Im Pumpwerk an der Spree

Anne Dessau

Vier singende Tänzer choreographieren gemeinsam die Idee dieses Abends: Auf einer Baustelle träumt sich eine Boygroup des Mittelalters durch unterschiedliche Zeiten, singend und tanzend verzwirbeln sie zwei scheinbar unvereinbare Künste zu einer hochartifiziellen Performance. Das ist verblüffend, perfekt, wunderschön, macht Gänsehaut und Lachen, fasziniert von der ersten bis zur letzten Minute. Die Namen der vier ungewöhnlichen Tänzer, Choreographen und Sänger: Sidi Larbi Cherkaoui, als Sohn marokkanischer Einwanderer in Antwerpen geboren, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola aus dem spanischen Teil des Baskenlandes, Luc Dunberry aus Kanada, Damien Jalet aus Belgien.

In der großen Halle des ehemaligen Pumpwerkes an der Holzmarktstraße, inmitten Berlins, direkt an der Spree, sitzt das Publikum gebannt, genießt die Melodik des polyphonen Gesanges, die verschlungenen Körper machen den Betrachter staunen, die scheinbar spielerisch vorgeführten, nur angeritzten Themen schicken den Zuschauer in ein Wechselbad der Gefühle und durch Jahrhunderte: Judenverfolgung, Kreuzigung, Mord und Totschlag, Fußballweltmeisterschaft, Straßenschlachten, Auferstehung, Prozessionen, bigotte und fröhliche, von der Wiege bis zur Bahre. Die schwierigen Vokalstücke werden rein intoniert, unisono, unbegleitet; zudem zeigt das Quartett ausgefallene choreographische Erfindungen. Die Halle hat eine beeindruckende Akustik, ohne elektronische Hilfsmittel klingen die Madrigale wie im Tonnengewölbe eines Klosters.

Das Publikum strömt wie magnetisch angezogen. Hier hoffen Theaterbegeisterte endlich wieder zu finden, was lange vermißt wird in der Berliner Bühnenlandschaft: phantastisches, kreatives, innovatives Theater. Es wird gesungen, getanzt, musiziert; Ausstellungen wird es geben, Ausbildungsstätten für Kinder und Jugendliche, eine Tanzcompagnie soll gegründet werden, Seminare, Meisterklassen, Messen und Galas können stattfinden. Von den Initiatoren dieses Unternehmens geht viel Schubkraft aus.

Das »Radialsystem V«, eines der ersten Pumpwerke Berlins, wurde 1880 als Teil eines Systems zur Stadtentwässerung gebaut. Radial – das heißt »strahlenförmig vom Mittelpunkt ausgehend, auf den Mittelpunkt hinführend«. So wollen auch die Betreiber dieses Hauses ihre Arbeit verstanden wissen. Geschäftsführende Gesellschafter und künstlerische Leiter sind Jochen Sandig und Folkert Uhde. Sasha Waltz, die Choreographin, engagiert sich ehrenamtlich als Vorsitzende des künstlerischen Kuratoriums. Die Pläne sind vielfältig, die Angebote für das Publikum verlockend, die Öffnungszeiten ungewöhnlich. Dabei wurde an Familien mit Kindern gedacht, an Nachtschwärmer auch. Es gibt Nachtmusiken im Liegen zu genießen. Eltern, die eine Vorstellung besuchen, können ihre Kinder zur Bertreuung geben. Die Kinder werden spielerisch mit dem Genre, der Geschichte, der künstlerischen Form vertraut gemacht, die ihre Eltern zur gleichen Zeit erleben. So können Kinder und Eltern nach der Vorstellung gemeinsam das Erlebte vertiefen. Viele ungewohnte Ideen finden sich in den Materialien von »Radialsystem V«. Der Elan aller Beteiligten läßt erwarten, daß das Projekt Strahlkraft weit über die Grenzen der Stadt hinaus entwickeln wird.

Erschienen in Ossietzky 20/2006