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Um das Experiment nach wissenschaftlichen Standards durchzuführen, war es zunächst nötig, das Laboratorium vorzubereiten. Deswegen holte Ariel Sharon als erstes die israelischen Siedlungen, die dort feststeckten, heraus. Wer ein sauberes Experiment plant, kann doch nicht am Laboratorium die gehätschelten Kinder herumlaufen lassen. Die Räumung wurde mit »Entschlossenheit und Sensibilität« vollzogen, Tränen flossen, die Soldaten küßten die vertriebenen Siedler. Noch einmal wurde gezeigt, daß die israelische Armee die allerbeste der Welt ist. Nachdem das Laboratorium gereinigt war, konnte die nächste Phase beginnen: Alle Ein- und Ausgänge wurden hermetisch abgesperrt, um störende Einflüsse der Außenwelt auszuschalten. Das machte einige Schwierigkeiten. Den Bau eines Hafens in Gaza hatten schon frühere israelische Regierungen verhindert, und die israelische Flotte achtet streng darauf, daß sich kein Schiff der Küste nähert. Der prächtige internationale Flughafen Gaza, erbaut zur Zeit der Osloer Verhandlungen, wurde bombardiert und stillgelegt. Der ganze Streifen wurde mit einem hoch effizienten Zaun umgeben. Nur ein paar Übergänge blieben, aber alle werden von der israelischen Armee kontrolliert. Der Rafah-Grenzübergang nach Ägypten konnte nicht ganz abgesperrt werden, sonst hätte man Ägypten als Kollaborateur Israels hingestellt. Eine raffinierte Lösung wurde gefunden: Die israelische Armee verließ scheinbar den Übergang und übergab ihn einem internationalen Überwachungsteam. Seine Mitglieder (darunter Deutsche) sind nette Kerle, voll guter Absichten in der Praxis aber sind sie vollkommen von der israelischen Armee abhängig, die den Übergang aus einem nahen Kontrollraum überwachen. Die internationalen Inspekteure leben in einem israelischen Kibbuz und können den Übergang nur mit israelischem Einverständnis erreichen. So war nun alles für das Experiment vorbereitet. Das Signal für den Beginn wurde nach den einwandfreien demokratischen Wahlen gegeben, die unter der Aufsicht des früheren US-Präsidenten Jimmy Carter abgehalten worden waren. George W. Bush war begeistert: Seine Vision, die Demokratie in den Nahen Osten zu bringen, schien sich zu erfüllen. Aber die Palästinenser bestanden den Test nicht. Statt die »guten Araber« zu wählen, die die USA anbeten, wählten sie die sehr »bösen Araber«, die Allah anbeten. Bush war beleidigt. Die israelische Regierung dagegen war begeistert: Nach dem Hamas-Sieg waren die Amerikaner und Europäer bereit, an dem Experiment teilzunehmen. Es konnte beginnen. Die USA und die EU verkündeten die Sperrung aller Hilfsgelder an die palästinensische Behörde, da sie »von Terroristen kontrolliert« sei. Gleichzeitig sperrte die israelische Regierung den Geldfluß. Was das bedeutet, muß kurz erläutert werden: Gemäß dem Pariser Protokoll (dem wirtschaftlichen Anhang des Osloer Abkommens) ist die palästinensische Wirtschaft ein Teil des israelischen Zoll- und Steuersystems. Das heißt, daß Israel den Zoll auf alle Waren einkassiert, die durch Israel laufen einen anderen Weg gibt es nicht. Nach Abzug eines beträchtlichen Kommissionsanteils ist Israel verpflichtet, den verbleibenden Betrag der Palästinensischen Behörde zu überweisen. Wenn die israelische Regierung sich weigert, dieses Geld, das den Palästinensern gehört, an sie weiterzuleiten, so ist das ganz einfach Diebstahl am hellichten Tag. Aber wer protestiert gegen das Ausrauben von »Terroristen«? Die Palästinensische Behörde in der Westbank und im Gazastreifen braucht dieses Geld wie die Luft zum Atmen. Auch dies bedarf einer Erklärung: In den 19 Jahren unter jordanischer Besatzung der Westbank und ägyptischer im Gazastreifen von 1948 bis 1967 wurde dort keine einzige wichtige Fabrik gebaut. Die Jordanier wollten ihr eigentliches Staatsgebiet östlich des Jordans entwickeln, und nicht minder vernachlässigten die Ägypter den Gaza-Streifen. Dann kam die israelische Besatzung, und die Lage verschlimmerte sich noch. Die besetzten Gebiete wurden zum monopolistisch beherrschbaren Absatzmarkt für die israelische Industrie, und das Militär verhinderte die Errichtung jedes Unternehmens, das möglicherweise mit einem israelischen konkurrieren könnte. Die palästinensischen Arbeiter mußten in Israel für Hungerlohn arbeiten. Von diesem zog Israel wie bei israelischen Arbeitern Sozialversicherungsbeiträge ab ohne daß die Palästinenser je in den Genuß der Sozialhilfe kamen. Auf diese Weise bestahl die Regierung die ausgebeuteten Arbeiter um weitere Dutzende von Milliarden Dollar, die im bodenlosen Faß der Regierung verschwanden. Als die Intifada ausbrach, entdeckten die israelischen Industrie- und Landwirtschaftsbosse, daß man auch ohne palästinensische Arbeiter auskommen kann. Ja, daß es sogar profitabler ist. Arbeiter, die aus Thailand, Rumänien und anderen armen Ländern gebracht werden, arbeiten für einen noch geringeren Lohn und unter Bedingungen, die an Sklaverei grenzen. Die Palästinenser wurden arbeitslos. Das war die Situation zu Beginn des Experiments: Die palästinensische Infrastruktur zerstört, nahezu ohne Produktionsmittel, keine Arbeit für Arbeiter. Alles in allem ein idealer Ausgangspunkt für das große »Experiment Hunger«. Die Ausführung begann, wie erwähnt, mit der Sperrung der Zahlungen. Der Grenzübergang zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten war faktisch geschlossen. Alle paar Tage oder Wochen wird er, um den Schein zu wahren, für ein paar Stunden geöffnet, damit Kranke oder Sterbende nach Hause kommen oder ein ägyptisches Krankenhaus erreichen können. Die Grenzübergänge zwischen dem Streifen und Israel wurde »wegen dringender Sicherheitsgründe« geschlossen. Im richtigen Augenblick kommt immer eine »Warnung«, daß ein Terroranschlag bevorstehe. Palästinensische Produkte, die für den Export bestimmt sind, verfaulen am Übergang. Medikamente und Nahrungsmittel kommen nicht herein, außer zuweilen für kurze Zeitabschnitte, ebenfalls nur um den Schein zu wahren, wenn eine wichtige Persönlichkeit aus dem Ausland ihre Stimme erhebt und protestiert. Rasch folgt eine neue »dringende Sicherheitswarnung«, und die Situation ist wieder wie gehabt. Nicht genug damit, bombardierte die israelische Luftwaffe das einzige Elektrizitätswerk im Gaza-Streifen, so daß es für einen großen Teil des Tages keinen Strom und kein Wasser gibt (denn die Wasserpumpen brauchen Strom). Selbst an den heißesten Tagen mit Temperaturen von über 30 Grad Celsius im Schatten stehen Gefriergeräte, Ventilatoren, Wasserverteiler und andere lebensnotwendige Geräte still, weil ihnen der Strom fehlt. In der Westbank, einem Gebiet, das viel größer ist als der Gaza-Streifen (er macht sechs Prozent der besetzten palästinensischen Gebietes aus, aber mit 40 Prozent der Bevölkerung) ist die Situation nicht ganz so verzweifelt. Mehr als die Hälfte der Menschen im Streifen lebt unterhalb der palästinensischen Armutsgrenze, die viel, viel niedriger liegt als die israelische. Viele Bewohner des Gaza-Streifens können nur davon träumen, so arm wie ein armer Israeli in der nahen Stadt Sderot zu sein. Was versuchen die Regierungen Israels, der USA und Europas, den Palästinensern zu sagen? Die Botschaft ist klar: Ihr kommt an den Rand des Hungers und sogar darüber hinaus, wenn ihr euch nicht ergebt. Ihr müßt die Hamas-Regierung davonjagen und die von Israel und den USA anerkannten Kandidaten wählen. Und was noch wichtiger ist ihr müßt euch mit einem palästinensischen Staat zufrieden geben, der aus verschiedenen Enklaven besteht, die alle von der Gnade Israels abhängen. Im Augenblick grübeln die Ausführenden des wissenschaftlichen Experiments über einer komplizierten Frage: Wie halten die Palästinenser trotz allem durch? Nach allen Hypothesen hätten sie längst aufgeben müssen. Aber es gibt »ermutigende Zeichen« für die Experimentatoren: Die allgemeine Atmosphäre der Frustration und Verzweiflung schafft Spannungen zwischen der Hamas und Fatah. Hier und dort kam es schon zu Zusammenstößen, es gab Tote und Verletzte, manchmal schien ein Bürgerkrieg nahe. Tausende im Verborgenen wirkende palästinensische Kollaborateure versuchen zu provozieren. Aber entgegen den Erwartungen hört der Widerstand gegen Israel nicht auf. Nicht einmal der gefangene israelische Soldat ist entlassen worden. Einer der Gründe liegt in der Struktur der palästinensischen Gesellschaft. Die Hamula (die Großfamilie) spielt hier eine zentrale Rolle. Solange ein Familienmitglied arbeitet, verhungern auch die Verwandten nicht, obwohl Unterernährung weit verbreitet ist. Wer irgendein Einkommen hat, teilt es mit seinen Brüdern und Schwestern, Eltern, Großeltern, Cousins und deren Kindern. Das ist ein einfaches System, aber unter solchen Umständen sehr wirksam. Die Planer des Experiments scheinen damit nicht gerechnet haben. Um den Prozeß zu beschleunigen, wurde dieser Tage noch einmal die ganze Wucht der israelischen Armee eingesetzt. Drei Monate lang war sie mit dem zweiten Libanon-Krieg beschäftigt gewesen. Dabei stellte sich heraus, daß die Armee, die während der letzten 39 Jahre hauptsächlich als Kolonialpolizei beschäftigt war, nicht funktioniert, wenn sie plötzlich mit einem trainierten und bewaffneten Gegner konfrontiert ist, der zurückschlagen kann. Gegen Panzertruppen setzte die Hisbollah tödliche Panzerabwehrwaffen ein, Granaten regneten in den Norden Israels. Die Armee hatte seit langem vergessen, wie man sich gegenüber solch einem Feind verhält. Und der Feldzug endete unbefriedigend. Jetzt kehrt die Armee zu dem Krieg zurück, den sie kennt. Die Palästinenser im Gaza-Streifen haben (noch) keine Panzerabwehrraketen, und ihre Qassam-Geschosse richten nur begrenzten Schaden an. Die Armee kann also wieder ungehindert Panzer gegen die Bevölkerung einsetzen. Die Luftwaffe, deren Hubschrauber-Besatzungen sich fürchteten, Verletzte aus dem Libanon herauszuholen, kann nun wieder nach Lust und Laune Raketen auf Häuser »gesuchter Personen«, ihrer Familien und Nachbarn abfeuern. In den letzten drei Monaten waren »nur« 100 Palästinenser pro Monat getötet worden, jetzt steigen die Zahlen der Toten und Verletzten dramatisch an. Ist es vorstellbar, daß eine vom Hunger geplagte Bevölkerung, der auch Medikamente und die medizinischen Apparate für ihre einfachen Krankenhäuser fehlen, durchhält und auch den Angriffen vom Land, vom Meer und aus der Luft widersteht? Wird sie nachgeben? Wird sie auf die Knie gehen und um Gnade bitten? Oder wird sie eine übermenschliche Kraft finden und die Prüfung bestehen? Was und wie viel ist nötig, bevor sich eine Bevölkerung ergibt? Alle, die an dem Experiment teilnehmen Ehud Olmert und Condoleezza Rice, Amir Peretz und Angela Merkel, Dan Halutz und George Bush, vom Friedensnobelpreisträger Shimon Peres ganz zu schweigen sind über Mikroskope gebeugt und warten auf eine Antwort, die zweifellos ein wichtiger Beitrag für die politischen Wissenschaften sein wird. Ich hoffe, auch das Nobelpreis-Komitee beobachtet das genau. (Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Erschienen in Ossietzky 21/2006 |
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