arbeitslosen laut Weltbank-Prognosen bis zum Jahresende auf mehr als 40 Prozent treibt.

Hinzu kam eine israelische Politik, die die gewählte palästinensische Regierung paralysierte und es ihr selbst unmöglich machte, Gehälter zu bezahlen - eine Folge der Entscheidung, jene Steuereinnahmen zurückzuhalten, die Israel im Namen der Palästinensischen Autonomiebehörde einzieht, wenn Produkte in die palästinensischen Gebiete importiert werden - Produkte, die nur über Grenzen gelangen, die von Israel kontrolliert werden.

Mit anderen Worten, die israelische Besatzung und der Widerstand dagegen, die die Ursache für die fortwährende Gewalt zwischen beiden Seiten seit 1967 darstellen, erklären die jüngste Eskalation in Gaza hinreichend, inklusive der Entführung eines israelischen Soldaten, die erfolgte, als Israel von der Ermordung von Einzelpersonen hin zur Ermordung ganzer Familien überging. (...) Die Entwicklungen an der israelisch-libanesischen Front sind nicht von der palästinensischen Sache motiviert. Obwohl Hamas und Hisbollah beide als islamistische politische Parteien klassifiziert werden, gibt es nur wenige Verbindungen und kaum Koordination zwischen ihnen. Ein Faktor, der darauf hinweist, sind die derzeitigen von der Hamas vorangetriebenen Verhandlungen über eine Paketlösung inklusive eines Waffenstillstandes und eines Gefangenenaustausches. Sie erfolgen trotz der signifikanten Eskalation zwischen Israel und Libanon.

Analytiker und Journalisten sind versucht, eine Verbindung zwischen Teheran und Gaza via Syrien und Libanon herzustellen. Viele US-orientierte Analytiker unterstützen diese Wahrnehmung, um die Aktivitäten entweder der USA oder Israels, diese Verbindungen zu zerschlagen, zu rechtfertigen. Doch bisher gibt es keine substantiellen Beweise für ihre Argumente.

Das heißt nicht, daß Iran nicht versucht, seinen strategischen Einfluß in der Region auszuweiten. Doch das kann nicht auf Verbindungen mit den Palästinensern zurückgeführt werden, sondern vielmehr auf das Versagen der amerikanischen Strategie im Irak, der zum Einfallstor des Iran in die Region wurde. Daß es keine Verbindung zwischen den Ereignissen in Gaza und Libanon gibt, heißt ebenfalls nicht, daß die Popularität von Iran und Hisbollah in der gesamten Region einschließlich Palästinas nicht dramatisch wächst. Die Mehrheit der Bevölkerungen beschuldigt Israel und die USA, an ihrem Elend schuld zu sein, betrachtet beide als ihren Feind und ist bereit, jede Kraft zu unterstützen, die diesen Feind bekämpft. Das traf zu, als die Kräfte gegen Israel und die USA noch Nationalisten und Linke waren, und es trifft heute zu, da diese Kräfte schiitische oder sunnitische Islamisten sind.

Die wachsenden Spannungen zwischen Iran und den USA spielen dem Iran in die Hände, weil sie seine Popularität steigern, von den Mehreinnahmen aufgrund der krisenbedingten Steigerung der Ölpreise ganz zu schweigen. Und das fortdauernde Leiden der Palästinenser und die Ungerechtigkeit, in der sie leben, sind bedeutende Faktoren bei der feindseligen Stimmung gegenüber den USA und Israel.

Es war immer ein zutreffendes Argument, daß ein Hauptweg zur Entschärfung und Neutralisierung der weit verbreiteten Feindseligkeit gegen die USA und Israel darin liegt, die israelische Besatzung zu beenden und es den Palästinensern zu erlauben, in Frieden, Unabhängigkeit und Wohlstand zu leben. So lange dies nicht so ist, wird die palästinensische Sache für einige ein Instrument sein, ihre Popularität zu steigern.

Ghassan Khatib ist Redakteur von bitterlemons. Früher war er Planungsminister in der Palästinensischen Autonomiebehörde. Er ist seit vielen Jahren politischer Analytiker und Medien-Ansprechpartner.



Zwischen Iran, Schiiten und sunnitisch-arabischer Schwäche

Eine israelische Sicht

von Asher Susser

(...) Im vergangenen Vierteljahrhundert waren der kontinuierliche Niedergang der arabischen Staaten und die relative Schwäche des arabischen Staatensystems zu beobachten. Die einstmals hegemonialen arabischen Mächte Ägypten, Syrien, Irak und Saudi Arabien haben viel von ihrem regionalen Einfluß verloren. Bei der Arabischen Liga ist niemand mehr an Bord. In der gegenwärtigen Krise gelang es ihr wegen der internen Meinungsverschiedenheiten nicht einmal, ein Treffen zu organisieren. (...) Der Nahe Osten ist keine "Arabische Welt" mehr, zumindest in dem Sinne, daß es nicht mehr die arabischen Staaten sind, die die regionale Agenda bestimmen.

Der Niedergang der arabischen Staaten geht einher mit dem wachsenden regionalen Einfluß der nicht-arabischen Staaten Israel, Iran und Türkei. De facto sind es der Iran und Israel, die derzeit im Libanon aufeinanderprallen, während die Araber sehr zum Mißfallen der Hisbollah mehr oder minder passiv zusehen (von einigen Demonstrationen hier und dort einmal abgesehen).

Gestärkt wurde die Position des Iran durch den Untergang des ba'thistischen Irak, der einst das Hauptbollwerk gegen den iranischen Einfluß auf den arabischen Osten war und nun zum ersten schiitisch dominierten, arabischen Land transformiert wurde. Der schiitische Irak hat den Weg frei gemacht für einen dramatischen Wandel in der regionalen Balance zwischen Sunna und Schia und für die Bildung dessen, was der jordanische König Abdullah einen "schiitischen Halbmond" nennt, der von Teheran und Bagdad (via Syrien) zur Hisbollah im Libanon reicht.

Die iranische Patronage finanzieller, politischer und militärischer Art hat über viele Jahre hinweg (ebenfalls über Syrien) die Hisbollah zu einem Staat im Staate gemacht, nicht nur mit einer relativ beachtlichen militärischen Stärke, sondern auch mit einem gut ausgebildeten Netwerk sozialer Dienste für die Schiiten im Libanon. Deren weitgehende Identifikation mit der Hisbollah verschafft der Organisation eine solide Basis öffentlicher Unterstützung, die für ihre politische Langlebigkeit und Macht im Libanon wesentlich ist. Die Bewaffnung der Hisbollah machte den Libanon für den Iran (und Syrien) zu einem Außenposten zu und einer Frontlinie bei ihrer Verteidigung gegen (oder ihrem Angriff auf) Israel. (...)

Die Schwächung der arabischen Staaten stärkte das Profil und die Bedeutung primordialer, sektiererischer und religiöser Identitäten und war verknüpft mit dem Aufstieg nichtstaatlicher Akteure in der gesamten Region. Gestalten wie Bin Laden, Zarqawi und ihre Nachfolger Hisbollah und Hamas (letztere in einer Art Kontrollposition über den Nicht-Staat Palästina) kreierten eine einzigartige Variante chaotischer Staatenlosigkeit. Einige arabische Staaten, insbesondere die sunnitischen Länder Ägypten, Jordanien und Saudi Arabien, sind über den Aufstieg sowohl des Iran wie der destabilisierenden nichtstaatlichen Akteure besorgt. Sie haben im gegenwärtigen Konflikt die Hisbollah für ihr unbedachtes und abenteuerliches Verhalten, einen Kampf mit Israel vom Zaun zu brechen, offen kritisiert. Sie wären nicht unfroh darüber, wenn Israel die Hisbollah zurechtstutzt und damit einen iranischen Klienten schwächt, denn das wäre der erste ernsthafte Rückschlag für den iranisch-schiitischen Aufstieg der letzten Jahre, den sie ernsthaft fürchten.

Auf gewisse Weise wird von Israel erwartet, daß es für sie die Kastanien aus dem Feuer holt. Israel erwartet seinerseits, daß diese arabischen Staaten ihre Unterstützung und ihren Segen für eine neue politische Ordnung im Libanon geben, was die libanesische Regierung und die nicht-schiitische Mehrheit ermutigen würde, der Hisbollah die Flügel zu stutzen. Syrien, das jüngst gezwungen wurde, den Libanon zu verlassen, hat in diesem Konflikt hinter dem Iran die zweite Geige gespielt. Es wäre den Versuch wert, die Möglichkeiten zu eruieren, wie Syrien bei der Stabilisierung des Libanon eingebunden werden könnte. (...)

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint: Die derzeitige Kampagne Israels gegen seine nichtstaatlichen Feinde an seinen beiden Fronten ist ein zentraler Bestandteil von Israels Rückzugsstrategie, nicht ihr Gegenteil. Diese Kampagne beabsichtigt die Herstellung der wesentlichen Voraussetzungen für den israelischen Rückzug: Die Herstellung von Spielregeln für seine Nachbarn, die ein sicheres Israel gewährleisten, ohne daß es zur Wiederbesetzung mit all ihren Gefahren gezwungen wäre.

Falls es Israel nicht gelingt, diese Regeln mittels der Stärkung seiner Abschreckungskraft durchzusetzen, könnte ein Rückzug aus der Westbank unmöglich werden. Das würde wiederum Israel in eine Reihe weiterer existentieller Probleme verstricken, die nicht mit der arabischen Stärke, sondern der eigenen demographischen Verwundbarkeit zusammenhängen.

Asher Susser ist Direktor des Moshe Dayan Center for Middle Eastern and African Studies an der Universität Tel Aviv.



Eine separate Lösung für Gaza

Eine palästinensische Sicht

Interview mit George Giacaman

Bitterlemons: In vielen arabischen Ländern gab es Demonstrationen, bei denen Porträts des Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah hochgehalten wurden. Ist die Hisbollah in der Region eine stärker werdende Kraft?

Giacaman: Es gilt zwei verschiedene Themen zu unterscheiden. Die öffentliche Stimmung ist natürlich gegen die israelische Hegemonie in der Region, gegen die israelische Besatzung, gegen die amerikanische Politik in der Region und für den Widerstand. Dies manifestiert sich in der Unterstützung für Hisbollah oder Hamas, trotz der Tatsache, daß dies islamistische Organisationen sind. Als Widerstand werden sie von der Mehrheit der arabischen Öffentlichkeit unterstützt.

Aber auf Dauer ist überhaupt nicht klar, ob die Hisbollah eine stärkere Kraft wird. Das hängt sehr stark vom gegenwärtigen Konflikt und vom zukünftigen Kurs der Hisbollah ab. Die Gegner der Hisbollah im Libanon werden sie als Ergebnis dieses Konflikts in ihre Schranken verweisen. Zusätzlich wird es von verschiedenen arabischen Seiten, von den USA und natürlich von Israel Versuche geben, die Hisbollah von den anderen Kräften in der Region zu separieren.

Die amerikanische Politik der vergangenen anderthalb Jahre bestand darin, die Brennpunkte voneinander zu trennen: Libanon von Syrien, Syrien vom Iran, Hisbollah von Syrien und Iran sowie Palästina von allen zusammen. Das ist die eigentliche Bedeutung der Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrates. Die Amerikaner gaben der libanesischen Regierung Zeit, 1559 umzusetzen, doch das gelang ihr nicht vollständig; der einzige Erfolg war der Rückzug Syriens. (...)

Bitterlemons:Die Antwort einiger arabischer Regierungen auf die gegenwärtige Eskalation, nämlich die Hisbollah anzugreifen, führte zu einer beispiellosen Welle der Kritik innerhalb der jeweiligen Länder. Erleben wir eine Schwächung dieser Regime?

Giacaman:Einige arabische Regierungen sind seit Jahren mit den USA verbündet. Nun geschah es zum ersten Mal, daß sie die Hisbollah öffentlich kritisiert haben. Es besteht kein Zweifel, daß dies einem großen Teil der Wählerschaft in den Ländern mißfällt, doch bislang wurden diesen Wähler nicht zu einer großen inneren Bedrohung. Nichtsdestotrotz gibt es viel Wut, die sich möglicherweise zukünftig lautstarker artikuliert. (...)

Aber man muß zwischen den Ländern unterscheiden: In einigen Golfstaaten, die sich vom Iran bedroht fühlen, ist die Öffentlichkeit weniger kritisch gegenüber der US-Politik eingestellt, weil sie an ihrem eigenen Überleben interessiert sind. Doch in Ländern wie Ägypten, Jordanien, Syrien und einigen nordafrikanischen Ländern ist die Stimmung anders. Ich denke, Israel möchte den Krieg so schnell wie möglich beenden, doch je länger er dauert und je mehr Szenen der Zerstörung wir sehen, desto mehr wütende Demonstrationen werden wir in arabischen Ländern beobachten.

Bitterlemons:Gaza ist vollständig aus den Schlagzeilen verschwunden. Wie wirkt sich die gegenwärtige Situation in den palästinensischen Gebieten aus?

Giacaman:(...) Eine Reaktion darauf ist die Absicht, ein internes (palästinensisches) Übereinkommen über eine Paketlösung mit den Israelis zu erzielen, inklusive der Freilassung der entführten Soldaten, eines darauf folgenden Gefangenenaustausches und eines Waffenstillstandes von beiden Seiten. Bis jetzt ist diese Übereinkunft nicht festgeklopft, doch scheint die Konsequenz aus der Eskalation im Libanon zu sein: Erstens das Libanonproblem vom Palästinaproblem abzutrennen und zweitens die Situation in Gaza unabhängig von der im Libanon zu verbessern. Das war die erste Reaktion von Mahmoud Abbas und auch von der Hamas in den palästinensischen Gebieten. Es bleibt abzuwarten, was die Exil-Hamas von einem solchen Kompromiß denkt.

Bitterlemons:Über diese Übereinkunft wird innerhalb der verschiedenen palästinensischen Fraktionen verhandelt. Wie wahrscheinlich ist ihr Erfolg, wenn Israel jeden Austausch verweigert?

Giacaman:Ich denke nicht, daß Israel jener Form des Gefangenenaustausches abgeneigt ist, die Berichten zufolge von Ägypten vermittelt werden könnte. Bisher war jedoch das Problem, daß es keine Garantien gab. Es gibt aufgrund vergangener Erfahrungen reichliche Gründe, Israel nicht zu trauen.

George Giacaman ist Direktor des Palestinian Institute for the Study of Democracy in Muwatin.



Sämtliche Übersetzungen aus dem Englischen: Christian Stock.
Diese Beiträge erschienen zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 295.

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https://sopos.org/aufsaetze/453d49a5594bb/1.phtml

sopos 10/2006