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Aufschwung am Arbeitsmarkt?Die PolikerInnen der Großen Koalition in Berlin bejubeln sich selbst: Auf dem Arbeitsmarkt sei ihnen die Wende zum Positiven gelungen, laut Nürnberger Arbeitsagentur sei jetzt die Zahl der Erwerbslosen im Vergleich zum Vorjahr deutlich gesunken. Und in den meisten Massenmedien wird diese frohe Botschaft unkritisch nacherzählt. Tatsächlich handelt es sich um Propaganda, und zwar ziemlich plumpe. Denn die statistischen Kriterien wurden inzwischen so geändert, daß nun EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld II, die mit Ein-Euro-Jobs etwas dazuverdienen, aus der Zahl der Erwerbslosen herausfallen. Berücksichtigt man diese Personengruppe und bedenkt deren reale Lage, so bleibt von der »Wende« nichts mehr übrig. Außerdem ist zu beachten, um welche Art von Beschäftigung es dort geht, wo »Arbeitsmarktfortschritte« gemeldet werden: vorwiegend Minijobs, geringfügige Beschäftigung, Zeitarbeit – Arbeitsverhältnisse also, von denen die Beschäftigten nicht leben können. »Aufschwung« in der Statistik, Abrutschen in der sozialen Wirklichkeit – da kann man nur einen altbekannten Spruch abwandeln: Die Regierenden sollten nicht einmal den statistischen Zahlen trauen, die sie selbst gefälscht haben. Anne Winken
Geld ist genug da …wird Ulrike Merten MdB gedacht haben, die sozialdemokratische Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag. Also verlangte sie zusätzliche Etatmittel für die Bundeswehr. Im Bundeshaushalt 2007 sind 28,4 Milliarden für militärische Zwecke vorgesehen, bis 2009 soll eine Milliarde Euro hinzukommen, außerdem gibt es verdeckte Militärposten in den Etats anderer Ressorts. Aber das alles, sagt die SPD-Wehrexpertin, reicht nicht hin, schließlich muß die Bundesrepublik nicht nur am Hindukusch, sondern an immer mehr Plätzen weltweit verteidigt werden. Kann sich der deutsche Staat das leisten? Zweifellos, er muß nur noch strenger an Sozialleistungen sparen. Zu bedenken ist auch, daß die deutsche Rüstungswirtschaft Gewinne machen will, was ständig neue Aufträge erfordert. Da kennt sich Ulrike Merten aus, denn sie gehört zum Vorstand der »Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik«, dort nimmt sie laut Visitenkarte dieser Vereinigung »Verbindungen zur Politik« wahr, und ein Vorstandskollege ist zuständig für »Verbindungen zur Großindustrie«. Ulrike Merten ist eines der Politiktalente, die aus der früher innerparteilich links angesiedelten ostwestfälisch-lippischen SPD hervorgegangen sind, so wie Klaus Brandner, Rainer Wend und Axel Horstmann. Sie hat noch im Orts-, Kreis- und Bezirksvorstand ihrer Partei geackert, und in den Zeiten ihres Aufstiegs galt sie als aufmüpfig, als eine, die aus Schwertern Pflugscharen machen wollte. Inzwischen weiß sie, daß die Verwandlung umgekehrt leichter zu bewerkstelligen ist, auch wenn rätselhaft bleibt, wie die gelernte Drogistin so viel militärischen Sachverstand sammeln konnte. Ob Ulrike Merten vielleicht noch Verteidigungsministerin wird? In der Parteipolitik ist vieles möglich geworden, was vor etlichen Jahren noch undenkbar war. Wenn nicht, wird die Wehrwirtschaft ihre Politikerfahrung zu schätzen wissen. Übrigens gehört Ulrike Merten dem »Seeheimer Kreis« in der SPD an, den Johannes Kahrs MdB leitet. Der ist jüngst ins Gerede gekommen, weil ruchbar wurde, daß Rüstungsfirmen seinen Wahlkampf gesponsert haben. Im Haushaltsausschuß des Bundestages ist Kahrs als Berichterstatter seiner Fraktion für Wehrfragen tätig, das heißt: als Sachverständiger für Rüstungsgeschäfte. So fügt sich zusammen, was zusammengehört. Arno Klönne
Eine andere VerfassungAnfang 2007 wird Angela Merkel Rats-präsidentin der Europäischen Union. Schon wird spekuliert, wie sie dann die gescheiterte EU-Verfassung zum Leben erwecken könnte. Über den Inhalt dieser Verfassung und über die Vorteile, die sie den Bürgern brächte, erfahren wir genau so wenig wie 2005, als der Entwurf in Deutschland vom Parlament abgenickt, in Frankreich und den Niederlanden aber nach intensiver öffentlicher Diskussion durch Volksabstimmungen verworfen wurde. In Deutschland werden Bürgerinitiativen noch viel Aufklärungsarbeit leisten müssen. Dazu eignen sich zwei Filme von Elke Zwinge-Makamizile. 2005 brachte sie den Film »Europa in schlechter Verfassung« heraus, jetzt ist ihr neuer fertig, der von einem Gegenbeispiel handelt: »Venezuela in guter Verfassung«. Als Hugo Chavez an die Regierung kam, versprach er dem Volk eine neue Verfassung. Er hielt sein Versprechen. Nach breiter Diskussion in der Öffentlichkeit wurde die Verfassung formuliert und im Jahre 2000 durch eine Volksabstimmung in Kraft gesetzt. Das allein ist schon vorbildlich; die bundesdeutsche Verfassung wurde nie durch das Volk legitimiert. Der Film zeigt, wie gut in Venezuela die Bevölkerung über ihre in der Verfassung garantierten Rechte informiert ist. Und wie sie sie erfolgreich verteidigte, als 2002 die alte Oligarchie des Landes den Präsidenten durch einen Putsch stürzen wollte. Der Film kommt zur rechten Zeit. Eine andere Verfassung für Europa als die von hiesigen Oligarchen vorbereitete ist möglich. Venezuela zeigt, wie es geht. Der 30-Minuten-Film, auf DVD oder VHS erhältlich, kostet 10 Euro und kann bei bestellt werden. Hans-Peter Richter Die Bezugsadresse lautet: elkezwinge@gmx.de
Nur Langeweile?Richard Meng, Hauptstadtkorrespondent der Frankfurter Rundschau und neuerdings Mitglied ihrer Chefredaktion, ist ein gescheiter Beobachter und Analysierer – einer, der nicht einfach nachplappert. Insofern kann man auf sein Buch »Merkelland – Wohin führt die Kanzlerin?« gespannt sein. Beim Lesen aber läßt die Spannung leider schnell nach, denn über viele Seiten denkt er darüber nach, ob es bei Angela Merkel »überhaupt ein inhaltliches Interesse, einen klaren Kompaß gebe«, konstatiert »Substanzmangel«, spricht von »Vermeidungsdemokratie«. Es fehle an Ideen und an einem Programm, von Merkel erwarte man nichts und befürchte nichts, im Land mache sich »Ödnis«, »Langeweile« breit. Wenn ein Autor seinen Gegenstand für langweilig erklärt, wird irgendwann das Lesen langweilig. Bei mir regt sich zudem Mißmut, wenn Meng beanstandet, Merkel werde es mangels intellektueller Überzeugungskraft und persönlichen Charismas nicht schaffen, eine »Führerin« zu werden. Oder wenn er als seinen Hauptwunsch äußert, daß wieder »entschiedenere Politik« möglich werde. Das alles könnten Paul Kirchhof oder Hans-Werner Sinn oder Arnulf Baring genauso sagen. Und Roland Koch liest es sicher gern. Viel zu spät, viel zu knapp, viel zu schwach läßt Meng erkennen, daß er selber noch inhaltliche Kriterien hat: Gerechtigkeit im Innern, Gerechtigkeit zwischen den Staaten. Von dieser Position her hätte ihm eine konkretere, nützlichere Kritik gelingen können. Er hätte sich dann mit materiellen Interessen auseinandersetzen müssen, die auf die Politik einwirken – und das Buch wäre sicher interessanter geworden. Schmunzeln konnte ich darüber, wie er einige Spitzenpolitiker in Merkelland vorstellte: den »Schröderisten« Steinbrück, den »Sozialdemokraten« Seehofer. Lafontaine bleibt in diesem Buch unerwähnt. Die Linkspartei kommt kaum mehr als in einem Nebensatz vor. In Mengs Wahrnehmung des Merkellandes spielt sie offenbar keine Rolle. Liegt das an ihm, an ihr, an beiden? Die Große Koalition braucht – nicht nur parteipolitischen – Druck von links, und zwar in der Öffentlichkeit. Wenn Journalisten die Linke wie Luft behandeln, nützen sie der Rechten. Aber auch die Journalisten selber brauchen Druck von links, um nicht einzuschlafen und die Demokratie miteinschlafen zu lassen. Woran also mangelt es? E. S. Richard Meng: »Merkelland«, Kiepenheuer & Witsch, 280 Seiten, 8.95 €
PresseratDer Deutsche Presserat wird 50. Sollen wir gratulieren? Erinnern wir besser an seine Entstehungsgeschichte: Die Verleger – darunter manche, die bis 1945 Goebbels-Propaganda verbreitet und daran verdient hatten – wollten in ihren Unternehmen weder journalistische Selbst- noch Mitbestimmung (eine Ausnahmeregelung im Betriebsverfassungsgesetz bewahrt sie davor) noch gesellschaftliche Kontrolle zulassen. Deswegen boten sie an, mit Journalisten in einem zentralen Selbstkontrollgremium zusammenzuwirken, bei dem sich Leser beschweren dürfen. Das Schlimmste, was einer Zeitung oder Zeitschrift aufgrund einer Beschwerde passieren kann, ist, daß sie einige Wochen oder Monate nach der beanstandeten Veröffentlichung – die Beratungen im Presserat brauchen ihre Zeit – eine Rüge des Presserats verabdrucken muß. Also wenn die beanstandete Veröffentlichung längst ihre Wirkung getan hat. Entscheidungsgrundlage ist der »Pressekodex«, der unter anderem gebietet, »das sittliche oder religiöse Empfinden einer Personengruppe« zu achten. Schon vor vielen Jahren brachte ich – damals Mitglied des Presserats – den Antrag ein, auch Propaganda für einen Angriffskrieg zu ächten. Abgelehnt. Sonst hätte er inzwischen viel zu rügen gehabt. Die Pressefreiheit als Grundrecht aller BürgerInnen, wie es in der Verfassung steht (da finden sich viele schöne Sachen, immer noch), ist faktisch aufgehoben durch den Anspruch des Monopolverlegers, kraft seines Eigentumsrechts zu entscheiden oder von seinen Beauftragten entscheiden zu lassen, was veröffentlicht wird und was nicht. Und wie er die Pressefreiheit als sein Individualrecht beansprucht, so verteidigt er insgesamt die bestehenden Besitz- und Machtverhältnisse; das ist seine zenrale gesellschaftliche Funktion. Wenn wir diese Perversion der Pressefreiheit weiter akzeptieren, wird die tägliche Verhetzung und Irreführung von Millionen Bild -Lesern – auch die nächsten 50 Jahre Presserat überdauern. Ich will nicht bestreiten, daß sich im Presserat einige gutwillige Kollegen wirklich Mühe geben. Aber wozu? Respekteinflößende Selbstauskünfte erteilt der Presserat mit seinem »Jahrbuch 2006«, UVK Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 102051, 78420 Konstanz, 320 Seiten, 29 Euro. Die Jubiläumsfeier wird unter Mitwirkung des Bundespräsidenten und unter strengen Sicherheitsvorkehrungen am 20. November in Berlin stattfinden. Eckart Spoo
Die Journalisten streiken weiterAn Selbstbewußtsein fehlt es den Verlegern nicht. In Italien ist seit mehr als eineinhalb Jahren der Tarifvertrag für die Journalisten abgelaufen, aber noch immer bequemt sich der Verlegerverband (FIEG) nicht an den Verhandlungstisch, an den der neue Arbeitsminister Cosimo Damiano die Tarifparteien gebeten hat. Daher hat der Journalistenverband (FNSI) für die kommenden Wochen zwölf weitere Streiktage angekündigt, nachdem schon im vergangenen Jahr sieben mal gestreikt worden war (s. Ossietzky 1/06). Das ist selbst im streikgewohnten Italien außergewöhnlich. Im wesentlichen geht es um angemessene Bezahlung und Veränderungen im Arbeitsrecht. Die Streiks finden in unterschiedlichen Formen und zu unterschiedlichen Zeiten in allen Medien statt: Zeitungen, Radio, Fernsehen, Pressebüros und Online-Dienste. Inzwischen hat sich nämlich überall ein solcher Wildwuchs an prekären Arbeitsverhältnissen ausgebreitet, daß sogar Staatspräsident Giorgio Napolitano aus Sorge um die Pressefreiheit die Stimme erhob: »Zu den elementaren Rechten, die den Journalisten zustehen, gehört auch das auf einen Tarifvertrag, der regelmäßig verlängert wird.« Viele Journalisten, vor allem jüngere, arbeiten inzwischen ohne tarifvertraglichen Schutz. Die meisten verdienen als »Selbständige« im Durchschnitt weniger als 7.000 Euro pro Jahr. Das Honorar beträgt meist nicht mehr als 20 Cent pro Zeile. Auch Journalisten mit jahrelanger Berufserfahrung müssen sich von einem Zeitvertrag zum anderen hangeln. Eingesessene Redakteure, die vor diesem Elend lange die Augen verschlossen, werden nun selber von den Verlegern gegen diejenigen ausgespielt, die bereit sind, für fast nichts zu schreiben. Doch jetzt regt sich auch in den Redaktionen Widerstand, und es wächst gemeinsame Streikbereitschaft – obwohl in Italien die Gewerkschaften kein Streikgeld zahlen, die Verdiensteinbuße also allein zu Lasten der Streikenden geht. Aus Solidarität beteiligen sich auch die Beschäftigten der kommunistischen Tageszeitung Il manifesto an den Streiks, obwohl sie als selbständiges Kollektiv mit 1.200 Euro Einheitslohn nicht dem Tarifvertrag unterstehen. Diese Zeitung, abseits vom Anzeigenmarkt, von Inserenten unabhängig, hat in ihrer 35jährigen Geschichte viele Krisen überstanden, aber jetzt ist ihre ökonomische Basis so schmal geworden, daß ihre Existenz auf dem Spiel steht. »Das manifesto muß weiterleben« rufen lokale Freundeskreise auf. Seit Juli haben sie fast 1,7 Millionen Euro gesammelt. Das reicht vorerst, um Löcher zu stopfen, aber überwunden ist die Krise noch längst nicht. Ihr Fortgang wird auch vom Staatshaushalt 2006 abhängen. Aus einem staatlichen Fonds erhielt die genossenschaftliche non-profit-Presse bisher 170 Millionen Euro jährlich. Unter Berlusconi wurde beschlossen, den Fonds auf 98 Millionen Euro zusammenzustreichen; zudem kam heraus, daß Zuschüsse aus diesem Fonds auch an Medien flossen, die nicht die Kriterien erfüllten, darunter ein börsennotiertes Blatt. Berlusconis Blätter erscheinen trotz Streiks, seine Sender verstummen nicht. In ihrer Haushaltsberichterstattung empören sie sich über den »Klassenkampf gegen die Mittelschichten« – was im Hinblick auf Berlusconis Milliardenvermögen geradezu rührend wirkt. Überhaupt sind die Zeitungsverleger nach dem jüngsten FIEG-Bericht nicht so arm dran; im Zeitraum von 2000 bis 2004 stiegen ihre Überschüsse – ermittelt in 59 Betrieben – um 23 Prozent. Streiks in den Medien – Zeit für Bücher? Tucholsky riet 1931, aufs Radio zu verzichten, denn es produziere wie der Film »chemisch gereinigtes Zeug, das seinen Naturgeschmack verloren hat«. Er empfahl: »Lest Bücher! Sie sind kleine Inseln der Freiheit (…)« Susanna Böhme-Kuby
Wer die Schule hat …Die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft lud auf ihrer Jahrestagung in Minden (Westfalen) zu einem Erfahrungsaustausch ein, ob und wie der Geist Tucholskys an den Schulen lebt, die sich mit seinem Namen schmücken. Die Teilnehmer machten zunächst eine unerfreuliche Erfahrung: Die Tucholsky-Schulen waren nur zur Hälfte vertreten. Aber es kam auch viel Anregendes zur Sprache. Die Gedichtszeile »Wer die Schule hat, hat das Land« aus dem Jahre 1919 drückt Tucholskys eigene Erfahrung in einem Bildungswesen aus, das die Her-anwachsenden zur Kaisertreue und zu der Bereitschaft erzog, beglückt den Heldentod zu erleiden. Aus Lesebüchern lernte die Jugend: »Sterb‘ ich in Feindesland, es ist nicht schad‘, seh‘ ich nur unsere Fahnen weh'n auf Belgerad.« Von Kind auf hatten die Schüler in Reih und Glied zu stehen, wenig zu fragen und alle Vorgaben auszuführen. Eigene Meinung war kaum gefragt und noch weniger gelitten – was wunder, daß der eigenwillige und sensible Tucholsky bald in Konflikte geriet. Sie verstärkten sich, als der Vater 1905 gestorben war und Mutter Doris – selbst Lehrerin und den damaligen Erziehungsmethoden aus Überzeugung verbunden – das Regiment über drei Kinder allein in die Hand nehmen mußte. Die Schwierigkeiten in der Schule führten zu Schulwechsel und Privatunterricht. Ein Segen war, daß sich der Reformpädagoge Wilhelm Kraßmöller mit unkonventionellen Methoden des fast gescheiterten Knaben annahm, ihn aufs Abitur vorbereitete und durch die Prüfung schleuste. »Wer die Jugend hat, hat das Land« beginnt das Gedicht »Die Schule«, das Tucholsky unter seinem Pseudonym Kaspar Hauser 1919 in der Weltbühne erscheinen ließ. Es folgen die Zeilen: »Unsere Kinder wachsen uns aus der Hand. / Und eh wir uns recht umgesehn, / im Handumdrehn, / sind durch die Schulen im Süden und Norden / aus ihnen rechte Spießbürger geworden«. Der Konferenzablauf in Minden war minutiös geplant, aber es kam etwas dazwischen: Die »Freien Kameradschaften« hatten – erstmalig in Ostwestfalen – einen Aufmarsch angekündigt; Friedensaktivisten, Kirchenvertreter, Gewerkschaften, Parteien mit dem Bürgermeister an der Spitze hatten zu einer Gegendemonstration und einem an-schließenden Kulturfest aufgerufen. Die Tagungsteilnehmer beschlossen, an beiden Veranstaltungen mitzuwirken. Tucholsky-Texte wie »An das Publikum« und »Rosen auf den Weg gestreut« halfen, den Neonazis eine Abfuhr zu erteilen. Die gastgebende Mindener Tucholsky-Gesamtschule beteiligt sich seit Jahren an den Projekten »Schule gegen Rassismus« und »Schule mit Courage«, unterrichtet Behinderte und Nichtbehinderte in Integrationsklassen, schult Schlichter für Streitigkeiten zwischen Schülern, hat mit der »Tucholsky-Bühne« die größte und aktivste Theatergruppe der gesamten Region hervorgebracht und unterhält enge Kontakte zu ausländischen Schulen. Unterstützt wird sie seit Jahren von Tucholskys Großcousine Brigitte Rothert, der die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft jetzt die Ehrenmitgliedschaft verlieh. Eindrucksvoll war der Bericht der Krefelder Tucholsky-Schüler, wie sie gegen die Ablehnung ihres Gedenkprojekts »Stolpersteine« durch den Stadtrat vorgingen. Sie initiierten ein Bürgerbe-gehren und sammelten mehr als 14.000 Unterschriften, wodurch das Quorum übererfüllt war. Der Stadtrat mußte nochmals Farbe bekennen – diesmal für das Projekt. Die Lokalzeitungen gingen fast täglich darauf ein und brachten viele Leserzuschriften. Es tat den Schülern und der Schule gut, an einem kommunalpolitischen Erfolg beteiligt zu sein. Wolfgang Helfritsch
Günther Schwarberg zum 80.Mit Günther Schwarberg, dem fast Gleichaltrigen, verbindet mich ein Gefühl der Verpflichtung, die Verbrechen der uns vorangegangenen Generation und die Versäumnisse der folgenden aufklären und öffentlich machen zu müssen. Es sind nun wohl fast 40 Jahre, also die Hälfte des Lebens, die wir uns kennen und als politische Menschen nahestehen. Gut zu wissen, daß es den anderen noch gibt, daß er den gleichen kritischen Standort gegenüber dem faschismusanfälligen Zeitgeist und seinen Machern einnimmt und, sooft die eigenen Kräfte und die gebotenen Publikationsmöglichkeiten es erlauben, öffentlich widerspricht. Ich wünsche ihm zum 80., daß er noch lange als kämpferischer Aufklärer aktiv bleiben kann und daß seine Stimme unsere Zeitgenossen auch wirklich erreicht, damit sie noch rechtzeitig begreifen, wo der Feind steht und was geschehen muß, um Demokratie und Menschlichkeit nicht ein zweites Mal untergehen zu lassen. Die Ossietzky- Redaktion schließt sich diesen Wünschen an und weist auf einige in einer Taschenbuch-Reihe des Steidl-Verlags erschienene Schwarberg-Titel hin: »Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm«, »Meine zwanzig Kinder«, »Angriffsziel Cap Arcona«, »Der letzte Tag von Oradour«, »Der Juwelier von Majdanek«, »Dein ist mein ganzes Herz«, »Die letzte Fahrt der ›Exodus‹« und »Die Mörderwaschmaschine«. Man sollte sie alle gelesen haben.
Biermann, Havemann, EppelmannMitte der 1960er Jahre – der Ostermarsch für Abrüstung und Demokratie war eine starke Bewegung geworden – luden wir Wolf Biermann (Berlin-Ost) und Wolfgang Neuss (Berlin-West) nach Frankfurt am Main ein. Neuss gefiel mir, Biermann nicht. Seinen antiautoritären Posen mißtraute ich. Am meisten mißfiel mir ein Lied, das viel beklatscht wurde: Soldaten seien alle gleich, lebendig und als Leich. Es war die Zeit des Vietnamkriegs. Ich sagte, man dürfe die Vietnamesen, die ihr Land verteidigen, nicht mit den US-Amerikanern gleichsetzen, die es zerbomben. Verriet Biermann nicht seinen eigenen, von den Nazis ermordeten Vater, der sich für die Verteidiger der spanischen Republik engagiert hatte?
Mitte der 1970er Jahre bat der damalige Staatssekretär im Kanzleramt und Ständige Vertreter der BRD in der DDR, Günter Gaus, den damaligen Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes, Carl Amery, und mich als Vorsitzenden der Journalisten-Union ein, uns vor Aufnahme offizieller Kontakte zu DDR-Organisationen mit ihm zu treffen. Wollte er uns etwa Verhaltensmaßregeln oder gar Aufträge erteilen? Er erzählte sehr ver-gnügt: Wie sich die DDR-Intellektuellen zu seinen regelmäßigen Empfängen drängelten. Und wie er fast jeden Mittag mit Margot Honeckers Milchbruder Wolf Biermann verbringe, der gleich gegenüber der Ständigen Vertretung wohne, einige Treppen hoch. Ich überlegte, ob das der Verständigung zwischen beiden Staaten diene, behielt diese Überlegung aber für mich. Spätere Nachrichten von Biermann – der es in jüngster Zeit zum Kriegshetzer zugunsten der US-Regierung gebracht hat – überraschten mich nicht. Damalige Kampagnen solcher notorisch antisozialistischer Blätter wie des Spiegel , die so taten, als wünschten sie nichts sehnlicher, als Biermann, Havemann und andere Dissidenten beim Aufbau eines besseren Sozialismus zu unterstützen, konnte ich nur als heuchlerisch empfinden. Das einzige Interesse, das diese Medien an beiden hatten, war, die DDR in möglichst große Schwierigkeiten zu bringen. Der Verlag edition ost hat jetzt ein Buch über Biermann und Havemann herausgebracht, das den DDR-Behörden immer wieder bescheinigt, sie hätten sich nicht gerade souverän und klug verhalten, als sie meinten, die öffentlichen Provokationen des zum Philosophen gewordenen Chemikers Havemann und seines Schwiegersohnes Biermann (der mehrere Schwiegerväter hatte, aber keinen, der ihm und dem er so nahestand) mit Überwachung, Isolierung, Ein- oder Aussperrung bekämpfen zu sollen, was ihnen auch mit noch so großem Personal- und Kostenaufwand nicht gelingen konnte – mit solchen Methoden vergrößerten sie nur die Kalamitäten ihres Staates. Gegen westliche Medienmacht, hinter der die gesamte Kapitalmacht steht, war ohnehin schwer anzukommen in einer Phase des Kalten Krieges, in der der Kampf um die Köpfe zum Hauptkampf geworden war. Vom früheren Nimbus der einstigen Hauptdissidenten bleibt bei der Lektüre des Sammelbandes wenig übrig. Ingeborg Rapoport berichtet über Havemann als faulen, im Umgang mit zu beurteilenden Studenten unkorrekten und herzlosen Universitätslehrer. Hans Heinz Holz bewertet Havemanns »Dialektik ohne Dogma« als Platitüdensammlung. Von Peter Hacks lesen wir bis ins Jahr 1966 zurückreichende Auseinandersetzungen mit Biermann-Texten. Dietrich Kittner steuert (zuvor in Ossietzky erschienene) Erinnerungen an Biermanns Vorbereitungen auf die Übersiedlung von Ost nach West bei (die mit Biermanns Empörung über die Ausbürgerung schwer zu vereinbaren sind). Zu den Autoren gehört auch der Schriftsteller Dieter Schubert, der nach der Ausbürgerung Protest-Unterschriften von DDR-Künstlern sammelte und zur britischen Nachrichtenagentur Reuters' brachte. Und ehemalige Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit. Mit mit viel Detailkenntnis und zugleich großer Vorsicht stellen sie Fragen unter anderem nach Havemanns angeblicher Widerstandstätigkeit gegen das Nazi-Regime, nach dem nicht vollstreckten Todesurteil gegen ihn, nach seiner Tätigkeit als Abwehrbeauftragter der Gestapo, nach möglicher Beteiligung an Giftgasforschung, nach seiner Zusammenarbeit mit US-amerikanischen und sowjetischen Diensten. Erst wenn auch Akten westlicher Geheimdienste, die unter Verschluß liegen, geöffnet würden, wären vergleichende Untersuchungen möglich. Manche Stellen des Buches sind zum Lachen. Etwa wenn geschildert wird, wie Havemann, der selber das MfS mit Informationen über Personen in seinem beruflichen und privaten Umfeld beliefert hatte und vermutlich auch mit anderen Geheimdiensten verbandelt war, später bei Ausfahrten vom MfS eskortiert wurde, als wäre er ein Staatsgast. Oder wie Pfarrer Eppelmann bei Havemanns Beerdigung meinte, die Kommunistenfaust ballen zu sollen. Ach ja, Eppelmann. 1988 lud mich die FDP zu einem konspirativen Frühstück in einer Privatwohnung mit dem Ostberliner Pfarrer ein; es nahmen noch zwei andere bundesdeutsche Journalisten teil. Eppelmann trug seine proletarische, an Lenin erinnernde Mütze und erklärte uns: In Polen habe alles gut geklappt, weil die westlichen Medien Walesa als Revolutionshelden aufgebaut hätten – nur deswegen. Einen Revolutionsführer brauche man nun auch in der DDR. Er, Eppelmann, sei bereit, diese Rolle zu übernehmen. Nun liege es an uns, ihn täglich – zu jeder Uhrzeit – anzurufen, er werde dann zu jedem Thema Stellung nehmen. Er gab uns zu diesem Zweck zwei Telefonnummern. Ich machte keinen Gebrauch von ihnen. Später erlebte ich ihn als forschen Minister für Abrüstung und Verteidigung der abzuwickelnden DDR, bevor er zum Bundespolitiker wurde und an der Militarisierung der Bundespolitik mitwirkte. Eine freundliche Erinnerung an Havemann sei noch angefügt: 1956 erzählten mir zwei seiner Studenten begeistert von den Karnevalsfesten im Keller seines Institutsgebäudes. Prompt fuhr ich hin – was damals zwischen West-, wo ich studierte, und Ost-Berlin noch ganz einfach war. Ja, man vergnügte sich. Aber der »Rote Zinnober« in der West-Berliner Hochschule für Bildende Künste war ungleich attraktiver. E.S. Robert Allertz (Hg.): »Sänger & Souffleur – Biermann, Havemann und die DDR«, edition ost, 192 Seiten, 12.90 €
Politik mit DossiersVorausgesetzt, daß der gesellschaftliche Fortschritt auf parlamentarischem Wege kommt, dann hat Werner Bramke sicher recht, wenn er schreibt: »Nur eine wieder dem demokratischen Sozialismus verpflichteet SPD und eine starke Linkspartei können zusammen eine politische Wende in der deutschen Politik erzwingen.« Aber wie könnte die SPD dazu gebracht werden, sich wieder dem demokratischen Sozialismus zu verpflichten, von dem sich ihre tonangebenden Politiker weit entfernt haben? Durch die Linkspartei? »Rot-rote« Koalitionen der letzten Jahre haben kaum Hoffnung gelassen. Der Historiker Bramke, von 1979 bis 2003 Professor an der einstigen Karl-Marx-Universität Leipzig, machte seine Erfahrungen mit dem Parlamentarismus als parteiloses Mitglied der PDS-Fraktion im sächsischen Landtag. Sein Nachdenken wurde besonders durch eine anonyme Zuschrift mit der Notiz »Jedes Schwein wird aufgespürt und abgestochen« in Gang gesetzt, die er an seine Universitätsadresse bekam. In seinem Buch hat er ein Kapitel überschrieben: »Der Schatten des MfS«. Hier zeigt der Autor, daß die Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes weitgehend unkontrollierten Gebrauch von den Akten machen. Weidlich nutzen sie ihre Vollmachten aus, um zum Beispiel bestimmte Medienvertreter immer wieder mit Dossiers über politisch mißliebige Personen zu versorgen. Für den Autor ist das ein Teil der Krise der Demokratie. Karl-H. Walloch Werner Bramke »Die Krise der Demokratie«, Faber & Faber, 260 Seiten, 18 €
Walter Kaufmanns LektüreHier wurde einem guten Buch ein verquerer Titel gegeben. »Augenblicke meines Lebens« wäre schlichter gewesen, auch treffender, denn »blöde« sind selbst die Begebenheiten in der Titelgeschichte nicht, eher traurig, anrührend. Und was die weiteren dreiundzwanzig Abschnitte angeht, die alle vortrefflich erzählt sind: Keiner davon mutet »blöde« an. Unverwechselbare Männer und Frauen tauchen aus der Erinnerung der Autorin auf. Wie dieser Ritterkreuzträger, Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft, stolzer Deutscher und verbissener Russenfeind, für den die junge Studentin S. so entbrennt, daß sie jedes Opfer für ihn bringen würde, der aber dann, gänzlich unerwartet, sang- und klanglos verschwindet. Erst lange später wird er aus dem Westen von sich hören lassen, nach »erfülltem Auftrag« – was für ein Auftrag das wohl gewesen sein mag? Oder jener preisgekrönte bulgarische Dichterfürst, Schmied betörender Verse, der (verehrt, verwöhnt, verweichlicht) zu einem Schatten seiner selbst mutiert war. Schön, wie hier über die Begegnung hinaus ein Blick in die Weite vermittelt und bulgarisches Leben vielfältig gezeigt wird. Und was erfahren wir nicht alles über DDR-Zeiten und die Zeit danach allein durch Einblicke in die freundschaftliche Zusammenarbeit zweier Frauen: der Steineckert und der Neutschel. Überzeugend, wie die Sängerin in all ihrer Eigenwilligkeit, all ihrer Widersprüchlichkeit beschrieben wird. Charakterisierungen von solcher Genauigkeit finden sich oft im Buch. Die Vokabel »blöde« hat allerdings ihre Berechtigung, wenn Gisela Steineckert vom Palast der Republik und der Idee spricht, »ein Haus abzureißen, nur weil sich die Leute darin wohlgefühlt haben und eine Volkskammer darin tagte.« Gut gebrüllt, Löwin! W. K. Gisela Steineckert: »Die blödesten Augenblicke meines Lebens«, Verlag Neues Leben, 224 Seiten, 12.90 €
Eine akzeptable Frau?Seitdem sich Sabine Kebir in einer öffentlichen Streitschrift 1987 zu Brecht als einem »akzeptablen« Mann bekannt hatte, lassen sie dessen Partnerinnen nicht los. So erschienen 1997 ein Porträt von Elisabeth Hauptmann und 2000 die Biographie der Weigel. Die jüngste Arbeit behandelt wohl die komplizierteste Beziehung, die Brecht einging und der er trotz vieler Belastungen treu blieb. Ruth Berlau war, als sie sich kennenlernten, eine sehr attraktive Frau, die ihm auch dank ihres Bekanntenkreises in Dänemark so manche Tür öffnen konnte. Um ihm nahe zu sein, übernahm sie alle Rechte und Pflichten der Mitarbeiterin und Geliebten. Kurz vor Brechts Tod hatte die alkoholkranke, von vielen Mitarbeitern des Berliner Ensemble nur noch als lästig empfundene Regisseurin und Fotografin Brechtscher Werke gerade eingewilligt, sich in Dänemark auf Brechts Kosten ein Haus zu kaufen. So sollte eine Art Beziehungsruhe und Erholung für beide Seiten geschaffen werden. Da lag ein bewegtes Leben hinter ihr, denn nach Skandinavien folgte die Berlau bekanntlich Brecht und den Seinen ins amerikanische Exil, gebar dort den toten Brecht-Sohn Michel und hörte nicht auf, für den Dichter zu arbeiten und auf seiner Nähe und Zuneigung zu bestehen. Sabine Kebir kennt mittlerweile Brecht und seine Welt bestens und hat erneut für dieses Buch bisher unbenutzte Zeugen und Zeugnisse entdeckt, so daß jeder Brecht/Berlau-Interessierte auf seine Kosten kommt. Eine immense Fleißarbeit und Informationsquelle bester Art! Dennoch frage ich mich, ob diese Überfülle an Details, gepaart mit einer ihrer Theorie selbstsicheren Tonart nicht allzu oft den Eindruck erweckt: So war es ganz bestimmt. Da habe ich meine Zweifel. Beispielsweise erklärt die Darstellung Ruth Berlaus als einer von Anfang an kranken und einer (auch von Brecht) falsch therapierten Frau vielleicht einiges, aber doch nicht das gesamte Phänomen dieser Persönlichkeit und der jahrzehntelangen Partnerschaft mit Brecht. Ich hätte mir ein paar mehr unbeantwortete Fragen gewünscht, denn ihr Geheimnis soll die Berlau schon behalten! Christel Berger Sabine Kebir: »Mein Herz liegt neben der Schreibmaschine. Ruth Berlaus Leben vor, mit und nach Brecht«, Edition Lalla Moulati, Algier 2006, 410 Seiten, 25 €
JedermannWeiße Schrift auf schwarzem Grund – schon der Buchumschlag sieht wie eine Sterbeanzeige aus. Tatsächlich ist im ersten Satz schon alles vorbei: Verwandte und Freunde stehen auf einem heruntergekommenen jüdischen Friedhof am Grab des Verstorbenen. Sein älterer Bruder erzählt von dem Juweliergeschäft ihres Vaters, dem verlorenen Paradies, in dem die Geschwister ihre Kindheit verbrachten. Dann gehen die Trauernden davon, wie bei gut 500 anderen Beerdigungen an diesem Tag auch. Wer der Verstorbene war? Er könnte jeder gewesen sein. Philip Roth erzählt in seinem neuen Kurzroman »Everyman« die Lebensgeschichte seines namenlosen Romanhelden als Abfolge von Krankheiten, Operationen und Beerdigungen. Daß seine Erzählung nicht zum düsteren und schwer lesbaren Traktat übers Sterben wird, bewirkt er mit einer erzählerischen List, läßt sich sein Text doch auch immer als rabenschwarze Satire lesen. Ist der Jedermann einmal über einen Zeitraum von 22 Jahren gesund, handelt Roth das in sieben, acht Zeilen ab. Stirbt der Vater des Namenlosen, wird sein Begräbnis zur unerträglich langen Farce, die zugleich tief ergreift. Das Leben als Vorbereitung aufs Sterben? Und der Sinn des Lebens wäre der Tod? Dafür lebt der Romanheld viel zu gern, dafür heiratet er zu oft und gewährt auch zu oft außereheliche Gunst. Und wenn die Twin Towers von New York zerstört werden, entdeckt der längst Sterbenskranke einen so starken Überlebenswillen in sich, daß er in eine sonnige Strandgegend nahe seiner geliebten Tochter zieht. Wie gehen wir mit Krankheit, Leid und Tod um? Roth findet in seiner verschachtelten, rückblendenreichen Erzählung eine Vielzahl von Antworten. Er schreibt mit einer leichthändigen Meisterschaft, für die viele andere Autoren ihre Seele verkaufen würden. Und die Sterbeszene, die er seinem Helden schenkt, fügt die sinnfälligsten Metaphern der Erzählung zu einem der anrührendsten und wahrhaftigsten Augenblicke der Gegenwartsliteratur zusammen. Was bleibt von diesem »Jedermann« in Erinnerung? Das Leben ist vorbei, bevor es wirklich begonnen hat. Es ist eine kurze Abfolge funkelnder Momente, die so selten und wertvoll sind wie die Romane dieses Autors. Roths Werkausgabe in der vorzüglichen »Library of America« ist bislang auf acht dicke Bücher angelegt. Wenn die Menschheit Glück hat, kommen noch einige Bände hinzu. Martin Petersen Philip Roth: »Jedermann«, Hanser Verlag, 160 Seiten, 17.90 €
Kreuzberger NotizenDieser Artikel ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht verfügbar.
Press-KohlDer Berliner Kurier kritisiert die Große Koalition und das »Durcheinander um die Gesundheitsreform« mit der herben Feststellung: »... Was wir erleben, ist Inkompetenz, unprofessionelles Herumdoktern. Mehr nicht. CDU gegen CSU, SPD gegen CDU/CSU. Die Ministerpräsidenten der Union gegen die Kanzlerin. Und alle gegen Ulla Schmidt ... Es geht um die Gesundheitsreform. Wer beendet diesen Spuk endlich? Die Kanzlerin muß es tun. Sie bestimmt die Richtlinien der Politik. Niemand sonst. Das muß ihr entfallen sein ...« Zwar entfällt der Frau Bundeskanzlerin manchmal so manches, aber dieses nicht. Zweifellos bestimmt sie die Richtlinien der Politik, wer denn sonst, aber ihr geht es um größere Politik, um europäische. Sie kann sich beispielsweise nicht so ohne weiteres mit der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens in die Europäische Union einverstanden erklären, ehe sie nicht zur Europa-Kanzlerin befördert worden ist, aber das wird sie schon noch in den Griff kriegen. Kleinigkeiten wie die Gesundheitsreform in diesem Land sind ihr noch nicht dringlich, da Frau Merkel selbst, also sie persönlich, einen halbwegs gesunden Eindruck macht, wenn man von einer leichten Adipositas einmal absieht. Im übrigen wird uns der Berliner Kurier weiterhin einschlägig informieren. Das Blatt verspricht zu jedem Wochenende: »Friedrich Nowottny, das Gewissen der deutschen Politik, schreibt regelmäßig am Sonnabend im Kurier .« Wie schön für die deutsche Politik, ein solches Gewissen zu haben. Das erklärt einiges. Schon vor vielen Jahren hat der Kabarettist Dieter Hildebrandt mitgeteilt, weshalb Herr Nowottny eine dicke Hornbrille trage: »Damit wir sehen, wo sich die vordere Seite seines Kopfes befindet.« Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 20/2006 |
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